BILANZ: Nach dem 11. September war die Rede vom «culture clash», vom Kampf der Kulturen. Es konnte der Eindruck entstehen, die Welt sei heillos gespalten. Ihr Unternehmen ist buchstäblich in allen Kulturkreisen der Welt tätig und müsste diese Spaltung eigentlich unmittelbar spüren. Ist die Welt denn nun wirklich gespalten?
Peter Brabeck-Letmathe: Gemessen an den kulturellen Unterschieden, ist die Welt in sehr hohem Masse geteilt. Das wird auch in Zukunft so bleiben, wenn nicht sogar stärker werden. Je grösser der wirtschaftliche Raum wird, umso stärker besinnen sich dessen Bewohner auf ihren engeren kulturellen Lebensraum. Die Integration innerhalb der Europäischen Union zum Beispiel führt dazu, dass die natürlichen Regionen, die kulturellen Gemeinschaften wieder stärker zusammenwachsen. Die Grenzen quer durch die Kulturgemeinschaften werden an Bedeutung verlieren. Eine der ersten Vertretungen in Brüssel war die Tiroler Vertretung – und zwar die Nordtiroler, die Südtiroler und die Osttiroler zusammen. Das hat zwar den Nationalstaaten (in diesem Falle Österreich und Italien, Red.) nicht sehr gefallen, aber die Kulturgemeinschaft ist näher zusammengerückt. Das können auch die Katalanen sein oder die Basken oder andere Kulturgemeinschaften. In einem grösseren Wirtschaftsraum können sich diese Gemeinschaften besser auf ihre Besonderheiten besinnen.
Besteht da nicht die Gefahr einer heillosen Zersplitterung und eines neuen Nationalismus?
Es entstehen mehr kulturelle Unterschiede, als es bisher gab. Auf dem Balkan zum Beispiel hat man ein paar Jahrzehnte lang versucht, die verschiedenen Kulturgemeinschaften in einem Staat zusammenzufassen. Sobald die Möglichkeit dazu da war, stieg der Druck, und das Ganze fiel auseinander. Wir haben heute in Europa mehr Nationalstaaten als je in der Geschichte. Wenn man aber genau hinhört, wollen die alle in die EU. Der ethnisch definierte Nationalstaat ist dort wohl eine kurzfristige Übergangslösung. Und innerhalb der EU werden die Slowenen, die Bosnier, die Kroaten, die Serben ihre eigenen kulturellen Gebiete haben. Deshalb glaube ich auch nicht, dass die Globalisierung zum kulturellen Einheitsbrei führen wird. Im Gegenteil: Die Globalisierung wird zur kulturellen Differenzierung führen.
Das Fanal des 11. September hat daran nichts geändert?
Ich sehe die Welt nach dem 11. September nicht auseinander brechen, sondern eher zusammenwachsen. Was hier zugeschlagen hat, ist ein ganz besonderer Fundamentalismus, den es aber keineswegs nur im Islam gibt. Einen ähnlichen Fundamentalismus gibt es auch bis heute mitten in Europa: Der Streit zwischen katholischen und protestantischen Fundamentalisten in Irland hat über Jahrzehnte zu blutigen Auseinandersetzungen geführt. Der 11. September hat viele Nationen, die bisher uneinig waren, zumindest vorübergehend geeinigt im Kampf gegen den Terrorismus. Ohne den 11. September wäre die WTO-Tagung in Doha nicht so leicht über die Bühne gegangen. Der 11. September hat also mehr zur Einheit beigesteuert als zur Spaltung.
Kulturelle Vielfalt bei wirtschaftlicher Grösse, dieses Modell haben Sie für Europa sehr eindrücklich beschrieben; hier bauen wir auf gewachsenen demokratischen Strukturen auf. Da ist dieser Prozess wohl etwas einfacher und die Vielfalt in der Einheit besser zu leben.
Wenn man sich die Geschichte von Europa anschaut, war es hier auch nicht gerade leicht – und erst nach zwei Weltkriegen in den letzten 100 Jahren auf diesem Kontinent möglich. Auch in Europa hat ja der Fundamentalismus eine grosse Rolle gespielt. Ich bin ganz einfach ein Optimist, der glaubt, dass man diese Dinge überwinden kann. Vor 15 Jahren war China noch der grosse Feind, die gelbe Gefahr, eine Milliarde Menschen, die uns überrollen würden. Solcher Quatsch stand damals in den Zeitungen. Russland, das war der russische Bär, der mit seiner Pranke Westeuropa zerstört, das Reich des Bösen. Heute ist Russland ein gleichwertiger Partner, der sich mit den Amerikanern geeinigt hat, um gemeinsam den Terrorismus zu bekämpfen. Die Globalisierung hat viel dazu beigetragen, die Völker zusammenzubringen und nicht zu spalten.
Und dann gibt es Firmen wie Nestlé, die das praktisch bewerkstelligen können, zum Beispiel mit weltumspannenden Marken.
In dem Zusammenhang, von dem wir jetzt sprechen, ist es wohl wichtiger, dass wir schon seit 130 Jahren in der Lage sind, das zu machen. Wir sind seit vielen Jahrzehnten ein globales Unternehmen. In China zum Beispiel sind wir seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, unterbrochen nur in der Zeit zwischen 1947 und 1978. Die Zeit, als wir nicht in China waren, ist eigentlich ziemlich kurz, nur 29 Jahre. In all diesen Jahrzehnten haben wir gelernt, uns in einem fremden kulturellen Umfeld zu bewegen und dabei unsere eigene Firmenkultur zu erhalten. Diese beruht auf dem Respekt vor dem Lokalen. Wir respektieren die lokale Kultur, bestehen aber auch darauf, dass unsere Mitarbeiter die besondere Nestlé-Kultur annehmen. Aber wir wollen nicht, dass ein Chinese zum Chilenen wird. Mit diesem Prinzip sind wir überall auf der Welt gut durchgekommen.
Und wie muss denn ein Nestlé-Mitarbeiter strukturiert sein, damit er diesem Anspruch gerecht wird?
Er muss andere Werte zumindest tolerieren. Um sie zu tolerieren, muss er sie verstehen. Ein Nestlé-Mensch muss also ein wenig weltoffen sein. Das wird er auch, weil er im Verlaufe seiner Karriere mit den verschiedenen Kulturen zusammenkommt. Das ist ein Grund, warum wir unsere Ausbildungskurse und Workshops abhalten. Deren wichtigster Zweck ist es, dass sich die Nestlé-Leute aus der ganzen Welt treffen. Deshalb investieren wir 65 Millionen in diese Übung, nicht um ein reines Trainingszentrum zu betreiben, wo die Leute Marketing lernen; das können sie im eigenen Markt auch. Die Begegnung ist das Wichtigste und der Respekt vor anderen Werten.
Wie lassen sich denn Toleranz und Respekt üben?
Als zum Beispiel das Thema der Gentechnologie virulent war, wurde ich bei einem Kurs von einem deutschen Teilnehmer gefragt, warum wir uns nicht von der Gentechnologie distanzierten; wir müssten die Gentechnik als unethisch ablehnen. Da habe ich, ohne selber eine Antwort zu geben, einen Kollegen aus Asien um seinen Kommentar gebeten. Und der hat gesagt, es wäre absolut unmoralisch, auf die Gentechnik zu verzichten. Diese Länder brauchten die neue Technologie, um die Bevölkerung ernähren zu können. Das war eine ziemlich lehrreiche Übung: Die Deutschen werden ja, wenn sie einmal von etwas überzeugt sind, ziemlich fundamentalistisch. Nun musste der deutsche Kollege zur Kenntnis nehmen, dass seine Perspektive in anderen Weltgegenden nicht geteilt wird und dass es im Rahmen der Nestlé möglich sein muss, beides zur Kenntnis zu nehmen und zu tolerieren.
Wie erleben Sie denn jetzt die Auseinandersetzung um die Globalisierung: Ist das für Sie im Unternehmen überhaupt ein Thema?
Intern ist es für mich kein Thema. Aber extern schon. Ich war kürzlich in Frankfurt zu einem Vortrag über die Globalisierung. Da habe ich versucht, einem ziemlich skeptischen Publikum zu zeigen, was die Globalisierung wirklich gebracht hat. So hat sich zwischen 1990 und 1999 die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, netto um 125 Millionen verringert. 800 Millionen Menschen haben sich in diesen neun Jahren oberhalb der Armutsgrenze etablieren können. Das hat es in der Geschichte überhaupt noch nie gegeben. Wenn man die Konsumschwelle zu Grunde legt, jene 1800 Dollar Jahreseinkommen, bei denen der Konsum von Industriegütern anfängt, so ging die Zahl der Menschen unter dieser Grenze um rund 100 Millionen zurück. Die Einkommenskategorie von 1800 bis 6000 Dollar wuchs von 1,5 auf 2 Milliarden Menschen. Und die Wohlhabenden mit mehr als 6000 Dollar nahmen von 1,3 auf 1,7 Milliarden Menschen zu. Das heisst: Zehn Jahre Globalisierung haben eine massive und weltweite Verbesserung des Wohlstands gebracht.
Diese Zahlen sind gewiss zutreffend, von der Weltbank erhoben. Aber sie sind Durchschnittszahlen, die noch nichts über die Verteilung des neuen Wohlstands und dessen Qualität aussagen.
Geld ist in der Tat nicht alles. Schauen wir uns also ein paar Indikatoren der Lebensqualität an und wie sich das Gefälle zwischen reichen und armen Ländern verändert hat. 1970 betrug die Lebenserwartung in den armen Ländern 54 und in den reichen 72 Jahre. 1998 lauteten die entsprechenden Zahlen 65 und 76 Jahre. Die Lebenserwartung ist also in den armen und den reichen Ländern gestiegen, aber die Differenz ist von 18 auf 11 Jahre geschrumpft. Bei der Kindersterblichkeit betrug die Differenz zwischen Arm und Reich 1970 rund 90 auf 1000 Geburten, heute sind es 48. Das ist immer noch zu hoch. Die Alphabetisierung in den Entwicklungsländern hat von 46 auf 73 Prozent zugenommen. Dieses Zahlenspiel kann man mit unzähligen Indikatoren betreiben, es kommt immer dasselbe heraus: Die Jahrzehnte der Globalisierung haben für alle Beteiligten eine Verbesserung gebracht. Das ist eine Realität. Ebenfalls eine Realität ist: Wir haben heute immer noch 800 Millionen Menschen, die an Hunger leiden, und das sind 800 Millionen zu viel. Aber es geht nicht an, dafür die Globalisierung verantwortlich zu machen.
Wie aber verteilen sich die Segnungen der Globalisierung? Sind es nicht vor allem die Europäer, welche die Zeche bezahlen?
Auch für die Europäer ist die Globalisierung nicht schlecht, denn sie führt zu mehr Wettbewerb, zu sinkenden Preisen. Noch vor der Asienkrise hiess es in Europa, die Globalisierung zerstöre weltweit Arbeitsplätze. Von 1965 bis 1982 wurden jährlich weltweit und netto 18 Millionen Arbeitsplätze geschaffen. Von 1982 bis 1994 waren es 34 Millionen pro Jahr. Mit der Globalisierung wurden also mehr Arbeitsplätze geschaffen als jemals zuvor. Wahr ist allerdings, und das hören die Europäer nicht so gerne, dass in Europa nur wenige oder fast keine neuen Arbeitsplätze geschaffen wurden. Das aber ist ein hausgemachtes europäisches Problem und hat nichts mit der Globalisierung zu tun. Die anderen Industrieländer entwickeln sich sehr gut. In Europa haben die Unternehmenssteuern in Prozent des Bruttosozialprodukts zugenommen. In dieser Beziehung ist Europa sehr aktiv. Wir verteilen in Europa nur noch, was wir vor zehn Jahren einmal gebaut haben, aber wir kreieren keinen Wohlstand mehr. Das hat nichts mit Globalisierung zu tun. Da wird die Globalisierung als Alibi benutzt für ein schlechtes Management unserer Wirtschaft.
Wie sind denn die neuen grossen Bewegungen einzuschätzen, in denen auch viele Junge mittun und die zum Beispiel in Seattle und Genua sichtbar wurden?
Dass Seattle so endete, hatte nichts mit den Protesten zu tun, sondern mit der Agenda, mit der Vorbereitung und mit der internen amerikanischen Politik. Für Clinton war damals wichtig, dass er die Sozialpartner auf seiner Seite hatte – und mehr sage ich dazu nicht. Nach aussen erschien Seattle als Erfolg der konfliktbereiten Protestbewegung. Das hat der Bewegung einen unglaublichen Auftrieb gegeben. Ich glaube aber, dass so etwas jetzt nicht mehr passieren würde.
Was hat sich denn seither verändert?
Da hat der 11. September eine grosse Rolle gespielt. Natürlich ist es eine Tragödie, dass es zu so vielen Opfern kommen musste. Dennoch sind die Auswirkungen des 11. September positiv. Vorher gab es in den USA eine vollkommen andere Wertehierarchie als nachher. Individualismus, Geld standen an erster Stelle; heute ist die Familie an erster Stelle. Studien haben gezeigt, dass dies, unabhängig vom Ausgang des Konflikts, auch so bleiben wird. Das ist also ein nachhaltiger Wandel. Der zweite neue Wert: Kirchen und Institutionen. Ich habe noch nie so viele Leute vom Beten reden hören, selbst in unserer eigenen Firma. An welche Institutionen glauben die Amerikaner heute? Da kommt zuerst die Feuerwehr, dann das Rote Kreuz, dann die Kirche und dann die Regierung. So hoch oben war die Regierung noch nie. An 38. Stelle folgt dann die New-Yorker Börse und an 40. die Nasdaq. Vor dem 11. September und nach Genua haben demokratisch gewählte Regierungen öffentlich darüber nachgedacht, ob sie überhaupt noch das Recht hätten, sich zu treffen. Wenn man so etwas zulässt, dann rüttelt man an den Institutionen. In diesem Sinne hat der 11. September die Kirche wieder in die Mitte des Dorfes gerückt. Die Institutionen sind stärker geworden. Der Druck besteht zwar immer noch, aber er wird an Stärke verlieren.
Glauben Sie wirklich, dass die ideologischen Gräben zugeschüttet wurden?
Die sind immer noch da, aber sie spielen keine so grosse Rolle mehr. Das hängt gewiss auch mit der klaren Sprache und der ultimativen Haltung der Bush-Regierung zusammen: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Da gibt es keinen grossen Spielraum mehr. Das mag brutal sein, aber derzeit hilft es noch. Wie lange es anhält, wird davon abhängen, was in den nächsten Monaten passiert. Ich bin eher optimistisch. Wirtschaftlich haben sich zwei Dinge erwiesen: Europa kann den Traum begraben, es könne eine wirtschaftliche Lokomotive sein; die Möglichkeit dazu wäre jetzt da gewesen, aber Europa hat sie nicht genutzt. Deshalb haben wir nur eine Chance: dass die USA die Lokomotive wieder anheizen. Auch in dieser Beziehung bin ich optimistisch, weil es eine Regierung gibt, die Entscheidungen treffen will und kann. Man muss sich das mal vorstellen: Da wurde das Finanzzentrum der Welt total zerstört, und vier Tage später läuft es wieder, als wenn nichts passiert wäre.
Auf der psychologischen Seite ist die Lage weniger eindeutig. Wie stark haben die Ereignisse den Wert und das Image der Marken beschädigt?
Da behaupte ich erst mal das Gegenteil: Wenn es zu einer Krise kommt, gewinnen die guten Marken an Wert. Denn eine Marke ist nichts anderes als ein Symbol für Vertrauen. In einer schwierigen Zeit sucht man etwas, das Vertrauen ausströmt. Wenn jemand 50 Jahre lang Nestlé-Produkte konsumiert hat, und die waren gut und sicher, dann sucht er im Moment der Krise eher solche Produkte. Die Marke ist aber nicht nur Vertrauenssiegel, sondern sie hat auch einen sehr grossen emotionellen Wert. Wir achten darauf, die Marke lokal relevant zu behalten. Deshalb sind wir wohl nicht so exponiert wie andere Marken, die nur ein globales Bild haben. Unsere Schokolade läuft in Russland unter der Marke Rossiya und ist eine russische Marke. Maggi ist in Deutschland eine deutsche Marke. Wir gehen davon aus, dass es für Lebensmittel nur lokale Konsumenten gibt und keine globalen. Weil wir nicht an den globalen Konsumenten glauben, haben wir auch eine sehr lokal ausgerichtete Markenpolitik. Nicht weil wir Angst vor globalen Marken haben, sondern weil es ganz einfach vernünftiger ist.
Trotzdem schrumpft die Welt. Sehr viele Sachen müssen global entschieden werden. Und da geben die Amerikaner den Ton an. Da wurde sogar in Davos Unbehagen laut über diese verdammten Amerikaner.
Ja, bis sie nicht mehr kamen, «die verdammten Amerikaner». Wer nicht bereit ist, eine gewisse wirtschaftliche Leadership zu übernehmen, der verliert auch in anderen Bereichen. Man kann nicht auf der einen Seite protektionistisch leben wollen und auf der anderen Seite kulturelle Führerschaft beanspruchen. Da hat Europa unglaublich an Dynamik verloren. Weil wir wirtschaftlich nicht mehr führen können, steigen wir längerfristig auch kulturell in die zweite Liga ab.
Spüren Sie das schon, oder prophezeien Sie es?
Auf dem wirtschaftlichen Gebiet ist es sichtbar, das ist für mich keine Frage. Wobei wir das Glück haben, dass nun Zentral- und Osteuropa dazukommen, die uns helfen werden, ein bisschen Bewegung hineinzubringen. Kulturell haben wir die Vorherrschaft längst verloren. Und da spreche ich nicht nur von der Unterhaltungskultur, wo wir sowieso in den Hintergrund gedrängt worden sind. Auch in der Malerei oder der Musik haben wir sicher nicht mehr die Führungsrolle, die wir einmal hatten. Ich denke, dass aus Russland neue Impulse kommen werden. Dieses Land hat die Grundlagen dazu, kulturell führend zu werden.
Was ist eigentlich schlecht daran, wenn sich das spezifische Gewicht Europas im globalen Vergleich verringert?
Daran ist nichts schlecht. Nur darf man sich dann nicht vormachen, man könne immer noch bestimmen, was gut und was schlecht ist auf der Welt. Das versuchen wir ja immer noch. Die Amerikaner tun es auch, und dafür kritisieren wir sie. Der Unterschied ist der: Die Amerikaner haben sich das Recht dazu erarbeitet, und wir nehmen es nur noch aus historischen Gründen in Anspruch. Wenn ich höre, dass die Regierungen Europas in einer Deklaration in Lissabon entscheiden – entscheiden! –, dass Europa in zehn Jahren zum Wettbewerbsbesten in wirtschaftlicher Hinsicht wird, dann kommt mir das schon seltsam vor. Man kann den Wettbewerb doch nicht planen. Man kann nur versuchen, Rahmenbedingungen zu bieten, in denen die Wirtschaft wettbewerbsfähiger wird. Über solche Widersprüche müssen wir reden, sonst glauben wir noch selber daran.
Wer kann zum Ordnungsfaktor werden, wenn sich die Märkte globalisieren? Wo sollen die Diskussionen um Rahmenbedingungen gebündelt werden? Wer ist die künftige Weltregierung?
Das ist die grösste und schwierigste Frage der Globalisierung. Wer kann Verantwortung übernehmen, Accountability? Wer setzt die Messlatten, auch in sozialer Hinsicht? Ich bin dagegen, dass man dies den NGOs überlässt. Weil NGOs zu fokussierte Interessen haben. Ich habe kein Problem damit, dass es NGOs gibt. Ganz im Gegenteil. Die NGOs können und sollen eine Rolle spielen. Nur: Als Greenpeace erstmals auftrat, war das wie ein Lichtstrahl auf einer schwarzen Bühne, der das Problem der Ökologie beleuchtete. Das hat geholfen, die Aufmerksamkeit auf dieses Problem zu lenken. Heute gibt es 20 000 NGOs, also auch 20 000 Lichtstrahlen; da sehen Sie als Publikum nichts mehr, weil es zu viele Strahlen gibt. Die machen sich heute selber kaputt. Ich kann nicht 20 000 Einzelinteressen nachlaufen. Ich kann also nie alle glücklich machen, das ist unmöglich.
Und wie gehen Sie mit dieser Unmöglichkeit um?
Wir haben entschieden, unsere eigenen Grundsätze festzulegen, unsere Wertebibel, an der wir gemessen werden wollen. Das ist ein öffentliches Dokument, das jede NGO bekommen kann. Da stehen unsere Grundsätze drin, vom Umweltschutz bis zu einem so schwierigen Kapitel wie der Kinderarbeit. Dieses Papier ist in jedem grossen Markt verbreitet, in etwa 40 Sprachen. Man kann mit einem Teil dieser Grundsätze nicht einverstanden sein. Dann müssen wir darüber diskutieren. Was aber nicht geht, ist, dass ich alle 20 000 NGOs glücklich mache. Der zweite Punkt: Ich suche mir jemanden, der Verantwortung trägt. Die einzige Institution, die derzeit eine globale Verantwortung hat, ist die Uno. Deshalb unterstützen wir auch die neun Punkte des UN-Programms «Global Compact» und haben diese in unseren Grundwertekatalog aufgenommen. Perfekt ist die Uno aber sicher nicht.
Vor allem hat sie keine Sanktionsmöglichkeiten.
Sie hat sie nicht, aber sie nimmt sie sich manchmal trotzdem. Die Unicef zum Beispiel hat jahrelang gegen Nestlé gepoltert; die hatten keine Sanktionsmöglichkeit, aber ein Image, und das haben sie gegen unseres in die Waagschale geworfen. Ganz ähnlich ist es mit der Uno: Sie hat keine Polizei, aber sie ist moralisch sanktionsfähig.
Sie haben die Nestlé als in vielen Kulturen verankertes Gebilde beschrieben. Wird sich das nicht mit Ihrem Globe-Projekt ändern, das ja ohne Zentralisierung nicht denkbar ist?
Globe steht für «GLObal Business Excellence». Das hat nichts mit Zentralisierung zu tun. Technisch kann natürlich alles zur Zentralisierung führen – und am schnellsten die Pyramidenstruktur, die wir jetzt haben. Wir sind jetzt eine Föderation von Pyramiden. Jeder Markt war ein unabhängiges Königreich. Mit der Öffnung aller Märkte funktioniert das Modell nicht mehr richtig. Wenn man statt 99 Prozent nur mehr die Hälfte der verkauften Produkte im gleichen Markt herstellt, müssen alle möglichen Dinge angepasst werden. Die Geschäftsprozesse waren in jedem Land verschieden, die IT-Basis auch. Jetzt müssen wir die Prozesse vereinheitlichen, harmonisieren, und dann kommt noch die gemeinsame Database.
Also doch Zentralisierung?
Da findet letzten Endes das Gegenteil von Zentralisierung statt. Wir wollen eine Netzwerkfirma, und dazu brauche ich Globe. Netzwerke erlauben mehr Dezentralisierung als die Pyramiden. In der Pyramide gibt es fast nur Bewegung von unten nach oben, im Netzwerk fast nur horizontale Bewegung. Heute haben wir in einer Marketingabteilung bis zu sieben Hierarchiestufen, in der Abteilung Globe mit 1500 Leuten haben wir nur zwei Stufen. Die künftige Nestlé wird eine so genannte Plasma-Organisation sein. Da werden die Strukturen zwar unschärfer, aber die Organisation kann sich schneller bewegen. In der alten Organisation arbeitet der Chef durch die Macht der Position, in der neuen durch die Macht der Leadership – und wenn er keine Leadership hat, ist er schnell verloren. Es kommt also auf die Persönlichkeiten an. Ein solches Netzwerk ist wie ein Gehirn. Wir Menschen haben zwar alle das gleiche Gehirn, aber die Verknüpfungspunkte sind unterschiedlich trainiert. Je mehr in einem Netzwerk bestimmte Schnittpunkte benutzt werden, umso stärker werden sie.
Nestlé-Chef Peter Brabeck-Letmathe über sein globales Unternehmen in einer globalisierten Welt, über die kulturelle Vielfalt in grossen Wirtschaftsräumen und über den tief greifenden Wertewandel seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001.
Lesezeit: 14 Minuten
Veröffentlicht am 30.06.2001 - 02:00 Uhr
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