Bei den schweren Gefechten am Stadtrand von Slowjansk wurden 30 prorussische Separatisten getötet und Dutzende verletzt. Mit dem Vormarsch der ukrainischen Armee auf die Stadt will die Regierung in Kiew die Kontrolle im Osten und Süden des Landes zurückerlangen. Der ukrainische Übergangspräsident Alexander Turtschinow sieht sein Land im «Krieg» mit Nachbar Russland. Aussenminister sind alarmiert, die Finanzmärkte haben sich an solche Nachrichten gewöhnt. Der russische Micex-Index schliesst mit 1304 Punkten unverändert. Die fünfjährige ukrainische Staatsanleihe steigt von 86,99 auf 87 Punkte.
Dabei sollten sich Anleger jetzt mit russischen und ukrainischen Wertpapieren eindecken. «Kaufen, wenn die Kanonen donnern», ist eine der bekanntesten Börsenweisheiten. Auf den ersten Blick weniger weise als vielmehr absurd. Scheint es doch gerade in Krisenzeiten die beste Strategie zu sein, Wertpapiere so schnell wie möglich auf den Markt zu werfen und sich aus dem Staub zu machen.
Kursstürze sind meist übertrieben
Doch Experten raten zum Gegenteil: «Die beste Zeit zu kaufen ist, wenn sich alle aus den Märkten verabschieden», weiss etwa Emerging-Markets-Haudegen Mark Mobius. Mit frisch polierter Glatze jettet der fast 80-Jährige für Franklin Templeton 250 Tage im Jahr um die Welt. In Manila beschossen, in São Paulo beraubt, gilt er trotz seiner weissen Anzüge als Indiana Jones der Fondsbranche. Auch Mobius weiss, dass die Kursgemetzel, Krise hin oder her, meist übertrieben sind.
Sind nur noch die treuesten Aktionäre an Bord, stehen die Chancen für eine Erholung gut. Für Schnäppchenjäger ein ideales Revier. Weil die Politik die Kurse macht, ist das Timing schwierig. Aber ewig dauern Krisen meistens nicht, und schon gar nicht an den Börsen. Hier greift eine zweite Börsenregel: Politische Börsen haben kurze Beine. «Krisen werden schnell vergessen», sagt Angelika Millendorfer, Head of Equities Emerging Markets bei der auf Osteuropa spezialisierten Raiffeisen Capital Management.
Hohe Schwankungen eröffnen Chancen
Wer sich mit Spielgeld in die riskanten Krisenanlagen wagen will, wird seine Kaufgelegenheiten vor allem in noch nicht gefestigten Demokratien finden. «Die Strategie funktioniert definitiv in Emerging und Frontier Markets am besten», sagt Mobius. Diese Märkte sind nicht nur reicher an Konflikten, dort sind auch zahlreiche Ausflügler unterwegs. «Diese Investitionstouristen kommen und gehen und erhöhen die Volatilität», sagt Morgan Harting, Emerging-Markets-Experte von AllianceBernstein, New York. Die Schwankungen seien in den Schwellenländern 50 Prozent grösser als in entwickelten Märkten.
Genau diese Turbulenzen eröffnen dem Anleger Chancen. «Jedes Mal, wenn Putin etwas sagt, gehen russische Aktien fünf bis zehn Prozent nach oben, so viel macht Nestlé in einem Jahr», sagt Erdinç Benli, Leiter Aktien Emerging Markets bei Swiss & Global Asset Management.
Zum Beispiel Russland und die Ukraine
Die Hotspots für Kriseninvestments sind derzeit Russland und die Ukraine. «Jetzt flüchten dort alle, jetzt donnern die Kanonen», sagt Benli. Es kracht an vielen Ecken und Enden. Der ukrainische Index hat in den letzten drei Jahren vier Fünftel seines Wertes verloren. Wie heisse Kartoffeln liessen Investoren ukrainische Staatsanleihen fallen. Aus dem wesentlich bedeutenderen russischen Aktienmarkt zogen Anleger allein im ersten Quartal 80 Milliarden Dollar ab. 17 Milliarden mehr als im gesamten Vorjahr.
Der russische Leitindex Micex rauschte seit Jahresbeginn um 250 Punkte in die Tiefe. Die russische Notenbank stemmt sich mit Milliarden gegen den Rubelzerfall. Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) drängen die Sanktionen Russland an den Rand der Rezession. Marschiert Russland in der Ukraine ein, kommt es zu ausgedehnten Sanktionen. Die Kreditklemme wird dann noch enger, die Auswirkungen für die Realwirtschaft werden noch viel gravierender.
Doch Anlageprofis wie Benli wittern in solch einem turbulenten Umfeld Profit: «Solche Chancen bieten sich nur alle zehn Jahre. Selbst wenn sich der Konflikt verschlimmert – irgendwann wird sich das Leben wieder normalisieren.» Die grossen russischen Firmen werde es dann immer noch geben. Viele hätten nach einer Marktbereinigung sogar ein besseres Umfeld.
Aktien zu Ausverkaufspreisen
Russland, wegen politischer Willkür und vieler Rohstoffaktien traditionell ein billiger Aktienmarkt, lockt jetzt mit fast absurd niedrigen Bewertungen. Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von knapp fünf liegt der Markt auf dem Niveau von 1998. «Da war Russland bankrott, und keiner wollte mehr etwas von russischen Aktien wissen», erinnert sich Benli. Der Discount zu chinesischen Aktien beträgt bereits rund 50 Prozent.
Die abgestraften ukrainischen Aktien sind nur über ein lokales Depot investierbar und fallen für Kleinanleger daher flach. Attraktiv sind in Dollars ausgegebene Obligationen mit jährlichen Renditen von knapp 19 Prozent (siehe Tabelle unten). Anders als bei Aktien stellt sich bei Anleihen einzig die Frage, ob der Gläubiger seine Schulden bedienen kann oder nicht. Bei Kriseninvestments ist das die einfachere, defensivere, jedoch nach oben gedeckelte Wette.
Venezuela: 12,5 Prozent Rendite
Mord und Totschlag sind in Venezuela Alltag. Die Statistik zeigt das in grausigen Zahlen auf. Jeden Tag werden dort 39 Menschen ermordet, so viele wie in der Schweiz in einem halben Jahr. «Venezuela ist in einer Krise. Die strukturellen Herausforderungen sind enorm, die Staatsführung schlecht», analysiert Mark Mobius. Unmittelbar sei keine Besserung in Sicht.
Anleger, die dennoch rechtzeitig auf einen Wandel zum Besseren setzen wollen, können das ebenfalls mit Staatsanleihen tun. Während die Aktienbörse Bolsa de Valores de Caracas manipuliert und kaum zugänglich ist, bietet Venezuela einen der grössten Anleihenmärkte Südamerikas. Wer das Risiko eines Zahlungsausfalls auf sich nimmt, wird aktuell mit einer Rendite von 12,5 Prozent entschädigt – im globalen Bondmarkt hält da nur noch die Ukraine mit. Sicherheit bietet das viele Öl, das bisher jedoch zum grössten Teil an befreundete Staaten wie Kuba verschenkt wurde.
Ägypten zeigt wies geht
Dass sich in Ägypten seit dem Arabischen Frühling alles zum Besten gewandelt habe, behaupten wohl nur Politiker. Dennoch hat sich der Aktienmarkt seit Mitte 2012 mehr als verdoppelt – ein Beispiel dafür, wie gross die Chancen bei Kriseninvestments sind. Benli sieht im ägyptischen Aktienmarkt noch erhebliches Potenzial: «Da sind locker noch mal 50 Prozent drinnen. Sobald insbesondere arabische Investoren wieder Geld ins Land bringen, geht es richtig los.» Die warten noch, bis die Regierung steht. Lange sollte es nicht mehr dauern.
Die beiden Kandidaten für das Präsidentenamt eröffneten vor wenigen Tagen, begleitet von Bombenanschlägen, ihren Wahlkampf. Klarer Favorit bei der Wahl am 26. und 27. Mai ist Abdelfattah As-Sisi, für viele ein Garant für Stabilität. Ein Zertifikat auf den EGX 30 oder riskantere Einzelwetten auf Juhayna Food Industries oder EFG Hermes Holding könnten sich rechnen.
Auch in der Türkei bahnt sich wieder eine Krise an
«Das Leistungsbilanzdefizit ist die Achillessehne der Türkei», sagt Benli. Das Land ist von ausländischem Geld abhängig. Wird es abgezogen, wird es turbulent. Nur mit einem drastischen Zinsschritt von 4,5 auf 10 Prozent konnte die Notenbank den Absturz der Lira stoppen. Damit ist diese Krise vorerst abgewendet. Von anderer Seite droht die nächste. Laut Raiffeisen Capital wird das Risiko eines Kriegseintrittes der Türkei in Syrien unterschätzt. Ende März kam ein Gesprächsmitschnitt hochrangiger türkischer Militärs und Politiker an die Öffentlichkeit. Dort wurde die Schaffung von Kriegsvorwänden diskutiert. Premier Erdogan dementierte nicht den Inhalt, nur die Veröffentlichung. Unruhe bringen auch die in diesem Sommer und 2015 anstehenden Wahlen.
Mark Gordon-James von Aberdeen Asset Management hat in diesem Umfeld Bankaktien gekauft: Akbank und GarantiBank. Benli hält die TSKB für einen attraktiven Wert. Turkcell ist das allein schon mit einer Dividendenrendite von zwölf Prozent. Gestreuter in die Türkei geht es mittels ETF, etwa jenes von Lyxor auf den Turkey Titans 20 Index.