Was halten Sie von Investitionen in Sin Stocks, also Aktien von Unternehmen aus Branchen, die schlecht angesehen werden – etwa Zigarettenhersteller, Kohleförderer, Glückspiel-Anbieter oder Cannabisproduzenten?
«Sin»-Aktien würden wir meiden. Die Unternehmen verfügen meist nicht über ein nachhaltiges Geschäftsmodell. Bei der Branchenauswahl sollte man auf Profiteure von langfristigen Megatrends setzen wie beispielsweise Digitalisierung, Urbanisierung, Alterung der Bevölkerung, erneuerbare Energien, Infrastrukturausbau etc. Als Aktionär empfiehlt es sich, langfristig zu denken, denn man beteiligt sich schliesslich an der Entwicklung eines Unternehmens.
Der DAX umfasst seit September 40 statt 30 Unternehmen. Ist der Leitindex der deutschen Börse durch die Aufstockung attraktiver geworden?
Nach dem Imageriss durch den Wirecard-Skandal erfindet man den DAX neu, indem man erfolgreiche MDax Titel hinzunimmt. Ein Blick in die Vergangenheit zeigt die Überperformance der mittelständigen Aktien gegenüber den grossen Unternehmen.
Zudem schenken Investoren diesen aufstrebenden Unternehmen aus interessanten Branchen wie IT (Zalando, Hello Fresh) nun mehr Beachtung. Der vollzogene Feinschliff bei den Aufnahmeregeln im DAX mindert das Investorenrisiko und macht den Index deutlich attraktiver.
Der US-Starinvestor Jeremy Grantham sagt in der Handelszeitung einen baldigen Crash an den Börsen voraus. Was halten Sie von dieser Warnung?
Herr Grantham ist als Mitgründer der amerikanischen Investmentboutique GMO ein ausgewiesener Finanzexperte mit über 50-jähriger Berufserfahrung. Er identifizierte bereits einige Marktübertreibungen, sprach entsprechende Warnungen aus und setzt diese jeweils in seinen Fonds um.
Herr Grantham weist jedoch auch darauf hin, dass seine Kunden zum Teil jahrelang Geduld brauchen, bis sich seine Strategie ausbezahlt. Mit anderen Worten: Die Warnungen vor einem grösseren Börsenrückgang sind aufgrund der zahlreichen Unsicherheiten zwar angebracht, bringen dem Investor jedoch wegen des fehlenden Zeitpunktes nichts. Wir navigieren eher auf kurze Sicht an den Finanzmärkten, da niemand weiss, ob der nächste Börsencrash morgen oder erst in 10 Jahren stattfinden wird. Aufgrund der anhaltenden Geldmengenausweitung der Zentralbanken bleiben die Börsenampeln bis auf Weiteres auf Grün.
Europa droht diesen Winter eine Energiekrise. Wird der Versorgungsengpass mit Gas die Aktien aus diesem Sektor beeinflussen – winken Anlegerinnen hier sogar Chancen?
Während der europäische Aktienmarkt im Rückzug ist (-5%), verteuerten sich die Aktien der Gasproduzenten im Schnitt um 15%. Die Intensivierung der Stromproduktion durch nachhaltige Energieträger und der Streit um Nord Stream 2 sind neben der Abkehr von Kohle und der Wiederaufnahme der europäischen Industrieproduktion zwei der treibenden Faktoren für den Angebotsengpass am Gasmarkt.
Regierungen sind alarmiert und könnten bei einer Zuspitzung in den kühlen Monaten einschreiten. Wir denken, dass die Aktien die brisante Situation bereits widerspiegeln, und raten nicht zum hastigen Aktienkauf.
«Aktien sind mittel- bis langfristig die beste Anlageklasse, es gibt (..) keine Alternative.»
Wechseln wir zum allgemeinen Börsengeschehen: Wie stark beschäftigt die Corona-Krise die Finanzmärkte aktuell?
Die Auswirkungen der Lockdowns wie Lieferkettenprobleme und steigende Rohstoffpreise werden die Finanzmärkte noch einige Zeit beschäftigen. Die Wachstumsdynamik dürfte kurzfristig zwar leiden, der Konjunkturaufschwung wird dadurch jedoch verlängert. Es ist spannend zu sehen, wie stark die Unternehmensergebnisse im dritten Quartal davon betroffen sind.
Im Lauf des Jahres 2021 wurden die Gewinnschätzungen stetig erhöht und boten den Aktienmärkten eine zusätzliche Stütze. Sollte dieser Trend kehren, sind zusätzliche Turbulenzen zu erwarten, da die Bewertungen an den Aktienmärkten äusserst sportlich sind. Trotz dieses kurzfristigen «Lärms» sollte das grosse Bild nicht vergessen werden: Aktien sind mittel- bis langfristig die beste Anlageklasse, es gibt trotz marginalem Zinsanstieg keine Alternative.
Wie wird sich die Schweizer Börse kurzfristig entwickeln?
Mit knapp 20% Jahresperformance wähnte sich der breite Aktienmarkt in hohen Gefilden als besonders sicher. Der Abstand zur wichtigen 200-Tageslinie war im SMI zum Teil bei über 12%, ist aber im Zuge der Zinsängste durch die Inflation dahingeschmolzen.
Im Vorfeld der Berichterstattungssaison dominierte Zurückhaltung über die künftigen Gewinne bei Unternehmen und Analysten. Wir gehen von einer Seitwärtsbewegung im SMI (11'000 - 12'000 Punkte) aus, mit potenziellem Abverkauf bis 11'000 Punkte, was nochmals ein Abschlag von 5% bedeuten würde. Danach sollte die «technische Überverkauftheit» wieder Schnäppchenjäger auf den Plan rufen.
Wo steht der SMI in zwölf Monaten?
Wir sehen den SMI in zwölf Monaten 5-10% höher als heute. Die Weltwirtschaft wird auch nächstes Jahr deutlich über ihrem langfristigen Potenzial wachsen. Dies führt dazu, dass auch die Unternehmensergebnisse überproportional zulegen werden.
Konkret wird für die Schweiz in diesem Jahr ein Anstieg der Unternehmensgewinne um 12,6% und im Jahr 2022 von 9,1% erwartet. Steigt der Markt weniger stark – beim SMI liegt die Zunahme aktuell bei +6,8% seit Jahresanfang –, reduziert sich somit automatisch die Bewertung.
Mario Geniale hat die Frage schriftlich beantwortet.