Das Ende einer Ära hätte kaum tragischer sein können. «Ich werde der SGS immer zu Diensten sein und auf jede mögliche Art helfen», ruft Elisabeth Salina Amorini mit belegter Stimme ins Mikrofon. Niemand applaudiert. Applaus der mehr als 200 anwesenden Aktionäre gibt es dagegen, als der Genfer Privatbankier Bénédict Hentsch sagt: «Der Hauptgrund für die chaotische Situation unserer Gesellschaft ist die ungesunde Konzentration der Macht in einer Hand.» Und noch stärkeren Beifall erntet ein gewisser Konrad Fischer, Anwalt aus Zürich und Besitzer von fünf SGS-Aktien. Er bezichtigt Elisabeth Salina Amorini offen der Geschäftslüge und benennt die gesetzlichen Konsequenzen - Geldstrafe oder Gefängnis. «Werden die Genfer Untersuchungsbehörden aktiv werden?»

Dieser 13. Oktober 1998 ist ein einschneidendes Datum in der Geschichte der Société Générale de Surveillance (SGS) und weit darüber hinaus. Neun Jahre regierte die 43jährige Elisabeth Salina Amorini das Genfer Renommierunternehmen mit eiserner Faust (siehe unten, «Chronik eines Niedergangs»). Jetzt steht sie vor den Scherben ihrer Amtszeit. Der Stolz der Romandie ist zu einem Sanierungsfall geworden, das weiss jeder der Aktionäre, der zu dieser Generalversammlung ins «Noga Hilton» nach Genf gekommen ist. Der Aktienkurs ist von 3400 Anfang 1997 auf unter 900 eingebrochen - der grösste Absturz eines Schweizer SMI-Titels in den letzten zwei Jahren. Jetzt droht sogar das Ausscheiden aus dem Index. Analysten verweigern Einschätzungen. Wie konnte es so weit kommen?

1982 tritt Elisabeth Salmanowitz noch unter ihrem Mädchennamen als 26jährige in den Verwaltungsrat ein. Sie sieht, dass der Familie die Macht immer stärker aus der Hand gleitet. Ihr Grossvater Jacques Salmanowitz hat die Firma von 1919 bis 1966 beherrscht. Den Sündenfall aus Familiensicht begeht sein Sohn Grégoire Salmanowitz, Elisabeths Vater: Erst im Alter von Mitte 50 an die Macht gelassen, führt er das Unternehmen beinahe in den Konkurs. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich zu Beginn der siebziger Jahre fremde Aktionäre und fremde Manager ins Haus zu holen. Die SGS verkauft für sieben Millionen Franken zehn Prozent des Unternehmens an die SBG. Konzernchef wird der Franzose Marc André Charguéraud. Er saniert konsequent und nutzt 1981 den Aufschwung zur Börsenkotierung. (Allerdings kontrolliert die Familie über einen komplizierten Pool weiter die Gesellschaft.) Doch ein Hauptproblem lastet weiter auf der SGS: Die Abhängigkeit von den Regierungsverträgen ist zu hoch - sie erzielen schon damals mehr als die Hälfte des Gewinns. Zur Expansion in neue Geschäftsgebiete braucht es jedoch mehr Mittel. Der Verwaltungsrat unter dem früheren SBG-Präsidenten Philippe de Weck strebt deshalb Ende der achtziger Jahre eine Kapitalerhöhung an. Das hätte jedoch eine Schwächung des Familieneinflusses bedeutet. Salina schlägt mit der Absetzung de Wecks und anderer Wirtschaftsgrössen wie dem früheren Nationalbank-Präsidenten Fritz Leutwiler («Ich warne vor dieser Frau») zurück. Das «Terrorregime», wie es ein langjähriger Verwaltungsrat bezeichnet, beginnt.

Salina zieht die Kontrolle geschickt auf. Zunächst gilt es, den Verwaltungsrat mit gewogenen Mitgliedern zu besetzen. Dabei spielt ihr Mann eine zentrale Rolle. Den Grafen Gianluca Salina Amorini hat Elisabeth Salmanowitz nach ihrem Genfer Jurastudium Ende der siebziger Jahre als junge Praktikantin bei dem Londoner Bankiershaus SG Warburg kennengelernt. «Wir haben den Grafen Salina als sehr clever in Erinnerung, und sein sozialer Charme wurde durch die Heirat mit Elisabeth Salmanowitz bestätigt», spottet die Finanzzeitung «Euroweek» über Gianluca Salina Amorini. Die jugendliche Elisabeth, traumatisiert vom Machtverlust des Vaters, scheint bei dem 20 Jahre älteren Adligen aus Bologna Halt zu finden. Er holt seine Freunde, die Ex-Warburgianer John Craven und Peter Spira, in den Verwaltungsrat. Peter Buckley von der Investment-Gesellschaft Caledonia vervollständigt das anglo-schweizerische Who is who. Von der einheimischen Wirtschaft kann Salina den Crossair-Chef Moritz Suter gewinnen, von der SBG ist der Generaldirektor Ulrich Grete dabei.

Die Verwaltungsräte sind gut bezahlt - 100 000 Franken pro Jahr -, und so lange die Geschäfte offensichtlich gut laufen, sehen sie keinen Grund zum Nachfragen. Auch spielt sicher eine Rolle, dass sie eine Frau ist. «Das war das Hauptproblem - das hat sie davor geschützt, dass wir hart gegen sie vorgingen», erinnert sich ein Kenner. Zudem gilt für die Verwaltungsräte ein ungewöhnliches Reglement: Sie dürfen sich nicht direkt mit der Geschäftsleitung austauschen. Jegliche Informationen über den Geschäftsgang müssen sie bei Salina erfragen (woran sich jedoch nicht alle halten).

  • Gewinn eingebrochen: Die Genfer Société Générale de Surveillance (SGS) ist mit einem Jahresumsatz von 3,2 Milliarden Franken und 40 000 Mitarbeitern der grösste Wareninspektor der Welt. Wichtigste Kunden sind Regierungen, deren Handelsgeschäfte die SGS kontrolliert. Nach einem Gewinneinbruch im ersten Halbjahr 1998 von 91 Prozent musste die langjährige Präsidentin Elisabeth Salina Amorini abtreten. Baron August von Finck, mit 10,7 Prozent der Stimmen grösster Einzelaktionär, setzte den Von-Roll-Sanierer Max Amstutz als VR-Präsident durch. Zusammen mit anderen Mitgliedern der Gründerfamilien hält Salina 26,5 Prozent der Stimmen. Über einen Poolvertrag, der bis Ende 2000 läuft und 46 Prozent der Stimmen umfasst, hat sich von Finck an die Gründerfamilien gebunden.

Noch hätte all das gutgehen können, wenn sich Salina auf ihre Rolle als Präsidentin und Delegierte des Verwaltungsrates beschränkt hätte. Als jedoch der Ex-McKinsey-Mann Thierry Chéreau, von ihr 1993 zum operativen Konzernchef bestimmt, eigene Vorstellungen entwickelt, setzt Salina ihn kurzerhand vor die Tür und ernennt sich selbst zur Generaldirektorin. Die Frau, die als Management-Ausbildung lediglich ein kurzes Bankpraktikum vorweisen kann, will den 40 000-Mitarbeiter-Konzern selbst leiten. Die Geschäftsleitung beherrscht sie über ihren Kontakt zum Verwaltungsrat. «Sie hat uns immer signalisiert, dass dort das wahre Machtzentrum sei», sagt ein langjähriger Generaldirektor. Nach den VR-Sitzungen werden die Spartenleiter vor das Kontrollgremium gerufen und müssen Bericht erstatten, immer geführt und kommentierend begleitet von der VR-Präsidentin. Die Bedeutung ihres Mannes nimmt zu. «Häufig haben wir eine Entscheidung getroffen, und am folgenden Tag war wieder alles anders», erinnert sich ein enger Mitarbeiter. «Sie hatte mit ihrem Mann gesprochen.»

Jedoch: Sie ist zwar die allmächtige Herrscherin, doch nicht die operative Chefin. Zwar beeindruckt sie die Aussenwelt mit ihrem unbestreitbaren Charme und ihrer gestochenen Rhetorik, und auf Pressekonferenzen und Analystentreffen präsentiert sie die SGS geradezu brillant. In der Generaldirektion jedoch - sie besteht aus maximal acht Migliedern - teilt sie sich lediglich die Funktionen Kommunikation und Personal zu. Immer wieder betont sie, dass sie nicht CEO, sondern lediglich primus inter pares sei - wohlwissend, dass es ihr an Fachkompetenz und Erfahrung fehlt, um einen globales Grossunternehmen professionell führen zu können. «Meine Mitarbeiter haben mir beigebracht, was die SGS wirklich ist», gibt sie in ihrer Abschiedsrede offen zu.

So funktioniert das von ihr beschworene Kollegialprinzip zwar, jedoch anders, als es nach aussen scheint. In Sachfragen gibt es keine Führung, in Machtfragen wird eisern geherrscht. «Wer sich nicht unterwarf, flog raus», erinnert sich ein Generaldirektor. Mehr als zwanzig Topmanager müssen in den neun Jahren ihrer Amtszeit gehen, davon ein knappes Dutzend Generaldirektoren - in der Schweizer Unternehmenslandschaft wohl einmalig. Nie erholt etwa hat sich die Firma von der Entlassung Oskar Kneubühlers, der in den siebziger und achtziger Jahren das Geschäft mit den Regierungsverträgen zur SGS-Goldmine machte und 1992 nach Widerworten gehen musste. Im September 1997 setzt Salina nach einer Korruptionsaffäre in Pakistan auch den stets loyalen - und heute verbitterten - Generaldirektor und Kneubühler-Nachfolger Hans Fischer vor die Tür. So leben die Generaldirektoren mit der ständigen Angst, von heute auf morgen ihren Job zu verlieren. Mehrmals erwägen sie ein Aufbegehren gegen die allmächtige Chefin. Doch dazu kommt es nicht - schliesslich liegt das Salär zwischen 600 000 und einer Million Franken, und durch die Einmaligkeit des Geschäfts und der klaren Stellung als Weltmarktführer gibt es praktisch keine Möglichkeit, mit gleichem Verdienst und Prestige zu wechseln.

Ende 1995 ist es dann Salina selbst, die bei der Unternehmensberatung Management Praxis St. Gallen eine Studie in Auftrag gibt. Die beiden Berater Jost Hammer und Benoît Ludwig durchleuchten das Grossunternehmen akribisch. Anfang 1996 legen sie ihren 200-Seiten-Bericht vor. Für Salina ist er verheerend. Die frustrierten Mitarbeiter beklagen den Mangel an Strategie, den auch der neue VR-Präsident Max Amstutz bestätigt (siehe «Neue Kultur nötig» auf Seite 44). Sie mahnen die Notwendigkeit der Diversifizierung an - die Regierungsverträge machen noch immer mehr als zwei Drittel des Gewinns aus. Der Hauptsitz in Genf sei überproportional gross. Dazu gibt es Kritik an der Struktur der Geschäftsleitung: Das Kollegialprinzip sei ein Fehler, ein starker CEO müsse her. Die Machtkonzentration in einer Hand sei falsch.

Salina ist tief getroffen. Erst will sie die Berater verklagen - eine häufige Drohung der Juristin -, doch davon sollen sie Freunde abgehalten haben. Dann will sie die Bezahlung verweigern, was die anderen VR-Mitglieder verhindern. Schliesslich besteht sie darauf, dass Verwaltungsrat und Generaldirektion alle Exemplare an sie zurückgeben. Eigentlich hätten spätestens zu diesem Zeitpunkt in beiden Gremien die Alarmglocken schrillen müssen - der Bericht und vor allem die Reaktion der allmächtigen Präsidentin darauf waren mehr als besorgniserregend. Jeder Verantwortliche muss gesehen haben, dass Salinas einziges Ziel der Machterhalt ist.

Dennoch gibt es praktisch keine Gegenwehr, als sie die Firma beinahe offen zu einem Sanierungsfall macht. Ende März 1997 verliert das Unternehmen die beiden mit Abstand wichtigsten Regierungsverträge, jene mit Indonesien und Pakistan. Zwar informiert Salina über den bevorstehenden Gewinneinbruch. Doch wie wichtig die Regierungsverträge wirklich sind, behält sie für sich. Die Schätzungen der Analysten liegen bei einem Gewinnanteil dieses Geschäfts von 40 Prozent. Im ersten Halbjahr 1997 betragen sie jedoch tatsächlich 70 Prozent. Auch der Verwaltungsrat drängt nicht auf eine Offenlegung. Was jedoch noch schwerer wiegt: Trotz des starken Einbruchs bei dem einzigen Geldbringer des Unternehmens tut Salina so, als sei nichts passiert. Im Frühjahr 1997 schlägt sie dem Verwaltungsrat ein umfangreiches Aktienrückkaufprogramm vor. Die hohe Liquidität, seit Jahren ein Problem der SGS, soll reduziert werden. Gleichzeitig wird mit dem Rückkauf auch der Familienanteil wieder grösser. Der Verwaltungsrat stimmt einstimmig zu, im Vertrauen auf die Zahlen des Finanzchefs Paul Lilley, der das Projekt unterstützt. Bis Februar 1998 werden für 468 Millionen Franken Aktien zurückgekauft. Die Liquidität wird praktisch beseitigt.

Als dann im Mai und Juni aufgrund der Asienkrise zahlreiche Regierungen ihre Verträge mit der SGS nicht mehr bezahlen, kommt es bei der Beratung der Halbjahreszahlen Ende Juli zum ersten Mal zur offenen Revolte. Die Generaldirektoren weigern sich, weiter unter Salina zu arbeiten. Sie fordern einen wirklich professionellen CEO und präsentieren mit Tony Czura, dem SGS-Nordamerika-Chef, den einzigen Kandidaten aus ihren Reihen, der von Alter und Ausbildung in Frage kommt. Am 24. Juli ruft Salina in Panik ihre Verwaltungsräte an.

Zum ersten Mal funktioniert ihr Charme nicht mehr. Sogar ihre engsten Mitstreiter setzten sich zur Wehr - die drei englischen Verwaltungsräte Craven, Spira und Buckley. Zu den Abtrünnigen zählen auch der langjährige Pictet-Associé Guy Demole, Crossair-Chef Suter und der Rentenanstalt-Vertreter Andreas Donatsch. Die sechs Verwaltungsräte treffen sich erstmals ohne Salina. Ein neues Reglement, das Salina unter Hochdruck ausarbeitet und das der Delegierten die zentrale Machtposition zuweist, lehnen sie ab. Sie wollen einen wirklichen Neuanfang - Salina muss als Präsidentin zurücktreten, sie selbst verlassen den Verwaltungsrat. Gleichzeitig verpflichten sie sich, mit der Presse nicht über die Vorkommnisse zu reden. Bei Nichtbeachtung droht Salina - ein weiteres Mal - mit Prozessen.

So kommt der Scherbenhaufen am 7. September zum Vorschein. Der neue CEO Czura gibt den Gewinneinbruch von 91 Prozent bekannt. August von Finck, der im Juli seine Stimmenbeteiligung auf acht Prozent erhöht hat und somit neben den Familien der grösste Einzelaktionär ist, bittet den Von-Roll-Sanierer Max Amstutz, das VR-Präsidium zu übernehmen. An der ausserordentlichen Generalversammlung am 13. Oktober wird Amstutz gewählt.

Kurz darauf erscheint ein Interview in der Westschweizer «Illustré». Salina wird als «Frau der Woche» präsentiert und zeigt stolz ihren Sticker «I love SGS». Die Schuld für das Debakel weist sie zurück: «Ich glaube nicht, dass die aktuelle Situation auf schwere Managementfehler zurückgeht.» Dann geht sie in den Urlaub. Ihre bisherigen 40000 Untergebenen sind nur eines: erleichtert.

Partner-Inhalte