Die jährlichen Beurteilungsgespräche gehören für Mitarbeitende und für Führungskräfte nicht selten zu den merkwürdigsten Momenten im Berufsleben. Quasi auf Kommando muss meist Ende des Jahres noch ein vertrauensvolles Gespräch geführt und gleichzeitig ein Bewertungsformular ausgefüllt werden, das im Extremfall über das Sein oder Nichtsein in der Firma entscheidet. 

Seit Jack Welch in den Achtzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bei GE die 20–70–10 Regel etabliert hat (20 Prozent erhalten einen Bonus, 70 Prozent werden gefördert, 10 Prozent gefeuert) werden die Mitarbeitenden in den meisten Unternehmen bewertet, quantifiziert und schubladisiert, was das Zeug hält. Mit dem Resultat, dass das Qualifikationsgespräch im besten Fall zu einem standardisierten Prozess, im schlechtesten Fall zu einem gefürchteten Übel geworden ist, das mehr lähmt als motiviert. 

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Schnee von gestern

Jährlich stattfindende Mitarbeitergespräche sind eine Kommunikationspraxis aus der Zeit, als Top-down die Führungsregel war. Heute sind sie Schnee von gestern. Genauso wie fixierte Ziele oder Cost Revenue Center. Sie alle engen ein, verdrängen unternehmerisches Denken und machen träge. Und vor allem sind sie nicht kompatibel mit den laufenden Veränderungen in der Arbeitswelt und mit den Bedürfnissen der Mitarbeitenden der Generationen Y und Z. Kein Wunder denken immer mehr Firmen in den unterschiedlichsten Branchen darüber nach, die Art und Weise der Zielsetzungen zu verändern. 

Nicht nur darüber nachgedacht, sondern überraschend schnell auch umgesetzt, hat die Zürcher Kantonalbank (ZKB). Nachdem sich die Geschäftsleitung im Herbst 2015 mit der Frage beschäftigt hat, ob die aktuellen Führungs- und Qualifikationsinstrumente den Anforderungen des schnellen Wandels überhaupt noch gerecht werden können, kam sie nicht nur zum Schluss, dass Änderungen dringend notwendig sind, sondern setzte diese innerhalb eines Jahres auch um. «Uns war klar», resümiert Personalchef Marco Beutler, «dass wir uns durch ein Zuviel an Kontrolle unbeweglicher gemacht hatten und dass Handlungsbedarf besteht.» 

Die langjährige Praxis der MbO-Gespräche wurde als Mutter aller Kontrollorgane im Bereich Führung identifiziert, und es war klar, dass diese abgeschafft und durch eine neue Form der Interaktion zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten ersetzt werden mussten. «Jährliche Zielvorgaben setzen voraus, dass man weiss, was in den nächsten zwölf Monaten auf einen zukommt», so Beutler, «dies ist auch in unserem Geschäft schlicht nicht mehr der Fall.»

 

Regelmässiger Austausch

Entgegen dem üblichen Projektvorgehen, mit einem Prototypen in einer kleinen Gruppe zu beginnen, beschloss die Geschäftsleitung im vergangenen Herbst, den alten Zielvereinbarungsprozess per 2017 einfach abzuschaffen. Das Ziel lautete, den kontinuierlichen Dialog ohne einen überadministrierten Prozess wieder ins Zentrum des Führens zu rücken. «Heute tauschen sich Mitarbeitende und Vorgesetzte regelmässig in Kurzsitzungen aus und besprechen, wie sie am effizientesten und effektivsten zum Erfolg ihres Team oder Projekts beitragen können.» 

Häufigere Gespräche zwischen Mitarbeitenden und Vorgesetzten sind nicht nur sinnvoll, weil so alle wissen, wo sie stehen, sondern sie führen auch zu einem wertschätzenden Austausch und zu einer wiederauferstandenen Feedbackkultur. Eine solche verlässt die Welt der Zahlen und starren Ziele, findet in Echtzeit statt und berücksichtigt die weichen Faktoren. Will heissen: Nicht mehr die blosse Zielerreichung steht dabei im Mittelpunkt, sondern der Weg zum Ziel oder die Hürden, die dazu geführt haben, dass das Ziel nicht erreicht werden konnte. Der Führungsgrundsatz lautet nicht mehr Command and Control, sondern Coaching und Vertrauen.

 

Vertrauen statt Kontrolle

Kontrolle abzugeben in einem Umfeld, das durch immer neue Regulative immer eingeengter wird – ist das nicht ein Widerspruch? Nein, denn Compliance und Vertrauen können durchaus Hand in Hand gehen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass eine Vertrauenskultur fairer ist, wenn klare Strukturen vorgegeben sind, an die sich alle halten müssen. 

Vertrauen, Agilität und ein echter Austausch können aber nicht verordnet werden. Armin Trost, Professor für HR Management an der Hochschule Furtwangen, hat sich für sein Buch «Unter den Erwartungen» intensiv damit auseinandergesetzt, warum das jährliche Mitarbeitergespräch in modernen Arbeitswelten versagt (vgl. Nachgefragt). Und er zeigt auch Lösungen dazu auf, wie Organisationen auf das aktuelle Umfeld reagieren können. «Man kann beispielsweise strukturelle Rahmenbedingungen schaffen, die Agilität erlauben. Das bedeutet oftmals, bestehende Regeln abschaffen und dafür Regeln aufstellen, die Eigenverantwortung fordern.»

Auch das Führungsgremium der ZKB ist zu diesem Schluss gekommen. Mit dem Auflösen des MbO-Prozesses ist daher nicht nur ein Instrument abgeschafft, sondern auch ein Kulturwandel eingeläutet worden. Für Marco Beutler ist der Dialog auf Augenhöhe ein zentrales Erfolgselement auf dem Weg zu einer Organisation, die auf die täglichen Herausforderungen flexibel und agil reagieren kann. Und er weiss auch, dass dies gleichzeitig eine der Knacknüsse bei der Umsetzung darstellt, weil sich dadurch das Führungsverständnis verändert. Nach wie vor gibt es Ziele in der Organisation, jedoch werden diese nicht mehr von oben verordnet, sondern in Arbeitsgruppen oder Teams vereinbart. «Zudem wird das Feedback von Kunden und Kollegen wichtiger als Feedback von direkten Vorgesetzten», betont Armin Trost.

 

Gestiegene Zufriedenheit

Die ZKB-Leitung ist sich sehr wohl bewusst, dass im Moment der Weg das Ziel ist. Das Fazit von Marco Beutler nach rund einem Jahr ist aber sehr positiv. «Die Abschaffung des MbO und damit der klassischen Mitarbeiterbeurteilungsgespräche hatte einen positiven Effekt auf die diesjährige Erhebung der Mitarbeiterzufriedenheit. Diese fiel sehr gut aus.» Interessant sei es auch zu sehen, so Beutler, dass der Entscheid zur Abschaffung der Mitarbeiterbeurteilungsgespräche zu einem Veränderungsmultiplikator geworden sei. Die agile Organisation, davon ist er nach diesem Jahr noch mehr überzeugt, entsteht nur, wenn sie generisch wachsen und gelebt werden kann. «Kaum hatten wir den Entscheid gefällt, begannen gewisse Abteilungen mit Scrum-Methoden zu arbeiten, sie führten User Communities ein und nutzten die neuen Gestaltungsspielräume produktiv.»

Selbstverständlich gab und gebe es nach wie vor kritische Stimmen. «Anfänglich ist auch eine Art Vakuum entstanden, das wir füllen mussten; einige Mitarbeitende und Führungskräfte waren konsterniert, ihnen fehlte ein liebgewonnenes Orientierungsinstrument.» Lange habe diese Phase aber nicht angehalten. Einen der Gründe dafür ortet Marco Beutler in der Tatsache, dass die ZKB schon länger sehr transparent über die Gesamtstrategie informiere und dass diese den Mitarbeitenden und Vorgesetzten Orientierung und Struktur biete. «Unsere Mitarbeiter wissen, was es zu leisten gilt, damit das Unternehmen vorankommt.»