BILANZ: Im Zeitalter des grenzenlosen Kapitalismus haben Glücksspieler Hochkonjunktur, während die normativen Grenzen zwischen Arbeitsentgelt, Kapitalgewinn und Spekulation zerfliessen. Was halten Sie von der um sich greifenden Lotto- und Kasinomentalität?
Peter Sloterdijk:
Das hat wohl mit der römischen Glücksgöttin Fortuna zu tun, die heute wieder vermehrt unterwegs ist. Fortuna verteilt Glücksgüter, die nicht nur in materiellen Werten bestehen, sondern sie verteilt auch eine spirituelle Substanz, die Ansehen, Bedeutsamkeit, Würde, Kraft und Ausstrahlung bedeuten kann. Wenn diese Substanz an jemandem haftet oder in einer Person vorhanden ist, dann ist diese eben von einer besonderen Aura umgeben. Und da ist dann auch dieser spezifische Schauer des Erfolges. Ich weiss nicht, ob Sie das jemals erlebt haben …

Was?
In frühen Zeiten, als Papst Pius oder Paul VI. noch am Leben waren. Aber vermutlich sind Sie zu jung, um sich an die pompösen Zeremonien auf dem Petersplatz in Rom erinnern zu können.

«Urbi et Orbi» habe ich leider nur am Fernsehen miterlebt. Aber ich kenne das feierliche Gefühl, das sich bei einem Live-Konzert einstellen kann, wenn Stars wie David Bowie oder Carlos Santana die Bühne betreten. Sie selbst, Herr Professor Sloterdijk, bewegen sich ja sehr gekonnt auf dem öffentlichen Parkett und wurden auch schon als «Popstar der Philosophie» auf die Schippe genommen. Bereitet Ihnen diese Einteilung keine Mühe?
Es durchlaufen mich keine heissen oder kalten Schauer, wenn Sie das meinen. Ich nehme Energien aus dem Publikum auf und gebe diese Aufladungen auch wieder zurück. So einfach ist das. Gelegentlich führt dieser Effekt auch dazu, dass Menschen ihre eigene Intelligenz in mir wiederentdecken.

Interessant. Das müssen Sie uns erklären.
Wenn man auf öffentlichen Bühnen spielt, muss man versuchen, zwischen dem eigenen Text und dem Text der anderen Übergänge herzustellen, das bedeutet, sozusagen in fremde Ohren zu reden, aber auch die Stimme der Zuhörer im eigenen Ohr zu haben. Vor dem Hintergrund dieser doppelten Medialität kommt es gelegentlich zu einer Art von Beleihung oder – psychoanalytisch gesprochen – zu einer Projektion, dank der gewisse Menschen in ein erotisches Verhältnis mit ihrem eigenen intelligenten Potenzial zurückfinden können.

Kein Zweifel, Sie lieben den öffentlichen Auftritt. Stört Sie die Bezeichnung Medienintellektueller?
Nein. Warum sollte ich mich dagegen wehren? Sobald man als Mensch etwas aus der Masse hervorgetreten ist, muss man sich ohnehin ständig mit irgendwelchen Herabsetzungen oder Zurückstufungen auseinander setzen, weil man ja schliesslich wissen will, wo der eigene Platz ist und ob man diesen auch zu Recht inne hat. Ich glaube, dass die Auseinandersetzung mit dem Herabsetzungsbedürfnis Dritter ein ganz wesentlicher Teil der Arbeit von öffentlichen Intellektuellen ist.

Das klingt, als sei das Philosophendasein kein Vergnügen. Mit Ihrem Berufskollegen Jürgen Habermas scheint Sie eine regelrechte Hassliebe zu verbinden, seit es dieser vor anderthalb Jahren gewagt hat, Ihre Ausführungen zur Gentech-Debatte ungewöhnlich harsch zu kritisieren.
Er hat keine Argumente gebraucht, sondern einfach denunziert. Er hat die unbewältigte NS-Vergangenheit der Deutschen als Waffe gegen einen Text eingesetzt. Das war eine eindeutige Kriegserklärung. Ich habe mich gegen den Angriff verwehrt.

Sie schätzen Herrn Habermas als Philosophen?
Ich schätze ihn so, wie ein überschätzter Autor geschätzt werden sollte. Ich habe überhaupt kein Bedürfnis, mich mit ihm oder irgendeinem anderen zu vergleichen. Aber Habermas muss wissen, dass es nicht ohne Kosten ist, wenn er Kollegen als Faschisten denunziert. Ich halte diese Anschuldigung für den grösstmöglichen Angriff, den fatalsten Sprechakt, den eine prominente Person überhaupt begehen kann.

Dabei wollten Sie mit Ihrer umstrittenen Rede «Regeln für den Menschenpark» lediglich anregen, dass sich die Menschheit bezüglich der Anwendung gentechnologischer Methoden auf einen verbindlichen Kodex verständigt. Richtig?
Ich habe nur das gefordert, was in der Zwischenzeit auch auf breiter Front nachvollzogen worden ist. Angesichts der Tatsache, dass uns diese gentechnologische Revolution ins Haus steht, macht es meiner Meinung nach keinen Sinn, längerfristig die schöne Seele spielen zu wollen. Vielmehr muss ein politischer und moralischer Diskurs über Menschenbilder und Menschenformungsmöglichkeiten der Zukunft geführt werden. In diesem Kontext ist der Ausdruck Anthropotechnik sinnvoll.

Von der Menschenformung zur Menschenzucht ist es nur ein relativ kleiner Schritt. Sie verwenden Begriffe, die man leicht missverstehen kann.
Aus der Nazi-Neurose gewisser älterer Herren in Deutschland heraus ist eine völlig verdrehte These entstanden und deswegen hatten wir diesen ganzen Aufruhr. Mittlerweile gibt es nicht mehr den geringsten Zweifel daran, dass die Dinge sich so entwickeln, wie ich es in meiner Rede vom Juli 1999 angedeutet habe. Allein das Human-Genom-Projekt macht zur Genüge deutlich, dass eine ernsthafte Debatte über diese Fragen unausweichlich geworden ist.

Als Philosoph sind Sie für viele Leute eine Art von moralischer Instanz. Andererseits greifen Sie aber auch gern mit provokativen Voten in die politische Debatte ein. Könnte es sein, dass es diese Multifunktionalität ist, die Ihren Gegnern zu schaffen macht?
Die Unruhe, die sich im letzten Herbst in Deutschland bemerkbar gemacht hat, war eigentlich eine Reaktion auf den Ton meiner Rede und nicht auf deren Inhalt. Die Ernsthaftigkeit, mit der Fragen der Gentechnik normalerweise diskutiert werden, halte ich für derart selbstverständlich, dass ich mir als Schriftsteller herausgenommen habe, literarisch damit zu spielen. Ich glaube, es hat in Deutschland viele Leute erschreckt, dass ich als Schriftsteller eine Sprache verwendet habe, die sich die Kraft zutraut, ein Problem zu definieren.

Könnte man nicht auch sagen, Ihre Ausdrucksweise war ganz einfach zynisch?
Das würde ich bestreiten. Der Text hat allenfalls ironische Elemente.

Sie sind doch ein Zyniker?
Nein, Zynismus ist nicht meine Stärke. Mir fehlt ganz einfach die Begabung dazu. Einen gewissen Hang zu lutherischer Deutlichkeit kann ich hingegen nicht verleugnen.

Wie dürfen wir das verstehen?
In derselben Weise, wie sich Heinrich Heine auf Martin Luther beruft, berufe ich mich auf Heine. Heine war kein Zyniker, sondern ein Moralist und Ironiker (deutscher Dichter 1797–1856, Red.).

An anderer Stelle haben Sie sich auch schon auf Friedrich Nietzsche berufen. Gerade im Zusammenhang mit der Gentechnologie scheint es verfänglich, sich auf diesen Denker und seine diskutablen Konzepte zu stützen.
Natürlich ist Nietzsche ein Name, an dem sich die Geister nach wie vor scheiden. Ich glaube allerdings nicht, dass diese Geister-Scheidung in der «Menschenpark-Affäre» eine Rolle gespielt hat. Die Ursache der Aufregung ist meiner Ansicht nach in jener typisch deutschen Empörerei zu suchen. Bei jedem Generationenwechsel in Deutschland wird auch ein Teil der historischen Traumata weitergegeben. Es scheint mir, dass der ganze Streit über weite Strecken von solchen sozialpsychologischen Motiven geprägt war.

Weshalb ist Nietzsche Ihrer Meinung nach in Verruf geraten?
Es war Nietzsches Schwester, welche die Anbiederung des Nietzsche-Archivs an die Kulturpolitik der Nationalsozialisten zu verantworten hatte. Und aus diesen Machenschaften gingen dann die hermeneutischen Schweinereien hervor, die zu dem so genannten NS-Nietzsche geführt haben. In Hitlers «Mein Kampf» hingegen wird Nietzsche mit keinem Satz erwähnt.

Von Nietzsches Konzept des Übermenschen zur Rassenlehre der Nazis ist es trotz allem nicht allzu weit.
Im Gegenteil. Kein Weg ist weiter, denn der arische Übermensch ist rassisch definiert, während Nietzsches Übermensch einer christlichen Vorstellung entspringt. Man sollte nicht vergessen, dass der Ausdruck «superhomo» in der europäisch-christlichen Tradition als Synonym für den Heiligen auftauchte. Nietzsche hat zeit seines Lebens über die Möglichkeit des Übermenschen jenseits der Heiligkeit nachgedacht. Folglich stand der Künstler oder das Genie im Zentrum seines Interesses, bei dem die äusserste Vergeistigung auf ein vitales Fundament zurückgesetzt wird. Das alles hat mit Arier-Fantasien und den rassistischen Spekulationen, die den Nazi-Naturalismus geprägt haben, nicht das Geringste zu tun.

Wie ist es möglich, dass sich diese Assoziationen so hartnäckig in unseren Köpfen halten?
Die Nationalsozialisten haben einige Ausdrücke Nietzsches mit ihren Bedeutungen sozusagen gestohlen und besetzt. Die Nazi-Rhetorik hat hier ungeheuerliches Unrecht begangen. Dieses zu kompensieren, ist eine historisch wichtige Aufgabe. Wer sich ihr entzieht, optiert letzten Endes für das Lager der Denunzianten.

Was halten Sie persönlich denn nun von Nietzsche?
Nietzsche war ein materialistischer Spiritualist, wie es keinen anderen in seinem Jahrhundert gegeben hat. Er hat das Leben eines Mönches geführt.

Mit der Selbstkasteiung hatte er offenbar ein gewisses Problem.
Er war oft krank. Sein Gemütszustand schwankte zwischen einem manisch-depressiven Migränezyklus und einem anderen, nur schwer durchschaubaren Zyklus von gesünderen und kränkeren Zuständen.

Um noch einmal von einer anderen Seite einzusteigen: Was, glauben Sie, sind die Ursachen für den Bedeutungsverlust intellektueller Vorbilder in unserer Zeit?
Sie haben sich selbst kompromittiert.

Wollen Sie damit sagen, die Intellektuellen seien käuflich geworden?
Nein, sie haben sich gratis für falsche Ideen engagiert. Die typischen Intellektuellen des zwanzigsten Jahrhunderts haben sich in der Öffentlichkeit zu grossen Teilen als Komplizen mörderischer Regimes dargestellt. Die einen haben sich völkischen Bewegungen angedient – was Nietzsche nie getan hat oder getan hätte –, die andern haben sich der sozialistischen Internationale in die Arme geworfen.

Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion und der Überwindung des bipolaren Weltbildes wirft sich heute ein Grossteil der Intelligenzia den Marketingleuten und Unternehmensberatern an den Hals. Finden Sie das weniger kompromittierend?
In meinen Augen macht es einen Riesenunterschied, ob die sophistische Wendung der Philosophie, das heisst die Wendung ins Engagierte, Komplizen von Verbrechen hervorbringt oder Berater von Wirtschaftsunternehmen. Bis in die Sechziger- und Siebzigerjahre hat es die bewusste Parteinahme von Intellektuellen für Verbrechenssyteme gegeben – ein Phänomen, das man inzwischen unter dem Begriff Sartrismus zusammenfasst. Gemeint ist ein Weggefährtentum oder, weniger freundlich gesagt, ein Mitläufertum der Intellektuellen mit totalitären Systemen. Das Ergebnis ist eine enorme Diskreditierung.

Auf beiden Seiten des politischen Spektrums, muss man fairerweise sagen.
Die Korrelation zwischen der Rechten und den Intellektuellen war immer viel problematischer als die mit der Linken. Ich selbst habe in jungen Jahren noch im Zeichen dieser Konstellation gelebt. Damals gab es noch eine Achse zwischen dem linken Totalitarismus und der intellektuellen Subkultur, die jahrzehntelang ein Monopol auf Gesellschaftskritik ausgeübt hat. Spätestens in den Achtzigerjahren hat sich diese Konstellation aufgelöst. Und deswegen ist seit dem Tod von Jean-Paul Sartre die Figur des öffentlichen Intellektuellen in einem dramatischen Verfall begriffen.

Nach dem Wegfall des sozialistischen Experiments hat sich – gesellschaftspolitisch betrachtet – eine unglaubliche Langeweile und ein intellektuelles Vakuum breit gemacht. Dafür scheint bezeichnend, dass heute überhaupt keine Gegenwelten zum herrschenden System mehr gedacht werden. Ist den Philosophen und intellektuellen Wortführern mit dem Mauerfall die Fantasie abhanden gekommen?
Dem stimme ich zu. Dass das Denken der Gegenwelt im Augenblick eine Defizitstelle markiert, da bin ich Ihrer Meinung. Nur sollten wir das Missverständnis ausräumen, dass der real existierende Sozialismus unter dem Titel Gegenwelt zitiert werden darf. Wenn man sich vor Augen hält, was unter dem Maoismus, unter dem Stalinismus und in kleineren Verhältnissen auch in der Deutschen Demokratischen Republik an Gräueln an der Tagesordnung war, ist es eine kriminelle Frivolität, sich auf diesen Begriff zu berufen.

Zugegeben, im realen Sozialismus ist vieles schief gelaufen. Aber waren deshalb die Ideen dahinter wirklich so schlecht, wie man sie heute darstellt?
Welche Ideen steckten denn «dahinter»?

Ein egalitäres Weltbild zum Beispiel. Das kapitalistische System dagegen kennt nur Gewinner und Verlierer, sodass man heute bereits vom Phänomen einer Nadelbett-Ökonomie spricht. Überspitzt formuliert, besagt die Nadelbett-Metapher, dass der Sieger mit seinem Gewinn gleichsam durch die Decke geht, während der Zweitplatzierte hinter ihm schon halb pleite ist.
Das sind Phrasen, die aus einem spirituellen Vakuum heraus entstehen. Im Grossen und Ganzen leidet unsere Gesellschaft doch an einer Unterversorgung mit Alternativen, die für die Menschen selber eine Bedeutung haben, und nicht an einem Mangel an grossen politischen Konzepten. Ich glaube, dass wir heute eher mit der Unfähigkeit zu kämpfen haben, den vorhandenen gesellschaftlichen Reichtum zu interpretieren.

Tatsächlich?
Es herrscht ein Mangel an Grosszügigkeit, weil wir aus einer Kultur des Mangels und der Nachforderung stammen und uns aus einer kollektiven Unzufriedenheit heraus definieren. Viele von uns scheinen ihr bestes Selbstgefühl zu gewinnen, wenn sie bestehende Verhältnisse in einem möglichst schlechten Licht erscheinen lassen. Aber das ist nur ein Trick.

Ein Trick? Was gibt es mit Miesmacherei schon zu erreichen?
Es ist eine Geschäftsform wie jede andere auch. Die moderne Gesellschaft ist wie eine Themenbörse organisiert, und an dieser Börse werden Werte gehandelt. Was wir hier machen, ist der Versuch, ein thematisches Papier auszuarbeiten, das halbwegs werttragend ist, und anschliessend zu sehen, ob es akzeptiert wird.

Und weil Sie derartige Experimente lieben, haben Sie sich zu diesem Gespräch bereit erklärt?
In meinen Augen sind Journalisten Zocker, also Börsenspieler an der thematischen Börse. Ob man sozialistisch zockt oder liberal zockt, ist der Börse egal. Letztendlich geht es immer nur darum, ein Thema zu setzen und damit andere unter Nachahmungszwang zu bringen.

Bei der Personenzentrierung, wie sie heute in den Medien vorherrscht, ist die Sache mit der Verpflichtung eines prominenten Gesprächspartners doch schon geritzt. Wenn der Text dann auch noch einigermassen interessant ist, umso besser.
In dem Fall ist die Person zum Thema geworden. Ihr Börsengang ist bereits vollzogen. Das heisst, der Prominente verwandelt sich in ein Wertpapier, das an der Themenbörse gehandelt werden kann.

Und die Medienschaffenden wären folglich die Trittbrettfahrer dieses Börsengangs. Als politische Person mit Freude am Disput sind gerade auch Sie auf die Lautsprecherfunktion der Medien angewiesen. Oder etwa nicht?
Ja, klar. Ich denke allerdings, dass Journalisten ihren Job dann am besten machen, wenn sie sich wie Analysten verhalten. Das bedeutet aber auch, dass man all die Fragen, die wir früher unter der Bezeichnung Sozialismus – sprich: Umverteilung oder Vergesellschaftung des Reichtums – subsumiert haben, heute neu denken muss.

Sie haben einmal über sich selbst gesagt, Sie seien «ein automatisches Klavier des Zeitgeistes». Was haben Sie damit ausdrücken wollen?
Ich wurde gefragt, wie ich mich als Schriftsteller definiere: ob ich mich eher als Medium oder als Produzent und Macher von Texten verstehe. Natürlich habe ich für die Variante Medium votiert und gesagt, dass ich mir manchmal tatsächlich wie ein Klavier vorkomme, das von alleine zu spielen beginnt. Ungefähr so, wie man das gelegentlich auf Jahrmärkten sieht.
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