BILANZ: Google ermuntert die Mitarbeiter, sich ehrgeizige Ziele zu setzen und Visionen zu verfolgen. Warum ist das so wichtig?
Larry Page: Ich mache mir Sorgen darüber, wie wir heute Unternehmen führen. In der Berichterstattung über Google und andere Technologieunternehmen geht es immer um den Wettbewerb. Als ob es sich um eine Sportveranstaltung handelte.
Ist das denn so falsch?
In Wahrheit entstehen Innovationen nur in Ausnahmefällen aufgrund von Konkurrenzsituationen. Und wie inspirierend ist es eigentlich, morgens mit dem einzigen Ziel zur Arbeit zu kommen, ein konkurrierendes Unternehmen plattzumachen?
Genau diese Haltung ist es aber, die viele Firmen im Laufe der Zeit scheitern lässt. Weil sie in Routine verfallen – von ein paar kleineren Nachbesserungen abgesehen.
Was ist die Lösung?
Veränderungen kann man nicht nur in kleinen Schritten vollziehen. Kleine Schritte sind zu kurz, man tritt irgendwann auf der Stelle – insbesondere im Technologiesektor, wo sich Umwälzungen nicht peu à peu vollziehen. Ein grosser Teil meiner Arbeit besteht daher darin, den Fokus der Mitarbeiter auf wirklich revolutionäre Dinge zu lenken. Nehmen Sie etwa Gmail: Als wir damit herauskamen, waren wir eine Suchmaschine – und es war ein echter Paradigmenwechsel für uns, eine E-Mail-Funktion anzubieten, die dem User zudem einhundert Mal mehr Speicherplatz bot als jemand anderes. Mit einem langsamen, schrittweisen Prozess wären wir nie dorthin gekommen.
Derzeit betreiben Sie bei Google eine eigene Abteilung namens Google X, die sich mit Zukunftsprojekten wie selbstfahrenden Autos beschäftigt. Ein vielversprechender Ansatz?
Wir müssen über unser gesamtes Geschäftsfeld hinweg ständig innovativ sein. Aber bei Google X können wir Dinge tun, die unabhängig vom Tagesgeschäft sind. Intern führen wir ja ständig diese Diskussion, warum wir mit all unserem Geld und Talent eigentlich nicht auch längst in anderen Feldern aktiv sind.
Warum gibt es eigentlich nicht mehr Menschen mit erfinderischem Ehrgeiz?
Weil es nicht leicht ist, nach den Sternen zu greifen. Ausserdem bringen wir den Menschen nicht bei, die Herausforderungen präzise zu identifizieren. Welche Hochschule sagt mir schon, auf welche Art der technischen Problemstellung ich meine Arbeit konzentrieren soll? Unser System bildet Spezialisten aus, die aber nicht in der Lage sind, jene Projekte anzugehen, die irgendwann einmal Breitenwirkung erzielen könnten.
Sie und Google-Mitbegründer Sergey Brin denken schon seit längerem über solche visionäre Herausforderungen nach. In einem Interview formulierten Sie zum Beispiel schon im Jahre 2002 die Vision der Google-Datenbrille.
Und warum nahmen wir das Projekt nicht sofort in Angriff? Wir hätten ja viel mehr Zeit gehabt, die Idee umzusetzen. Es ist wie bei den selbstfahrenden Autos: Die wollte ich schon entwickeln, als ich vor über vierzehn Jahren Student an der Stanford University war. Das Einzige, was sich inzwischen geändert hat, ist der Mut, es jetzt tatsächlich auch anzugehen.
Wie geht Google mit dem Image als mächtiges, vielleicht übermächtiges Unternehmen um? Und wie schwer ist es, in einer so grossen Organisation Veränderungen umzusetzen?
Es ist sicher schwieriger als früher, aber die Grösse bietet natürlich auch erhebliche Vorteile. Eine Milliarde Menschen nutzen heute unsere Produkte.
Aber es ist Ihnen nicht immer gelungen, Ihre Vision auch plausibel darzulegen. Nehmen Sie etwa «Book Search»: Die Idee, alle Bücher dieser Welt durchstöbern zu können, scheint auf den ersten Blick fabelhaft zu sein. Aber Sie stiessen da auf erbitterten Widerstand und wurden juristisch ausgebremst.
Es ist sicherlich nicht ideal gelaufen. Aber zeigen Sie mir bitte ein Unternehmen, das aufgrund juristischer Geplänkel gescheitert ist. Ich kenne keines. Unternehmen scheitern, weil sie aufs falsche Pferd setzen oder nicht ehrgeizig genug sind – nicht aufgrund von Rechtsstreitigkeiten.
Apple-Mitgründer Steve Jobs fühlte sich durch Ihre Übernahme von Android immerhin so stark herausgefordert, dass er einen «nuklear-thermischen Krieg» gegen das Unternehmen anzetteln wollte, wie er das nannte.
Und, wie erfolgreich war er damit?
Glauben Sie, dass angesichts von Androids imposantem Marktanteil der Wettbewerb bereits entschieden ist?
Android ist ausgesprochen erfolgreich, und das freut uns natürlich sehr.
Hätten Sie sich diesen Erfolg vorstellen können, als Sie das Unternehmen im Jahr 2005 übernahmen?
Wir sahen das Potenzial damals, ja. Als wir Android kauften, war es ja offensichtlich, dass die bestehenden mobilen Betriebssysteme allesamt ziemlich unzulänglich waren. Man konnte keine Software für sie schreiben. Vergleichen Sie das einmal mit dem, was wir heute haben. Insofern glaube ich nicht, dass unsere Entscheidung für Android ein unglaublich mutiger Schritt war. Wir waren einfach überzeugt davon, eine langfristige Investition in ein Produkt zu tätigen, das das Potenzial hatte, viele Dinge leichter und besser zu machen.
Bei den sozialen Netzwerken haben Sie in den vergangenen zwei Jahren mit Google+ eine Aufholjagd gegen Facebook versucht.
So sehe ich das nicht. Ist es für unseren Erfolg zwingend notwendig, dass wir einem anderen Unternehmen Marktanteile abjagen oder es gar scheitert? Natürlich nicht. Es ist unsinnig zu sagen, es gebe in diesem Feld nur Platz für einen Anbieter. Als wir unsere Suchmaschine lancierten, sagte jeder: «Was soll das, es gibt schliesslich schon eine ganze Reihe anderer Angebote.» Unsere Antwort war, dass wir zwar ebenfalls eine Suchfunktion anbieten, dabei aber einen völlig unterschiedlichen Ansatz haben. Das ist die Art und Weise, wie ich diese Dinge sehe.
Wie lautet Ihr vorläufiges Fazit für Google+?
Ich bin sehr zufrieden damit, wie es bisher gelaufen ist. Wir arbeiten dort an einer Menge wirklich cooler Sachen. Vieles davon wurde bereits von unseren Konkurrenten kopiert, also denke ich mal, dass wir einen guten Job machen.
In puncto Android haben Sie immer mit Stolz betont, eine offenere Plattform zu betreiben – etwa im Vergleich zu Apples geschlossenem Ansatz. Das kam besonders zum Vorschein, als Apple Google Maps vom Betriebssystem iOS 6 entfernte und eine eigene Karten-App lancierte. Hat die darauf folgende Aufregung Sie darin bestärkt, auf Offenheit zu setzen?
Ich will hier keine Geschäftspartnerschaften kommentieren. Aber wir haben im Bereich von Karten ja tatsächlich eine lange Erfahrung. Und die Menschen scheinen unseren Aufwand und unsere Investitionen in diesem Bereich anzuerkennen. Sie können die tollsten Karten der Welt haben – aber wenn sie niemand nutzt, spielt es keine Rolle. Unsere Philosophie war immer schon, unsere Produkte so vielen Menschen wie möglich verfügbar zu machen. Das Web eröffnete uns da grossartige Möglichkeiten. Jetzt scheinen wir uns wieder in die umgekehrte Richtung zu bewegen: Unternehmen setzen alles daran, Mauern zu errichten. Letztlich verlangsamt das aber die Geschwindigkeit der Innovation als eines Ganzen.
Google wurde in einen Patentstreit hineingezogen – und löste das Problem, indem man ganz einfach die Portfolios von Motorola übernahm ...
... und indem wir das Unternehmen auch kauften ...
... das aber seither nur noch Produkte auf den Markt gebracht hat, die schon zuvor in der Pipeline waren. Was ist da los? Können wir erwarten, dass Motorola so innovativ bleibt wie der Mutterkonzern?
Wir haben schon bei der Übernahme von Motorola betont, dass wir das Unternehmen unabhängig führen werden, mit Dennis Woodside als Chef. Tatsächlich gibt es im Bereich der Hardware ja ein unendliches Verbesserungspotenzial. Die Smartphones, die wir im Moment verwenden, haben etwa allesamt einen Glasbildschirm – fällt das Gerät herunter, zerbricht der häufig. Ich kann Ihnen versichern: In fünf bis zehn Jahren wird Ihnen das nicht mehr passieren.
Während wir sprechen, steht auf der Google-Homepage ein Link zum Protest gegen einen Vorschlag der International Telecommunication Union, der das offene Internet zu beschränken droht. Letztes Jahr machten Sie etwas ganz Ähnliches angesichts des umstrittenen «Stop Online Piracy Act»-Gesetzesentwurfs. Früher sahen wir solche Lobbyarbeit von Google nicht. Warum gerade jetzt?
Betrachten Sie einmal unsere eigene Geschichte. Als wir Google starteten, war es nicht wirklich klar, ob wir nicht innerhalb kürzester Zeit wegreguliert würden. Zu jener Zeit argumentierten viele, das Erstellen einer Kopie einer Speicherdatei stelle eine Verletzung des Urheberrechts dar. Wir haben aber nun einmal das ganze Web auf unseren Servern, insofern wäre das das Ende aller Suchmaschinen gewesen. Ich halte das Internet für einen Segen für die Gesellschaft. Doch vermutlich werden wir in zehn oder zwanzig Jahren zurückblicken und erkennen, dass wir nur ein paar Millimeter davon entfernt waren, es durch Überregulierung abzuwürgen.
Ich vermute mal, dass Gespräche mit den Aufsichtsbehörden nicht gerade zu Ihren Lieblingsbeschäftigungen gehören.
Ich spreche mit jedem gern, so bin ich nun mal. Aber ich denke, das Internet ist derzeit wesentlich massiveren Angriffen ausgesetzt als noch in der Vergangenheit. Viele Regierungen weltweit haben aufgrund der Ereignisse in Nordafrika und dem Nahen Osten Angst vor dem Internet. Und so haben sie ein offeneres Ohr für solche Leute, die meiner Ansicht nach durch die Beschränkung von Freiheiten einzig ihre kommerziellen Interessen durchsetzen wollen. Aber sie haben auch die enorme Reaktion und Macht der Nutzer erlebt, etwa bei den Protesten gegen den «Stop Online Piracy Act». Ich denke, dass Regierungen, die heute Benutzerfreiheiten einschränken wollen, wirklich mit massivem Widerstand rechnen müssen.
Wie halten Sie die Google-Kultur einschliesslich des Postulats, in grossen Visionen zu denken, in so einem riesigen Unternehmen am Leben?
Wir sind im Hinblick auf unsere Mitarbeiterzahl ja allenfalls ein mittelständisches Unternehmen. Unsere Belegschaft zählt einige zehntausend Mitarbeiter. Es gibt Organisationen, die Millionen von Beschäftigten haben – also um den Faktor hundert mehr. Stellen Sie sich mal vor, was wir tun könnten, wenn wir hundertmal so viele Beschäftigte hätten wie heute!
Sie halten wöchentliche «Thank God It’s Friday»-Treffen (TGIF) ab, wo jeder Mitarbeiter Ihnen oder anderen Top-Führungskräften direkt eine Frage stellen kann. Wie wollen Sie diese Art von Intimität aufrechterhalten, wenn Sie weiter wachsen?
Alles ist skalierbar. Als weltweites Unternehmen müssen wir uns allerdings der verschiedenen Zeitzonen bewusst sein (lacht). Wenn wir nicht weltweit die Nacht zum Tage machen, indem wir einen riesigen Raumspiegel aufstellen, können wir nicht viel tun. So haben wir unsere TGIF-Sitzungen vom Freitag auf den Donnerstag verlegt, damit die Mitarbeiter in Asien noch während ihrer Arbeitswoche daran teilhaben können. Dieses Verfahren funktioniert trotz unserer Grösse immer noch recht gut – und ich bin sicher, dass es auch dann noch funktionieren würde, wenn wir irgendwann einmal eine Million Mitarbeiter hätten.
Das ist bereits das zweite Mal, dass Sie Google als potenzielles Ein-Millionen-Mitarbeiter-Unternehmen bezeichnen.
Hat Walmart nicht mehr als eine Million Mitarbeiter? Okay, vielleicht ist es nicht wichtig für uns, so viele Angestellte zu haben. Aber mir gefällt der Gedanke, eine Organisation aufzubauen, die tatsächlich bis zu dieser Grösse skalierbar wäre. Wir könnten weiter wachsen und trotzdem innovativ bleiben. Wir sind eines der grösseren Unternehmen der Welt – und ich will sicherstellen, dass wir auch in Zukunft Dinge in Angriff nehmen werden, die andere nicht schon längst gemacht haben.
Milliarden mit Träumen
Larry Page kam 1973 als Sohn eines Computerwissenschaftlers und einer Datenbankentwicklerin zur Welt. Sein Studium brach er vor dem Doktorat ab, um zusammen mit Sergey Brin die Firma Google Inc. zu gründen – mittlerweile die weltgrösste Suchplattform im Internet. Pages Vermögen wird auf 23 Milliarden Dollar geschätzt, gemeinsam mit Brin hält er einen Google-Anteil von 15 Prozent. 2011 wurde er zum zweiten Mal Google-CEO, Nachfolger/Vorgänger Eric Schmidt wechselte in den Verwaltungsrat.