Jeden Morgen steht er um fünf Uhr auf, im Winter schippt er erst mal Schnee, auch bei seinem Nachbarn, der das mit seinen 70 Jahren nicht mehr selbst kann. Um Punkt sieben ist er an seinem Platz in der New Yorker Börse und liest die Wirtschaftsnachrichten, um auf dem Laufenden zu sein, wenn der Handel losgeht. «Die Börse ist mein Leben», erklärt der 97-jährige Michael Pascuma. Nun ist es nicht mehr das Sparen fürs Alter, das ihn zur Arbeit motiviert. «Nein, heute ist es nur noch der Spass, die Spannung.»

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Pascuma hat in seinem langen Leben viel gesehen. Er war am Schwarzen Freitag im Jahr 1929 auf dem Parkett, am D-Day 1944 kämpfte er an den Stränden der Normandie, im Alter von 65 Jahren ging er mit seiner Firma Bankrott und begann noch mal von vorne. Er hat die Internetrevolution erlebt und das Aufkommen der grossen Fondsgesellschaften. Was Michael Pascuma in all den Jahren allerdings am tiefsten getroffen hat, ist, dass er seinen eigenen Sohn überlebte. Michael Pascuma jr. kam am 11. September 2001 ums Leben.

Michael Pascuma sr. hat kaum angefangen zu erzählen, als ihn auch schon die grösste Tragödie seines fast 100-jährigen Lebens einholt. «Mein Sohn frühstückte gerade im südlichen Turm des World Trade Center. Wie jeden Tag. Er hat es nicht mehr bis nach unten geschafft, bevor Flug Nummer zwei kam», sagt er und wird still, der Blick geht ins Leere.

Einen Augenblick später hat er sich wieder gefangen und versucht, einen Überblick über dieses Leben zu geben, das mehrere Kapitel Weltgeschichte umfasst, inklusive der fast 80 Jahre an der grössten Börse der Welt.

«Ich will keinen Namen nennen, aber die beste Aktie, auf die ich gesetzt habe, kostete mich 3 Dollar das Stück, und zu 45 Dollar habe ich sie abgestossen. Ich war sicher, dass sie sich gut entwickeln würde, und habe auch für meine Kinder, Enkel und Freunde investiert. Das hat viele meiner Lieben ein Leben lang wirtschaftlich abgesichert.» Michael Pascuma grinst schelmisch.

Humor muss man wohl haben in seiner Branche, sonst geht man schnell unter. So wie viele um den jungen Pascuma herum beim grossen Krach von 1929. Damals arbeitete Michael schon seit zwei Jahren an der Wall Street. Als Laufbursche hat ihn der Niedergang nicht sonderlich hart getroffen, wenn auch die darauffolgenden zehn Jahre alles andere als gemütlich waren.

«Damals sah das System noch so aus, dass jeder, der bei einer Firma ein Portfolio hatte und ein paar eigene Aktien besass, Papiere auf Pump kaufen konnte, ohne Deckung. Das Wichtigste war, dass man am Ende eines Tages nicht auf einer Aktie sitzen blieb», erklärt Pascuma. «Solange man entweder ausgeglichen oder im Plus war, konnte man nach Hause gehen und ruhig schlafen. Wer die Papiere nicht ordentlich loswurde, musste trotzdem zwei Tage später das Geld auf den Tisch legen. Nach dem Crash sahen natürlich viele keine Möglichkeit mehr zu bezahlen und sind einfach aus dem Fenster gesprungen. Schlimme Zeiten waren das.»

An seinem halb geöffneten Börsenjackett trägt er verschiedene Anstecker, auf einem steht «Western Silver Corporation», ein anderer stellt ein Herz aus Gold dar. Unter dem Jackett lugt eine graue Opa-Strickjacke hervor, der Schlips ist braun gestreift. Man wundert sich, wie er in einer Branche mit extremem Leistungsdruck und maximaler Stressbelastung dieses Alter hat erreichen können.

«Ich werde niemals aufhören zu tun, was ich tue», sagt Pascuma und läuft zu einem Computermonitor, der in einer ruhigen Ecke ausserhalb des eigentlichen Handelsraums steht, um sich über die neuesten Kurse zu informieren. Das Ticken, die Rufe, die Geräusche rennender Menschen dringen nur gedämpft hierher.

«Hier tippst du ein, dann drückst du da drauf, und dort liest du ab. Einfach und gut.» Die Technologie scheint kein Problem für ihn zu sein.

Er schlägt einen kleinen Rundgang vor, und schon nach wenigen Metern durch den Handelsraum wird überdeutlich, dass er mindestens eine Generation älter ist als die meisten anderen hier. Junge Männer und Frauen hasten vorbei und grüssen fröhlich: «Hallo Grossvater.» Oder: «Halt die Ohren steif, Opa.» Scherzend, aber respektvoll. Eine attraktive Blondine bleibt stehen und umarmt den 97-Jährigen. Sie könnte seine Urenkelin sein. «Er ist der Beste. Und ein fantastischer Tänzer», sagt sie und verschwindet in der Menge. Michael Pascuma bleibt mit einem breiten Grinsen im Gesicht zurück. Man ahnt, warum es ihm nicht schwer fällt, noch immer jeden Morgen aufzustehen und zur Arbeit zu gehen.

Seine Geschichte ist die des American Dream. Seine Familie kam mit einer Einwanderungswelle aus Florenz nach New York. Er schlug sich zunächst als Schuster, dann als Immobilienmakler durch. An den Job als Laufbursche an der Börse kam er über das «italienische Netzwerk» heran. Und begann dann, sich langsam nach oben zu kämpfen. 1936 schliesslich wurde er als Mitglied der Börse aufgenommen, aber die Zeiten waren noch immer hart. Er arbeitete für 25 Dollar in der Woche, gerade genug, um davon zu leben.
«Die Börse ist entweder ein Fest oder ein Fiasko», sagt er. «So war das schon immer.» Dann kramt er in seinen Taschen und zieht einen Stapel Papier hervor. Manche Blätter sind schon vergilbt, andere zerknittert, handgeschriebene Notizen. Durch die grossen Gläser seiner Brille starrt er darauf und blättert, sucht, findet.

«Hier: 19. Juli 2002. Das war der hektischste Tag, den ich je erlebt habe. Wir hatten einen Umsatzrekord. Nicht eine Sekunde Stillstand.» Sein kleiner, unstrukturierter Papierhaufen ist eine Art Finanzlexikon, eine Geschichte der Auf- und Abschwünge an der Wall Street in den vergangenen Jahrzehnten. Alles in der Jacketttasche dieses alten Mannes.

1943 wurde Pascuma, damals 34 Jahre alt, zur militärischen Grundausbildung nach South Carolina geschickt. Im Jahr darauf kam der Marschbefehl. Er musste nach Europa, wo er für Vaterland und Freiheit kämpfen sollte. Am 6. Juni 1944 landete er in Frankreich. Er lehnt sich zurück, erinnert sich, spricht langsam. Dann richtet er sich wieder auf, kramt eine Anekdote hervor: «Normalerweise sollte die Luftartillerie den Feind bombardieren, damit die Infanterie vorrücken kann. An dem Tag lief aber irgendwas falsch, und ich, der gemeine Soldat Pascuma, stand plötzlich mitten im Bombenhagel. Bomben von unseren eigenen Leuten.» Er schüttelt den Kopf, scheint noch immer irgendwo in Frankreich zu sein. «Sechs Tage lag ich bewusstlos im Lazarett. Zum Glück bin ich noch am Leben.»

Nach seiner Genesung ging er zurück in die Vereinigten Staaten und wieder an die Börse, die in den Nachkriegsjahren langsam Fahrt aufnahm. Besonders gut lief es für ihn in den sechziger Jahren. Michael arbeitete für die Firma Heller & Levinson. Nach Levinsons Tod in der Zeit der grossen Depression der dreissiger Jahre war Heller alleiniger Chef geworden. Und der förderte ihn und liess ihn aufsteigen. «Das waren gute Zeiten», sagt Pascuma. «Aber wie gesagt: Auf das Fest folgt das Fiasko.»

Anfang der siebziger Jahre holte Heller zwei weitere Partner an Bord. «Aber dann lief es auf einmal nicht mehr gut für uns. Wir verdienten nicht, verloren sogar. Und als Heller 1973 starb, wollten die beiden Partner raus. Ich war 64 Jahre alt und habe sie einfach ausbezahlt, 100 000 Dollar für jeden. Danach war ich völlig pleite. In einem Alter, in dem andere in Rente gehen, stand ich mit leeren Händen da. Aber ich hatte noch meine Klienten und war fest entschlossen, im Geschäft zu bleiben. Es lief dann auch wieder besser, ich arbeitete sehr hart und kam zurück.»

In die wilden Börsenjahre der Achtziger ging er mit soliden Überschüssen. Die Zeit der Yuppies war für ihn nur eine historische Parenthese. «Diese Youngsters dachten, das würde immer so weitergehen, immer steil nach oben.» Er grinst. «Ich selbst habe nichts verloren, weder beim Krach von 1987 noch beim Platzen der Dotcom-Blase.»

Seinen Sohn, Michael Pascuma jr., nahm er zum ersten Mal 1975 mit an die Wall Street. Und zwar indem er ihm einfach einen Platz auf dem Parkett kaufte. Der kostete damals 30 000 Dollar.

«Mein Sohn half mir mit allem, er war ein Segen, in jeder Hinsicht», seufzt der alte Mann. Er sinkt etwas in sich zusammen, erinnert sich wieder an den Verlust. Der Sohn hinterliess eine Frau und drei Kinder.

Mit einem Besuch an der Gedenktafel für Mitarbeiter und Mitglieder der Börse, die den Anschlägen vom 11. September 2001 zum Opfer gefallen sind, endet der Rundgang mit dem Grossvater durch die American Stock Exchange. Nach einer stillen Minute unter der Plakette mit dem Namen seines Sohnes verabschiedet sich Pascuma und geht zurück in den Handelsraum, zurück ins hektische Börsenleben. Dann dreht er sich noch einmal um und ruft: «Kommen Sie 2009 wieder, dann werde ich hundert!»