BILANZ: Sie werden von Fussballlegenden wie Uli Hoeness oder Günter Netzer über den Klee gelobt. Ist Ihnen das unheimlich?

Lucien Favre: Das sind schöne Komplimente, aber ich bleibe immer auf dem Boden.

Wie belohnen Sie sich nach einem tollen Sieg? Mit einem Glas Féchy aus der heimatlichen Waadt?

Nein, nach einem Spiel denke ich ans nächste. Und dass ich auch dieses gewinnen will. Wer dieses Gewinner-Gen nicht in sich hat, ist im Trainerberuf fehl am Platz. Im Spitzensport hat man immer das Messer am Hals.

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Sie sagen: Ein Spieler braucht 10 Prozent Talent und 90 Prozent Fleiss zum Erfolg. Gilt das auch für Trainer?

Der Grundsatz gilt auch für Trainer. Talent genügt nicht, man muss hart arbeiten, wenn man Ziele erreichen will. Das gilt für jeden Beruf.

Fleiss, Fleiss, Fleiss: Formt man so aus gewöhnlichen Spielern eine aussergewöhnliche Mannschaft?

Als ich am 14. Februar 2011 bei Borussia Mönchengladbach begann, stand die Mannschaft am Abgrund, sieben Punkte Rückstand, 18. Rang, mit einem Bein in der Zweiten Bundesliga. Viele hatten den Kampf bereits aufgegeben. Ich nicht. Mein Ziel war es, die Mannschaft vor dem Abstieg zu retten. Ich begann mit individuellen und kollektiven Gesprächen. Trainer sind auch Verkäufer. Sie müssen ihre Ideen verkaufen.

Offenbar hat es funktioniert – heute mischt Ihr Club um den Titel mit.

Mit denselben Spielern, mit derselben Mannschaft. Was damals ein Vorteil war: Die Spieler spielten zwar nicht auf Topniveau, aber sie hatten alle Spielintelligenz – schnelles Denken, schnelle Umsetzung. Deshalb begriffen sie rasch, was ich wollte.

Was wollten Sie?

Ich musste möglichst schnell die Abwehr stabilisieren. Die Borussia kassierte 2,7 Tore pro Match, so aber gewinnt man keine Spiele. Nach einem Monat waren wir solide und konnten an optimalen Tagen eine gute Leistung bringen. Mehr lag nicht drin. Die Spieler waren bereit, weiter zu leiden und zu kämpfen.

Lucien Favre als Feuerwehrmann? In der Vergangenheit galten Sie als Konzepttrainer, der monatelang mit seinen Spielern arbeitet, sie weiterentwickelt, optimiert.

Ein totales Klischee. Man ist als Trainer gut, oder man ist nicht gut. Ich bin gut. Feuerwehrmann oder Konzepttrainer: Man muss entsprechend der Ausgangslage, den Rahmenbedingungen und den Spielern agieren können. Wer diese Flexibilität nicht hat, wird eher früher als später Probleme kriegen. Bei mir funktionierte es, obwohl es immer Rückschläge gab. Was mich zuversichtlich stimmt: Heute haben wir pro Spiel acht bis zehn Torchancen, das ist viel in der Bundesliga.

Haben Sie kürzlich im «Guardian» gelesen, was die Journalisten über Mönchengladbach schrieben? «Borussia Barcelona». Barcelona ist der erfolgreichste Klub der Gegenwart. Dieser Vergleich ist ziemlich vermessen.

Natürlich sind wir bei weitem nicht auf dem Niveau von Barcelona, aber es war ein schönes Lob für unsere Spielweise.

Und wenn Sie verlieren, sind Sie auf Schweizer Niveau?

Ich bitte Sie, keine Übertreibung. Das Schlimmste haben wir hinter uns. Der Klassenerhalt war für mich so etwas wie der Meistertitel. Und schon bald kämpfen wir gegen Bayern München um den Einzug ins DFB-Pokalfinale.

Jacques Attali, der ehemalige Wirtschaftsberater von François Mitterrand, behauptet in seinem Buch «Die Welt von morgen», Fussballtrainer würden in Zukunft nur noch auf Monatsbasis angestellt. Übertreibt er?

Ein spannendes Buch, ich habe es im Sommer gelesen. Ich glaube, er hat recht, leider. Heute bleibt nicht viel Zeit. Es müssen schnell Resultate her. Deshalb muss ein Trainer rasch zwei, drei Spielsysteme, die funktionieren, implementieren können. Wer keine schnellen Ergebnisse bringt, wird auf einem Trainerposten nicht alt.

Ist diese Schnelllebigkeit gut für den Fussball? Sie sind in Mönchengladbach der neunte Trainer in zehn Jahren.

Das ist sicher keine positive Entwicklung, wenn ein Trainer nur knapp ein Jahr auf seinem Stuhl sitzt. Aber ich will nicht klagen, das Tempo reflektiert die Gesellschaft. Es werden auch in anderen Wirtschaftsbereichen schnell Resultate verlangt. Die Kunst ist es, auch unter diesen Prämissen Konstanz zu erreichen. Schauen Sie Barça an. Da gibt es seit Jahren ein vom Trainer unabhängiges Konzept: schnelle Ballfolgen, flache Pässe, Ballbesitz, Spieler, die stets in Bewegung sind. Jeder Trainer bei Barça, angefangen bei den Junioren bis hin zu Cheftrainer Josep Guardiola, muss diese Philosophie umsetzen können.

Könnten Sie die Barça-Philosophie umsetzen?

Ja, klar. Ich verfolge Barça seit Jahren, 1993 hospitierte ich bei Johan Cruyff, als er Trainer war. Er hat diese Philosophie implementiert. Es ist auch mein Stil: viel Ballbesitz, schnelle Kurzpasskombinationen.

Sie spielten beim FC Zürich, bei Hertha und jetzt bei Mönchengladbach stets mit ungeschliffenen Talenten, aber nie mit Stars, wie sie Bayern München kennt. Kein Problem?

Nein, ein Trainer muss sich adaptieren, muss sich auch auf Starspieler einstellen können. Es ist leichter mit Topspielern, technisch muss man ihnen nicht mehr viel beibringen. Man hat nur Probleme, wenn ein Spieler überschätzt wird oder ein Star die Leistung nicht mehr bringt.

In der Bundesliga werden Stars vergoldet. Ist Geld im Spitzenfussball der Hauptmotivator?

Geld ist wichtig, zweifellos. Aber es ist nicht der einzige Treiber. Als ich beim FC Zürich war, verdienten auch Topspieler wie Gökhan Inler zu Beginn weniger als 10 000 Franken pro Monat. Sie sind trotzdem zum FCZ gekommen, weil sie mit der Mannschaft etwas bewegen konnten.

Wie gehen Sie mit der Fussballhysterie in Deutschland um?

Ach, man gewöhnt sich daran. Fussball ist in Deutschland omnipräsent, es ist eine Religion. Im Schnitt verfolgen 44000 Zuschauer ein Spiel der Bundesliga. In England sind es 33 000, in Spanien 28 000. Es fehlt leider nur der Verein, der auf Kontinuität setzt. Nach zwei Niederlagen in Folge bricht im Vorstand, bei den Fans oder in den Medien Panik aus. In Frankreich erhält der Trainer mehr Zeit. Man analysiert in Ruhe, sucht nach Gründen. Nach der fünften Niederlage wird vielleicht einmal durchgegriffen, vorher nicht. In Deutschland will man keine Erklärungen, sondern Siege.

Dann wäre Frankreich der richtige Arbeitsort?

Vielleicht irgendwann einmal. Aber ich liebe die vollen Stadien, die Leidenschaft. Die Bundesliga ist in einem Topzustand. Das sieht man auch an der breiten Auswahl von Spitzenspielern, auf die der Bundestrainer zurückgreifen kann.

Nach zweieinhalb Jahren bei Hertha BSC haben Sie eineinhalb Jahre pausiert. Weil Sie ausgebrannt waren?

Ich hatte 13 Jahre als Trainer gearbeitet, fast ohne Ferien. Im Sommer gab es offiziell zwei Wochen Ferien, im Winter drei, doch dann musste man jeweils die Saison vorbereiten. Kurzum: Es war sehr schwer, sich zu erholen. Damals merkte ich, dass ich ausgebrannt war.

Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?

Mich erholt, gelesen, mich weitergebildet. Ich habe mein Englisch und Deutsch verbessert und etwas Spanisch gelernt.

Wie verhindern Sie, dass Sie nochmals in einen solchen Erschöpfungszustand kommen?

Indem ich am Abend Feierabend mache, mich ablenke.

Früher hätten Sie am Abend Spiele auf DVD analysiert, um daraus eine Angriffstaktik zu entwickeln. Ihre Frau hat Ihre DVD-Sammlung verwaltet.

Das tut meine Frau schon seit einer Weile nicht mehr. Ich habe in Gladbach einen Videoverantwortlichen, der mir alles, was ich wünsche, aufnimmt (lacht). Real-Trainer José Mourinho schaut sich übrigens deutlich mehr Fussballvideos an als ich. Ich habe gemerkt, wie wichtig es ist, zwischendurch abzuschalten. Das können viele Trainer nicht. Das Geschäft läuft sieben Tage in der Woche. Man hat schnell das Gefühl, zwei freie Tage brächten einen in Rückstand mit der Arbeit. Aber ich kann mich heute ohne schlechtes Gewissen ausklinken, um zu regenerieren.

Und was machen Sie dann? Fahren Sie in Ihre Heimat nach Saint-Barthélemy, wo Sie ein Haus haben?

Nein, ich fahre selten in die Schweiz. Viel häufiger bin ich in Brüssel oder Maastricht. Das ist bloss anderthalb Stunden von Mönchengladbach weg; dort kann ich mich unerkannt bewegen und geniesse es, französisch zu reden.

Muss man in Deutschland lauter und selbstbewusster auftreten als in der Schweiz?

Man muss in erster Linie glaubwürdig sein. Denn der Medienrummel um den Fussball ist riesig hier. Es wird alles genau beobachtet. Selbstbewusstsein ist gut, aber die Leistung muss stimmen.

Hatten Sie als Romand keinen Kulturschock?

Nein – dank den vier Jahren, die ich in Zürich verbrachte. Es wäre unmöglich gewesen, von Genf direkt nach Deutschland zu wechseln, allein schon wegen der Sprache.

Verfolgen Sie den Wahlkampf in Frankreich?

Natürlich. Ich könnte nie Politiker sein, aber ich bewundere manche von ihnen. Schauen Sie sich Angela Merkel und Nicolas Sarkozy an. Die beiden werden viel kritisiert. Ich finde aber, sie machen in dieser schwierigen Zeit einen extrem guten Job. Merkel bleibt in den grössten Turbulenzen kühl, überlegt. Das beeindruckt mich.

Spürt der Verein Gegenwind wegen der Wirtschaftskrise in Europa?

Nein. Hier in Deutschland ist der Fussball solide organisiert und finanziert. Es gibt kaum einen Verein, der Schulden hat – typisch deutsch eben. Uns hilft auch, dass Fussballspiele hier erschwinglicher sind als in anderen Ländern. Der Eintritt für ein Kind kostet 6 Euro, den Sitzplatz für einen Erwachsenen gibt es ab 25 Euro.

Und Eltern müssen keine Angst vor Petardenwerfern haben wie beim FC Zürich?

Nein. Dieses Problem ist ein schweizerisches. Ich verstehe nicht, warum man es seit Jahren nicht in den Griff kriegt. Der Schweizer Fussball macht derzeit keine gute Figur – auch durch die Finanzlage vieler Klubs. Servette Genf ist pleite. Incroyable.

2014 läuft der Vertrag von Ottmar Hitzfeld bei der Schweizer Nationalmannschaft aus. Ein Job für Lucien Favre?

Ich hoffe, die Schweiz qualifiziert sich unter Hitzfeld erfolgreich für die WM in Brasilien. Das wäre ein Traum. Was mich angeht: Ich plane nie weiter als sechs Monate. Im Fussball ist es extrem schwierig, die eigene Karriere zu planen. Aber um das klarzustellen: Nationaltrainer zu werden, ist kein unmittelbares Ziel von mir.

Wenn Sie ein Angebot von Bayern und Barcelona hätten – wo würden Sie lieber hin?

Ich kann Sie beruhigen: Bis jetzt sind keine entsprechenden Angebote eingetroffen.

Sie weichen aus.

Ich habe Ihnen gesagt: Ich plane immer nur ein halbes Jahr voraus. Mein Vertrag bei Mönchengladbach läuft bis 2013. Wo immer ich sein werde: Ich will den Erfolg.

Der Trainer von «Borussia Barcelona»
Lucien Favre (54), Bauernsohn aus Saint-Barthélemy VD, begann als Neunjähriger mit Fussballspielen und startete 1978 seine Profi-Laufbahn (Xamax, Servette Genf, Toulouse). Als Trainer machte er zweimal den FC Zürich zum Meister, bevor ihn 2007 Hertha BSC nach Berlin holte. Seit Februar 2011 trainiert Favre Borussia Mönchengladbach. Er rettete das Team vor dem Ab-stieg, führte es an die Bundesligaspitze und ist nun sogar als Trainer von Bayern München im Gespräch.