Jeweils am letzten Wochenende im November finden sich aus aller Welt die 100 führenden Manager des Schweizer Reisekonzerns Kuoni zum grossen Stelldichein zusammen. Im Jahr 2000 versammelte man sich stilgerecht im Wiener ANA Grand Hotel. In seiner Eröffnungsrede liess Hans Lerch das zu Ende gehende Jahr Revue passieren. Mit Hilfe von zehn Folien referierte der Präsident der Konzernleitung vor sichtlich erstaunten Zuhörern über ein aus dem Rahmen des Üblichen fallendes Thema: Murphy’s Law, gemäss dem alles schief geht, was nur schief gehen kann. Die Gesetzmässigkeit im Falle von Kuoni belegte der 51-Jährige mit zwei Ereignissen: dem Concorde-Absturz, der die Erträge der US-Tochter Intrav arg zerzauste, sowie den Problemen mit der Beteiligung in Schweden.

Was keiner der Festgesellschaft zu jenem Zeitpunkt erahnen konnte: Murphy’s Law sollte erst im Jahr darauf den Touristikkonzern so richtig heimsuchen. Von den schwer wiegenden Folgen nach Geschehnissen wie dem Swissair-Debakel oder der terroristischen Attacke in New York abgesehen, ist der Grossteil der Schwierigkeiten schlicht auf Managementfehler zurückzuführen.

Zu den happigsten Schnitzern zählt der Einstieg in den schwedischen Markt. Anfang 2000 erwarb Kuoni an Apollo, als drittgrösster Reiseanbieter des Landes auf Griechenland spezialisiert, eine Beteiligung von 45 Prozent mit einer Option, diese bis Mitte 2001 auf 75 Prozent aufstocken zu können. Das Festhalten an den restlichen 25 Prozent sowie am Posten eines Managing Director hatte sich Firmengründer Fotios Costoulas ausbedungen. Nach dem Deal schälte sich immer klarer heraus, dass in Apollo der Wurm steckt. «Natürlich haben wir vor dem Kauf eine Due Diligence durchgeführt. Allerdings konnten wir die operativen Abläufe nicht unter die Lupe nehmen, und genau die lagen im Argen», bilanziert heute Hans Lerch. Anders tönt das Verdikt von Beat Eichenberger, Chefredaktor des Schweizer Monatsmagazins «Travel Manager»: «Kuoni hat die Situation völlig unterschätzt und ist blauäugig reingerasselt.»

Obwohl Kuoni eine Option auf die Aktienmehrheit besass, hatte das Unternehmen im fernen Schweden nichts zu melden. Der Grieche Costoulas sei mit den Zürchern regelrecht Schlitten gefahren, meint ein Beobachter. Erst als sich im April 2000 die Spannungen in bösen Worten entladen hatten, durften die Zürcher einen Kuoni-Mann nach Stockholm senden. Obwohl dieser auf Schritt und Tritt überwacht wurde, fand er schnell heraus, dass bei den Nordländern weitaus mehr im Argen lag, als man bislang vermutet hatte. Worauf die Schweizer von Costoulas auf Anfang 2001 alle Aktien übernahmen. Die Übernahme der maroden Firma kostete Kuoni, so wird im Markt geschätzt, die Kleinigkeit von 200 Millionen Franken.

Was die Kuoni-Spezialisten bei Apollo antrafen, war ein Debakel. So hat der einstige Besitzer, entgegen allen Usanzen im Reisegewerbe, die Fremdwährungen nicht abgesichert. «Don’t worry, the dollar will come down», habe der leichtfüssige Hellene jeweils Mitarbeitern geantwortet, die angesichts der Währungsentwicklung zittrige Knie bekommen hatten. Millionenverluste verursachte auch die merkwürdige Buchungspolitik: Zwar wurden Hotelkapazitäten im Voraus geordert und bezahlt, ein Grossteil der Kunden jedoch in andere Häuser gelegt, was doppelte Kosten verursachte. Dazu gesellten sich ein antiquiertes Buchungssystem sowie ein unfähiges Management – das denn auch in corpore seinen Abschied nehmen musste.

Keine gute Figur machten die Kuoni-Firmenkäufer auch bei Novair, der Schwesterfirma von Apollo. Die Chartergesellschaft unterhält eine Kleinflotte an Flugzeugen. Eines davon, ein Novair-Airbus 330, ist zwar noch auf sechs Jahre geleast, lässt sich aber nicht auslasten und musste deshalb eingemottet werden. Fürs Nichtfliegen hat Kuoni 54 795 Franken zu berappen – täglich! Lässt sich das Flugzeug nicht vorzeitig abstossen, fliegen insgesamt 120 Millionen Franken zum Fenster raus oder, auf heute diskontiert, 100 Millionen. In diesem Ausmass, so überlegt sich Finanzchef Max E. Katz, sollen denn auch Rückstellungen zu Lasten der Rechnung 2001 vorgenommen werden.

Eine finanzielle Bürde, die sehr wohl zu vermeiden gewesen wäre. «Kuoni war bereits beim Kauf von Apollo klar, dass dieses Flugzeug nicht auszulasten ist. Allerdings glaubte man damals noch, die Maschine problemlos verkaufen zu können. Doch dann drehte der Markt», erläutert Britta Simon, Finanzanalystin der Bank Sarasin. Auch wenn diese Trendwende nicht vorauszusehen gewesen ist, stellt sich die 120-Millionen-Frage: Weshalb hat Hans Lerch nicht bereits vor der Akquisition mittels Vorvertrag mit einem der damals noch vorhandenen Interessenten sichergestellt, die überzählige Maschine absetzen zu können?

Eher peinlich für Lerch ist, dass Daniel Affolter, einstiger Kuoni-Verwaltungsratspräsident und Chef der Kuoni-und-Hugentobler-Stiftung – diese kontrolliert ein Viertel der Aktien des Reisekonzerns –, auf dem Höhepunkt des Machtkampfs im Mai dieses Jahres die Probleme in Skandinavien anprangerte. Zu einem Zeitpunkt notabene, als die Öffentlichkeit noch nichts von diesen Schwierigkeiten wusste. «Wir haben das Ausmass der Probleme in Skandinavien erst Mitte 2001 erkannt», bezieht der Kuoni-CEO Stellung. Ergo hat das Management seit dem Einstieg bei Apollo eineinhalb Jahre benötigt, um die ganze Dimension des Schweden-Debakels zu erkennen.

In den ersten sechs Monaten 2001 belastete Skandinavien die Konzernrechnung mit 30 Millionen Franken, für das gesamte Jahr prognostiziert Hans Lerch einen Verlust von 40 bis 50 Millionen. Demnach wird das Skandinavien-Abenteuer voraussichtlich mindestens 350 Millionen Franken kosten. Dennoch steht ein Rückzug aus dem hohen Norden nicht mehr zur Debatte. «Skandinavien ist nun ein fester Bestandteil von Kuoni.» Laut Lerch werde diese Region im Geschäftsjahr 2003 Gewinne abwerfen.

Skandinavien ist zwar das grösste, aber nicht das einzige Sorgenkind von Kuoni. Rote Zahlen werden ebenso in Italien geschrieben. Dort ist das Reiseunternehmen mit dem Joint Venture Kuoni Gastaldi vertreten. Italien ist ein schwieriger Markt, der bereits vor dem Anschlag in New York Nachfrageeinbrüche verzeichnet hat. Doch auch hier wurde die Lage durch Managementfehler verschärft. Kuoni versuchte sich an einem Club-Med-Verschnitt; dazu wurden massiv Flug- und Hotelkapazitäten eingekauft, die dann nicht abzusetzen waren. Nun soll Daniel Ponzo nach dem Spanien-Geschäft auch die Italien-Aktivitäten auf Vordermann bringen. In einem ersten Schritt wurden die noch ausstehenden 45 Prozent der Aktien übernommen, nun steht das Beschneiden der Kosten und Risiken auf dem Programm. «2003 werden wir wieder die Gewinnzone erreichen», gibt sich Ponzo unverzagt.

Zuversicht ist auch im Nordamerika- Geschäft gefragt. Zwar läuft das Geschäft der Clipper Cruise Line, die kleine Kreuzfahrtschiffe betreibt, recht gut. Dafür leidet die Tochter Intrav unter den Folgen des Concorde-Absturzes und dem Anschlag vom 11. September. Peter Diethelm, bei Kuoni Grossbritannien und Nordamerika tonangebend, versucht mit der Lancierung von «Intrav à la carte» die Scharte auszuwetzen. Die Resultate sind bislang wenig berauschend, obwohl es sich dabei um ein massgeschneidertes Ferienpaket handelt, das die Erfolge in Grossbritannien begründet hat. In diesem Markt läuft es anhaltend sehr gut. «Dort erzielen wir seit Jahren Ebitda-Margen von rund zehn Prozent», schwärmt Diethelm.

Kein Ruhmesblatt ist dagegen das Softwareprojekt Ace. Mehr als drei Jahre lang wurde zusammen mit der auf Softwarelösungen für die Reisebranche spezialisierten belgischen Firma ICSA T an diesem Auftragsverarbeitungssystem gebastelt. «Was wir inhouse machten, funktionierte. Doch nicht jener Teil, den wir auslagerten», spricht Kuoni-IT-Chef Konrad Iten Klartext. Bedeckt hält sich dagegen Jan Verstuyf, Geschäftsführer der ICSA Travel Software in Oberägeri: «Über die Zusammenarbeit mit Kuoni geben wir besser keine Auskunft.» Bleibt die Frage, weshalb Hans Lerch mit der Sistierung derart lange zugewartet hat. Nun reisst der überlange Bremsweg ein Loch von 7,8 Millionen Franken.

2001 wird als schwarzes Jahr in der Kuoni-Historie hängen bleiben. Während zwischen Januar und September noch ein Betriebsgewinn von 104 Millionen Franken angefallen ist, wird dieser für das Gesamtjahr auf etwa 60 Millionen schrumpfen. Der Konzerngewinn erreicht bestenfalls zehn Millionen Franken – vor Abschreibungen und Rückstellungen, und diese dürften happig ausfallen. Denn der Goodwill alleine für die skandinavischen und amerikanischen Töchter steht mit 480 Millionen in den Büchern, mit Sicherheit viel zu viel. Nach einer Neubewertung dieser Firmen könnte ein Abschreiber von bis zu 200 Millionen drohen. Dazu kommt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Rückstellung von 100 Millionen für den überzähligen Airbus.

Unter dem Strich droht Kuoni somit ein Verlust von gegen 300 Millionen Franken. Hans Lerch mag nur bestätigen, dass der Fehlbetrag im dreistelligen Bereich ausfallen wird, und schiebt sogleich nach, der Verlust sei «eigentlich nur Bilanzkosmetik und nicht liquiditätswirksam». Ob die Börse sich für diese Argumentation erwärmen kann, bleibt abzuwarten. Die Schlammschlacht an der Konzernspitze, der schleppende Geschäftsgang sowie der Anschlag auf New York haben den Aktienkurs tief in den Keller gedrückt. Ende September gestand die Börse Kuoni gerade noch einen Wert von 656 Millionen Franken zu; damals lag fast gleich viel an Cash in den Kassen!

Seither hat sich der Aktienkurs verdoppelt, notiert aber immer noch um gut die Hälfte unter den alten Höchstständen. Mit einer Marktkapitalisierung von knapp 1,5 Milliarden Franken ist die stolze Kuoni zum potenziellen Übernahmeopfer geraten. Dessen ist sich Hans G. Syz-Witmer, der neue Präsident der Kuoni-und-Hugentobler-Stiftung sowie VR-Präsident der Privatbank Maerki Baumann, bewusst: «Gerade während der Wirren dieses Jahres war es für Kuoni gut, dass sie die Stiftung hat.» Nur ist die Stiftung kein Garant dafür, das Unternehmen auch wirklich vor Überfremdung schützen zu können. «Auf dem Pult von Hans Lerch liegt bereits mindestens ein Übernahmeangebot», ist jedenfalls der Finanzanalyst eines Zürcher Bankhauses überzeugt.

Seit Jahren ist in der Reisebranche das grosse Fressen angesagt. Sobald sich dort die Aussichten aufhellen, dürfte die Balz um Kuoni losgehen. Preussag ist potentester Bräutigam. Pressesprecher Herbert Euler winkt zwar ab: «Derzeit werden keine Gespräche geführt.» Was nicht viel heisst, denn Kuoni ist für die Deutschen ein appetitlicher Happen. «Die Aktivitäten der beiden Unternehmen ergänzen sich zu einem guten Teil», meint Peter Waldner, einst CEO der Touristikfirma Esco, heute selbstständiger Consultant. Weiteren Reisekonzernen weiss Kuoni ebenfalls zu gefallen. Sogar First Choice könnte es erneut wagen, die 1999 geplatzte Hochzeit doch noch zu vollziehen. «Die Fusion hätte beiden Firmen einiges gebracht», ist Riccardo Gullotti bis heute überzeugt. Gullotti versuchte damals als Kuoni-Chef, den Deal mit den Engländern einzufädeln.

Die beste Abwehrstrategie gegen Übernahmeversuche ist ein hoher Aktienkurs. Um das Vertrauen der Anleger wiederherzustellen, wurde der Barry-Callebaut-Spitzenmanager Andreas Schmid zum neuen Kuoni-VR-Präsidenten nominiert. Eine gute Wahl, denn Schmid hat sich durch integrative Leistungen profiliert. Und im Gegensatz zu Daniel Affolter will Schmid den Rücken der Kuoni- Führung stärken: «Ich habe grosses Vertrauen ins Management und ins Unternehmen. Sonst hätte ich die Nomination nicht angenommen.»

Auch die Zahlen sollen den Kursen auf die Sprünge helfen. Hans Lerch erwartet für 2002 fünf bis zehn Prozent mehr Umsatz und eine starke Ertragserholung. Woher die kommen soll, ist nicht klar. Aber Pessimismus kann sich der Kuoni-Lenker nicht erlauben. Von «Finanz und Wirtschaft» wurde Lerch gefragt, in welcher Situation er sich einen Jobwechsel überlegen müsste: «Wenn bis im nächsten Frühling keine signifikante Verbesserung der zurzeit schlechten Umstände erreicht wird, müsste der Verwaltungsrat dieses Thema mit mir sicher erörtern.» Hans Lerch hat freiwillig seinen Kopf auf den Richtblock gelegt. Stimmen die Zahlen nicht, fällt das Beil.
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