BILANZ: Herr Rohner, in Ihrem ersten Amtsjahr haben Sie sich einen Superlativ verdient: Kein neuer Bankchef hat jemals in so kurzer Zeit so hohe Verluste bekanntgeben müssen. Wenn Sie gewusst hätten, was da auf Sie zukommt: Hätten Sie den Job trotzdem angenommen?
Marcel Rohner: Ja, auf jeden Fall.
Trotz des gigantischen Stresses?
Natürlich ist das eine Situation, die niemand erwartet hat, ich auch nicht. Aber wenn sie eintritt, muss man sie akzeptieren. Erst dadurch gelangt man in eine Position, aus der heraus man die Initiative ergreifen und die richtigen Aktionen in Angriff nehmen kann.
Es muss für Sie ein dramatischer Stimmungswandel gewesen sein: erst das Hochgefühl im Juli nach der Ernennung zum Konzernchef, dann der Beginn der Finanzkrise zwei Wochen später.
Ich habe immer versucht, die Leidenschaft zum Beruf mit einer inneren Distanz zu verbinden. Das ist ein Paradox, gewiss, aber für mich sehr entscheidend. Ich war nicht übermässig euphorisch.
Immerhin wurden Sie zum CEO der grössten Schweizer Bank gekürt. Hatten Sie da nicht das Gefühl: Wow, jetzt habe ich es geschafft?
Nein, überhaupt nicht. Es war eine Kombination von Gefühlen: Anerkennung meiner Leistung und sicher auch Stolz, aber auch Pflichterfüllung und Respekt vor der grossen Aufgabe, die Erwartungen von Mitarbeitern, Kunden und Aktionären zu erfüllen. Es war mir von Anfang an klar, dass das eine grosse Herausforderung sein würde. Dass die Umstände sich in kurzer Zeit so dramatisch entwickeln würden, war nicht absehbar.
Kam der Abgang Ihres damaligen Chefs Peter Wuffli für Sie überraschend?
Zu diesem Zeitpunkt sicher. Als Stellvertreter hatte ich die Möglichkeit, ja sogar Wahrscheinlichkeit akzeptiert, dass ich diesen Posten einmal übernehmen würde. Aber in diesem Moment hatte ich nicht damit gerechnet.
Wussten Sie von Spannungen zwischen Wuffli und dem Verwaltungsrat?
Es gab seit längerer Zeit Diskussionen zwischen der Konzernleitung und dem Verwaltungsrat über die Zukunftsplanung, das war mir natürlich bekannt.
Haben Sie noch Kontakt mit Peter Wuffli?
Ja, ich habe ihn seither gesehen. Wir haben ein gutes Einvernehmen. Ich habe mit ihm eine sehr konstruktive Arbeitsbeziehung gehabt.
Welcher Moment war der schwierigste in den letzten elf Monaten?
Das war ein laufender Prozess, eine dynamische Entwicklung über fast ein Jahr hinweg. Die Situation hat sich 2007 sowie im ersten Quartal 2008 laufend verschlechtert. Die schwierigste Zeit war im vierten Quartal des letzten Jahres. Und dann wurde es noch mal Ende Februar und im März sehr hart. Das erste Quartal hat die ganze Finanzindustrie mit dem Ausmass der Krise überrascht.
Wie oft haben Sie in den letzten Monaten Ihre Familie gesehen?
Natürlich war das eine extreme Zeitbeanspruchung. Aber ich habe das Gefühl, dass wir noch mehr zusammengerückt sind als vorher.
Haben Sie jedes Wochenende gearbeitet?
Da ist man immer dran. Es gibt Dinge, die einfach gemacht werden müssen, und das häufig auch am Wochenende.
Haben Sie nicht einmal eine Auszeit genommen?
Wenn Sie das Bedürfnis haben wegzugehen, drückt das den Wunsch aus wegzurennen. Es hilft viel mehr, die Situation innerlich voll zu akzeptieren und die eigene Lage zu relativieren. Es gibt viele Menschen, die mit wirtschaftlichen Ängsten kämpfen, es gibt viele Unternehmer, die ein Geschäft gegründet haben und hart um ihre Existenz bangen. Da befinde ich mich sogar in einer privilegierten Lage. Und es gibt private Schicksale, in denen man mit viel schwerwiegenderen Problemen konfrontiert wird als mit Stresssituationen im Geschäft.
Haben Sie nie eine persönliche Krise gehabt angesichts des unaufhaltsamen Niedergangs?
Natürlich ist die Gemütslage nicht jede Sekunde gleich, auch ich hatte meine Ups und Downs. Aber Sie müssen sich vor allem fragen: Was ist das Beste, was man daraus machen kann? Es gibt auch sehr lehrreiche Aspekte. Wenn einem im Leben immer alles sehr einfach gelungen ist und man sehr viel Glück gehabt hat, dann ist es eine gute Erfahrung, wenn es auch mal anders kommt.
Sie waren in den neunziger Jahren sechs Jahre als Risikokontrolleur auf höchstem Niveau bei der UBS tätig: Warum haben Sie nichts gemerkt von dem heraufziehenden Debakel?
Die Frage impliziert, dass dort etwas war, das man hätte merken können. So einfach ist es aber nicht. Denn wenn wir etwas gemerkt hätten, hätten wir ja Gegensteuer gegeben. Es war ein Wirkungsgefüge, bei dem verschiedene Faktoren zusammenspielten. Wir arbeiten im Kollektiv, nicht allein. Aber schliesslich fühle ich mich als Teil der Konzernleitung dafür mitverantwortlich, keine Frage.
Waren zu viele Stellen involviert? War die UBS zu bürokratisch?
Eine zentrale Fehlerursache bei uns war sicherlich, dass wir uns zu sehr auf formale Prozesse verlassen haben. Die sind alle aus vormaligen Krisen hervorgegangen und haben auch viel genützt. Doch sie haben uns auch in einer falschen Sicherheit gewiegt: Wenn eine Entscheidung durch einen genau festgelegten Prozess gegangen ist, haben Personen in Schlüsselpositionen sie bereits geprüft, und darauf verlässt man sich dann. In dieser Konstellation dauerte es zu lange, bis wir alles durchgeschaut und das amerikanische Immobilienrisiko aggregiert dargestellt hatten.
Ihre Systeme waren also nicht in der Lage, bei einem drohenden Markteinbruch das Gesamtengagement im amerikanischen Immobilienmarkt schnell und exakt aufzuzeigen?
Es waren teilweise sehr komplexe Anlageinstrumente, Derivatkontrakte. Das haben verschiedene Wettbewerber vielleicht besser gemacht: Wenn wir die Fragen anders und früher gestellt, ein halbes Jahr vorher nachgefragt hätten, hätten wir das Risiko erkannt.
Können die Bankchefs überhaupt wissen, was ihre Trader machen? Verstehen Sie jedes dieser hochkomplexen Produkte, um eventuell Gegensteuer zu geben?
Sie würden sicher irgendwo ein Produkt finden, das ich nicht im Detail kenne. Ich verstehe aber auch nicht alle Einzelheiten unseres Computersystems. Natürlich gibt es da eine Grenze. Doch eines ist für mich ganz zentral: Man muss immer wieder punktuell sehr ins Detail gehen und sich erst zufrieden geben, wenn man das letzte Detail verstanden hat.
Werden Sie deshalb jetzt ein dominanterer Konzernchef? Die Überfigur Ospel ist ja nicht mehr an Bord.
Ich habe den Auftrag, die Bank zu führen, und ich weiss, wie ich sie führen muss, damit sie Wert schafft. Die heutige Struktur ermöglicht eine klare Abgrenzung zwischen Verwaltungsrat und Konzernleitung. Ich halte nichts von Dominanz. Das Einzige, was zählt, ist das Resultat, das wir am Ende liefern. Und das braucht Zeit.
Dennoch hat sich mit der neuen Konstellation ja die Machtbalance verschoben. Das bisherige Chairman’s Office war mit Riskokontrolle, Strategie und Kompensation betraut. Das ist jetzt vorbei.
Einige Sachen sind noch in Ausarbeitung. Der neue Risikoausschuss etwa konstituiert sich gerade, gewisse Aufgaben des Verwaltungsrats werden in die Konzernleitung wandern. Zentral für mich ist, dass wir jetzt eine klarere Trennung haben zwischen operativem Geschäft einerseits und Strategie und Kontrolle andererseits.
Marcel Ospel nannte sich «aktiven Chairman», Peter Kurer vermeidet diese Bezeichnung.
Das müssen Sie mit Herrn Kurer diskutieren. Ich kann mir allerdings schwer vorstellen, was ein inaktiver Chairman sein soll.
Herr Kurer war Ihnen bisher unterstellt, jetzt wird er Ihr Chef. Ein seltsames Gefühl?
In den letzten 15 Jahren bin ich häufig Chef von jemandem geworden, der zuvor einmal mein Chef war. Das hat für mich keine Bedeutung. Im Gegenteil. Das ist eigentlich das Beste, was einem passieren kann. Ich weiss, dass wir in extrem schwierigen Zeiten gut zusammengearbeitet haben.
Wurden Sie gefragt, als die Nachfolge von Marcel Ospel anstand?
Es gab Diskussionen, aber meine Zustimmung war natürlich nicht Voraussetzung.
Am Tag von Ospels Rücktritt, dem 1. April, gaben Sie sich optimistisch: Sie seien überzeugt, dass keine weitere Kapitalerhöhung nötig sei. Gilt das weiterhin?
Davon bin in ich mehr denn je überzeugt.
Und weitere Abschreibungen?
Wir sehen im amerikanischen Immobilienmarkt keine weiteren Abschreibungen in der Höhe, wie wir sie am 1. April angekündigt haben.
Wie viele Abschreibungen wird es noch geben?
Es gibt drei Treiber für die weitere Entwicklung: unsere Bestände in den Problembereichen, doch die sind heute viel kleiner, sie betragen nur noch einen Bruchteil von Mitte 2007. Die Bewertungen schwanken mit dem Markt. Dann sind da unsere Verbindlichkeiten, die werden ebenfalls in Abhängigkeit zu unserer Kreditqualität zum Fair Value bewertet. Und schliesslich die Kreditrückstellungen auf Monoline-Versicherungen, da gibt es Schwankungen in beide Richtungen, die uns auch in Zukunft beschäftigen werden.
Das heisst: Abschreibungen im tiefen einstelligen Milliardenbereich sind für das zweite Quartal realistisch?
Ich will keine Zahlen oder Prognosen liefern. Die Positionen sind auf dem Tisch, und durch die drei Treiber wird es mögliche Schwankungen geben. Wir sind gut aufgestellt, um damit umzugehen.
Sie haben Ihre Situation deutlich verbessert, indem Sie einen grossen Teil der Problempapiere für 15 Milliarden Dollar an den amerikanischen Vermögensverwalter BlackRock verkauft haben. Gibt es weitere Verkäufe von Subprime-Produkten?
Es gibt eine grosse Zahl von Interessenten. Davon ausgehend, dass der Verkauf an BlackRock finalisiert wird, sind weitere Verkäufe eine Möglichkeit, wenn die Konditionen stimmen.
Die Kapitalerhöhung ist Gift für die Börsenkurse: Um den gleichen Gewinn pro Aktie zu erzielen wie vor der Krise, benötigen Sie einen Jahresgewinn von 18 Milliarden Franken. Das ist utopisch.
Ja, aber dann hätten wir auch eine Marktkapitalisierung von 250 Milliarden Franken. Ganz klar: Es hat eine grosse Verwässerung stattgefunden. Jetzt konzentrieren wir uns auf das Wachstum nachhaltiger Gewinne. Das sind für uns Gewinne, die auf Kundengeschäft basieren und sich deshalb auch im nächsten und übernächsten Jahr wiederholen lassen, weil sie nicht auf Einmaleffekten beruhen. Wenn wir das schaffen, steigern wir den Wert des Unternehmens. Jetzt können wir das arithmetische Spiel machen: Wann haben wir wieder den Börsenwert von früher, wann den gleichen Gewinn pro Aktie? Doch diese Spielchen interessieren mich heute nicht.
Im jetzigen Umfeld wird es schon extrem schwierig, auch nur die Hälfte des Gewinns der guten Jahre zu erwirtschaften. Kein Wunder, dass viele Investoren da sagen: Aus der UBS-Aktie ist auf Jahre die Luft raus.
Die Frage ist nicht, wie viel die Aktie einmal wert war. Die Frage ist, wie viel unser Geschäft jetzt wert ist. Wir haben in unserem Kerngeschäft Vermögensverwaltung die gleichen Wachstumschancen wie vor der Krise, trotz dem Rückschlag. Der Markt von grossen Kundenvermögen wächst in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren weiter stark.
In Ihrer Wealth-Management-Abteilung in den USA gibt es gerade grosse Probleme: US-Behörden bezichtigen einen Ihrer Mitarbeiter der Beihilfe zur Steuerflucht.
Wir haben die Prüfung der grenzüberschreitenden Dienstleistungen durch die amerikanischen Behörden im Quartalsbericht offen gelegt. Weiter können wir das nicht kommentieren.
Genereller gefragt: Gehen die Amerikaner schärfer gegen das Bankgeheimnis vor?
Das möchte ich nicht kommentieren.
Zurück zur Krise: Liegt die Ursache nicht auch in den falschen Anreizstrukturen bei den Banken?
Diese Thematik betrifft nur einen kleinen Teil der Belegschaft. Der grosse Teil macht Jobs, für die es einen klaren Markt mit klaren Gehaltsparametern gibt.
Das gilt aber nicht für das Topmanagement und die Händler.
Es ist anders für das Topmanagement und eine relativ kleine Zahl von Händlern, die grosse Risiken eingehen. Für die Händler wäre es fatal, wenn man ihre Bezahlung nach einer Formel festsetzen würde. Ein Bonussystem mit Performance-Kriterien und einer Management-Entscheidung am Schluss ist noch immer das Beste.
Und das Topmanagement?
Das sollte über Aktien mit der Bank verbunden sein. Ich bin Aktionär der Bank, und deswegen habe ich Interesse an einer nachhaltigen Wertsteigerung.
Im letzten Jahr haben Sie auf Ihren Bonus verzichtet. Werden Sie das auch dieses Jahr tun, wenn es keinen Gewinn gibt? Immerhin wird es nach einem Verlust von mehr als elf Milliarden Franken im ersten Quartal kaum möglich sein, dieses Jahr in die schwarzen Zahlen zu kommen.
Wenn wir nichts verdienen, gibt es für mich auch keinen Bonus.
Der Aargauer Marcel Rohner übernahm am 6. Juli 2007 von Peter Wuffli den Chefposten der UBS. Zuvor leitete er fünf Jahre lang das Wealth Management der Bank, nachdem er Group Chief Risk Officer und Chef der Kontrolle von Marktrisiken gewesen war. Er ist promovierter Ökonom der Universität Zürich. Der 43-Jährige lebt in Aarau, ist verheiratet und hat zwei Kinder.