Kein einziges Klischee hat er erfüllt. Statt in Anzug und Krawatte erscheint er in Jeans und Hemd. Statt distinguiert die Hand zu schütteln, verteilt er Küsschen links und rechts. Statt pünktlich kommt er mehr als eine halbe Stunde zu spät. Und strahlt dabei übers ganze Gesicht: Yves Carcelle, Chef der Fashion-Group des französischen Luxusgüterkonzerns Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH) und Chief Executive Officer von Louis Vuitton, macht zusammen mit seiner Frau und seinen vier Kindern Ferien in St. Moritz. Die Verspätung hat er rasch erklärt. Das Wetter und die Pisten waren einfach zu schön. «Excusez-moi!»

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Das ist also der Mann, den das «Wall Street Journal» als einen der mächtigsten Manager in der weltweiten Modeindustrie und «BusinessWeek» als Topshot des Jahres 2002 porträtiert haben. Carcelle hat Erfolg. Unter ihm ist aus dem französischen Reisegepäckhersteller Louis Vuitton, von Bernard Arnault 1989 mit Moët Hennessy zu Louis Vuitton Moët Hennessy verschmolzen, ein allseits bewundertes Modelabel geworden. Als Carcelle 1990 beim Edeltäschner anfing, erzielte Louis Vuitton einen Umsatz von einer Milliarde Franken. Daraus sind bis 2002 sechs Milliarden Franken geworden. Das Label Louis Vuitton steuert damit rund ein Drittel zum LVMH-Konzernumsatz bei und laut Branchenkennern 60 bis 70 Prozent zum Konzerngewinn.

Der Motor dieses Umsatz- und Profitwunders heisst Risiko. «Risiko ist ein bisschen wie Kreation», philosophiert Carcelle, «wenn man es zu rational betrachtet, geht man es nie ein, wenn man einfach loszieht, gerät man in grosse Gefahr.» Carcelle bewältigt diese Gratwanderung meisterlich. So hatte keiner seiner Vorgänger je den Mut, das altehrwürdige goldene LV-Monogramm auf schokoladebraunem Grund neu zu erfinden. «Jedes Produkt hat einen Lebenszyklus, und Louis Vuitton war am Sterben» – Marketeer Carcelle verschrieb den traditionellen Produktelinien, die 95 Prozent des Umsatzes einspielten, eine Verjüngungskur.

Anlässlich des 100-Jahre-Jubiläums des weltberühmten Monogramms lancierte er 1996 das Projekt «Lifting» und engagierte ein neues Design-Team. Zudem kreierten Modeschöpfer wie Vivienne Westwood, Azzedine Alaïa und Helmut Lang limitierte Auflagen aufgepeppter LV-Gepäckstücke, eine Idee, der ein Riesenerfolg beschieden war und die heute fix ins Jahresprogramm gehört. Zwei Jahre später, 1998, wählte Carcelle für Louis Vuitton die Strategie von Konkurrenten wie Gucci und Prada und holte Marc Jacobs, eine Design-Ikone, ins Unternehmen.

Louis Vuitton ist zur Perle geworden: Auf der Rangliste der wertvollsten Marken der Welt, die das Marktforschungsinstitut Interbrand jedes Jahr publiziert, ist Louis Vuitton mit sieben Milliarden Dollar die teuerste Marke Frankreichs. Überdies ist das Unternehmen die profitabelste Firma der Branche. «Ein Paradestück», sagt René Weber, Analyst bei der Bank Vontobel, «dank einer Marge von konkurrenzlosen 40 Prozent und dank der Tatsache, dass alle Neuheiten, welche die bringen, gut ankommen.»

Zum Erfolgsrezept des Edeltäschners gehört Prinzipientreue: Louis-Vuitton-Produkte gibt es nur in firmeneigenen Läden zu kaufen und nur zum vollen Preis. «Im Gegensatz zu anderen Luxusmarken machen wir keinen Ausverkauf, geben keine Rabatte, an niemanden», sagt Carcelle. Von der hundertprozentigen Preiskontrolle rückt er auch in Ländern, wo das Feilschen traditionell zum Kauferlebnis gehört, nicht ab.

Noblesse oblige. Kundinnen und Kunden, die für das Portemonnaie Viennois 675 Franken bezahlen oder den Kauf der Strandtasche Sac Petit Modèle aus Vinyl für 1330 Franken erwägen, wollen hofiert werden. Dazu gehört neben schicken Events zur Kundenpflege auch der Service im Ladenalltag. Carcelle zitiert aus dem Leitfaden fürs Verkaufspersonal: «Begrüsse jeden, der ins Geschäft kommt, führe ihn durch den Laden, erkläre unsere Philosophie, gib ihm deine Visitenkarte, einen Katalog, und gib ihm dein Lächeln.» Anders als die Mehrheit der Luxusgüterhersteller honoriert er sein Frontpersonal nicht nach dem Kommissionsmodell, sondern zahlt Fixlöhne. Angenehmer Effekt: Egal in welchem Aufzug und mit welcher Absicht jemand einen Louis-Vuitton-Laden betritt, er riskiert garantiert keinen «Mit dir verschwende ich doch keine Zeit»-Blick.

Die Philosophie, jeden, der einen Louis-Vuitton-Laden betritt, als VIP zu behandeln, kann sich Carcelle leisten. Denn was er in die Regale legt, verkauft sich inzwischen wie von selbst: Louis Vuitton ist Kult. Europäer wie Amerikaner reissen sich um die edlen Stücke. Und die Japaner sind geradezu verrückt nach allem aus dem Hause Vuitton. Analysten von Goldman Sachs haben ausgerechnet, dass die 127 Millionen Japaner mindestens 46 Prozent aller Luxusgüter dieser Welt aufkaufen – Krise hin oder her.

Dieser loyalen Kundschaft, die auch bei Louis Vuitton fast 30 Prozent der Einnahmen liefert, baute Carcelle das bisher grösste LV-Geschäft: Am 31. August 2002 eröffnete er im ultraschicken Tokioter Quartier Omotesando einen zehnstöckigen Luxustempel, den er vorab von einem Schinto-Priester weihen liess. Die Japaner dankten ihm diese Reverenz an ihre Kultur, in der Luxus nahezu religiöse Ausstrahlung besitzt, mit einem Umsatzrekord und kauften am Tag der Eröffnung Waren für 1,6 Millionen Franken. Die 277 Exemplare eines Tambour-Uhrenmodells, die Carcelle in Tokio erstmals verkaufte, waren in dreissig Minuten weg – zu einem Stückpreis von 2430 Franken.

«Marktführer bleiben», antwortet Carcelle auf die Frage nach seinem langfristigen Ziel. Über Sein und Nichtsein wird das Wachstum entscheiden. Louis Vuitton legte in der Vergangenheit jedes Jahr zweistellig zu und soll das auch in Zukunft beibehalten. Als ginge es darum, im herrschenden Konjunkturtief einen Kontrapunkt zu setzen, fährt Carcelle weiterhin unbeirrt das volle Risiko und vergrössert alles: Design-Teams, Sortiment, Verkaufsflächen. Schuhe und Mode, seit 1998 im Sortiment, wurden letztes Jahr ergänzt durch ein Collier, durch die Uhrenlinie Tambour und durch Seglermode und -accessoires, die kommerzielle Verwertung des Louis Vuitton Cup, den die Franzosen seit den Achtzigerjahren organisieren.

Forsch ist auch das Tempo, mit dem Carcelle sein Distributionsnetz knüpft. Aus den vormals knapp 100 Geschäften sind 299 geworden. Seit dem Grosserfolg in Tokio hat Carcelle Läden in Amsterdam, Chicago und Moskau eröffnet. Nun folgt der Flagship-Store an der 5th Avenue in New York. Bisher bewies Carcelle bei der Expansion eine gute Hand und hat noch nie ein Geschäft geschlossen, ausser um umzuziehen. So geschehen in Zürich. 1998 zügelte LV von einer Seitenstrasse der Bahnhofstrasse direkt an die Shoppingmeile. Der Umsatz hat sich dort seither verdreifacht.

«Eine Langzeitstrategie gründet man nicht auf kurzfristigen Ereignissen», rechtfertigt Carcelle seinen riskanten Wachstumskurs. «Und die Erfahrung, die wir mit Krisen haben: Meistens gewinnen wir Marktanteile.» Die Asienkrise konnte Carcelle nicht von seinem Expansionskurs abbringen und auch nicht der Golfkrieg. Während die Konkurrenz manches Vorhaben auf später verlegte, gab Carcelle Anfang der Neunzigerjahre grünes Licht, in Frankreich eine neue LV-Fabrik zu bauen und in Hawaii einen riesigen Laden zu eröffnen. Beide Entscheide erwiesen sich im Nachhinein als klug: Die Anzahl der LV-Fabriken stieg in den letzten zehn Jahren von fünf auf vierzehn, und das Geschäft auf Hawaii erreichte innerhalb von fünf Jahren einen Jahresumsatz von 100 Millionen Dollar.

Klar, auch er spüre ständig die Gefahr des Erfolges, sagt Carcelle, «doch Angst, Opfer des Erfolges zu werden, habe ich nicht». Man könne immer besser werden, immer innovieren, und dann mache das Wachstum eine Marke auch nicht krank, sondern stark. Um das Hochpreis- und Hochglanzimage zu schützen, verzichtet Carcelle mitunter sogar freiwillig auf Umsatz. Im Gegensatz zu Konkurrenten wie Gucci, Versace oder Yves Saint Laurent vergibt er keine Lizenzen für Parfums, Unterwäsche oder Brillen. «Louis Vuitton soll nicht zu einem reinen Etikett werden», sagt Carcelle. Damit liegen die Grenzen des Wachstums im Unternehmen selbst: Neue Produkte nimmt er in die Marke erst dann auf, wenn er sie auch mit den eigenen Leuten und Kapazitäten herstellen kann. Die LV-Uhr Tambour etwa wird von den firmeneigenen Ateliers Horlogers ausserhalb von La Chaux-de-Fonds hergestellt.

Lizenzen sind Gift für Louis Vuitton, Fälschungen auch. Zehn Millionen Euro gibt Carcelle jedes Jahr für Lobbying und für ein grosses Investigatorenteam aus, das den Auftrag hat, Regierungen und Zollbeamte zur Kooperation im Kampf gegen die billigen Imitationen zu bewegen. Doch Carcelle kämpft auf verlorenem Posten, und er weiss es. Der Anblick von in China hergestellten LV-Imitaten macht ihn richtig aggressiv, «vor allem bei Leuten mit Geld». Was er dann tut? «Ich verliere die Contenance», sagt Carcelle, erhebt sich aus seinem Sessel und spielt nach, wie er vor noch nicht allzu langer Zeit auf einem Flug von Fernost nach Paris eine Dame in der ersten Klasse blossgestellt hat, indem er sich neben sie stellte, sie am Ärmel zupfte und mit lauter Stimme sagte: «Sie wissen, dass man diese gefälschte Louis-Vuitton-Tasche Ihnen in Frankreich am Zoll wegnehmen, vernichten und Sie ins Gefängnis stecken kann?» Carcelle lässt sich auf den Barstuhl zurückfallen und bemerkt die Konsternation, die er mit seiner Showeinlage bei den Tischnachbarn verursacht hat, lacht und sagt: «Excusez-moi!»