Michael Ruettgers ist kein Mann der subtilen Gesten. An seinem ersten Arbeitstag betrat er frühmorgens das Sitzungszimmer, unter dem Arm einen Stapel Spucktüten aus dem Flugzeug. Die Beutel verteilte er auf dem Konferenztisch, vor jeden Stuhl einen. Als seine neuen Kollegen Platz genommen hatten, hielt er eine der braunen Papiertaschen hoch. «Die Qualität unserer Produkte ist zum Kotzen», bekamen die Mitarbeiter statt einer Begrüssung zu hören.
Mit ähnlicher Entschlossenheit hat Ruettgers das Unternehmen EMC zu einem der erfolgreichsten Akteure der New Economy gemacht. Mit 6,7 Milliarden Dollar Umsatz ist EMC der weltgrösste Hersteller von Speichersystemen – jenen kleiderschrankgrossen Hightechgeräten, auf denen Grossunternehmen ihre Kunden- und Unternehmensdaten ablegen. Von aussen betrachtet, mag dieser Markt nicht sehr sexy aussehen.
Doch weil die Unternehmen immer grössere Datenbanken aufbauen, um die Konsumgewohnheiten ihrer Kunden zu erforschen, und weil auch der Internetauftritt immer mehr Informationen erfordert, gilt der Markt als Zukunftsbranche par excellence. Und jetzt gibt EMC noch einmal zusätzlich Gas: In den nächsten zwei Jahren soll der Umsatz auf 12 Milliarden Dollar knapp verdoppelt werden. «Ausserhalb der Industrie sind wir vielleicht nicht sehr bekannt», sagt Ruettgers. «Aber in der IT-Branche sind wir ein sehr respektiertes Unternehmen.» So zählt die Investmentbank Merrill Lynch EMC zu den «vier Musketieren des Internets», zusammen mit dem Serverhersteller Sun, dem Routerkönig Cisco und dem Datenbankspezialisten Oracle.
Die Anleger wissen das schon länger. Der Aktienkurs von EMC ist in den Neunzigerjahren um wahnwitzige 82 000 Prozent gestiegen – das ist das höchste Wachstum, das je ein Unternehmen in einem Jahrzehnt an einer Börse erzielt hat. Auch die Langzeit-Highflyer wie Dell, Microsoft oder Cisco können da nicht mithalten.
Dabei schrieb EMC 1988, als Ruettgers als Chef des Kundendienstes anheuerte, gerade einmal 200 Millionen Dollar Umsatz. Schon damals verkaufte das 1979 gegründete Unternehmen Speicherlösungen, so genannte Storage-Systeme, für Minicomputer. Doch EMC befand sich in einer schweren Krise. Der Grund waren fehlerhafte Festplatten, welche die Speichersysteme abstürzen liessen. Schlimmer noch, die genaue Fehlerursache liess sich nicht eruieren. «Technisch waren wir bankrott», erinnert sich Ruettgers heute. Der Spucktütenverteiler verbrachte seine ersten Arbeitswochen damit, quer durch das Land zu reisen und die aufgebrachten Kunden zu beruhigen, indem er die defekten EMC-Systeme kostenlos gegen Konkurrenzprodukte austauschte. Parallel führte er strikte Qualitätskontrollen ein. Während fünf Quartalen musste EMC massive Verluste hinnehmen. Damit das Unternehmen überlebte, verzichtete das Management auf 20 Prozent seines Gehaltes.
Aus der Krise ging EMC gestählt hervor. Und Ruettgers, der zuvor beim Waffenhersteller Raytheon das Raketenabwehrsystem Patriot mitentwickelt hatte, war der neue starke Mann. Als solcher liess er seinem Unternehmen keine Atempause. 1990 erkannte er ein brachliegendes Marktpotenzial bei Speichersystemen für Grossrechner. Doch das bedeutete, in diesem Bereich gegen den grössten Computerhersteller der Welt, IBM, antreten zu müssen. Ein äusserst gewagtes Spiel: nicht nur, dass IBM über unendlich mehr Ressourcen verfügte als der kleine Herausforderer aus Hopkinton bei Boston. Um die Neuentwicklung überhaupt finanzieren zu können, musste Ruettgers neun komplette Produktlinien, die zusammen 80 Prozent des EMC-Umsatzes ausmachten, einstellen – gegen den erbitterten Widerstand des Topmanagements. Doch die tollkühne Rechnung ging auf: So schnell liefen die IBM-Kunden zu EMC über, dass nicht einmal eine Delle in der Absatzkurve blieb. Drei Jahre später hatte EMC den grössten Computerhersteller der Welt im Speichermarkt überholt und den Gewinn verdreifacht.
Doch kaum hatte er das Unternehmen auf Erfolg getrimmt, setzte Ruettgers schon wieder alles auf eine Karte. Er hatte eine neue Marktlücke entdeckt: Systemunabhängig sollten die Speicher sein und damit jedes Betriebssystem und jeden Computer unterstützen, egal welcher Art und Grösse. Wieder protestierte das Management, wieder vergebens. Zehn Monate später liefen die ersten Produkte vom Band. Doch die Verkäufe blieben enttäuschend. Eines Nachts liess Ruettgers die kleiderschrankgrossen Geräte in die Büros der Verkaufsmanager stellen. Wer zu seinem Schreibtisch wollte, musste über sie hinüberklettern. Auf der Rückseite der Geräte fand sich eine Notiz von Ruettgers, wonach die Boxen so lange stehen blieben, bis die Umsatzziele erreicht seien. Das wirkte: Nach zwei Monaten waren die Verkäufe auf Kurs, die Geräte wurden abtransportiert. «Manchmal braucht es dramatische Gesten, um den Leuten klarzumachen, dass man es ernst meint», begründet Ruettgers seine Methoden.
Heute ist die Kompatibilität mit den verschiedensten Computersystemen der grosse Pluspunkt der EMC-Systeme. Im vergangenen Jahrzehnt wuchs das Unternehmen pro Jahr um durchschnittlich 95 Prozent. Durch zahlreiche Übernahmen hat EMC seine Position als Nummer eins der Branche gefestigt. Zuletzt zahlte man 1,1 Milliarden Dollar für den Konkurrenten Data General, um damit auch nach unten in den Markt der mittelgrossen Storage-Systeme vorstossen zu können. Heute beschäftigt EMC 17700 Mitarbeiter. Die Kundenliste liesst sich wie das Who is who der Wirtschaft: 72 Prozent der «Fortune»-500-Unternehmen haben in der Kleinstadt Hopkinton eingekauft, alle der zwanzig weltweit grössten Telekomunternehmen, 95 Prozent aller Airlines. In der Schweiz zählen die Nationalbank, UBS, Swisscom, Diax, Orange, Rolex und Migros zu den Kunden. Länderchef Andreas Knöpfli erwirtschaftete mit seinen 100 Mitarbeitern letztes Jahr 69 Millionen Franken Umsatz, Tendenz stark steigend.
Dabei erlebt die Branche seit Jahren einen zunehmenden Preiszerfall (siehe «Immer mehr, immer billiger» auf Seite 66). «Firmen wie Amazon.com können heute nur deshalb so viele Informationen über die Kaufgewohnheiten ihrer Kunden speichern, weil Storage so billig geworden ist», sagt Ruettgers. Und dieser Trend wird weitergehen. Dennoch erfreut sich EMC nach wie vor dicker Margen. Bei 6,7 Milliarden Dollar Umsatz beträgt der Reingewinn über eine Milliarde Dollar. Der Grund: In seine Systeme baut EMC viele Standardkomponenten ein, kann den Preisdruck also an die Hersteller weitergeben. Die Wertschöpfung kommt grösstenteils aus der Software. Dort investiert EMC in den nächsten beiden Jahren knapp zwei Milliarden Dollar. Würde die Sparte verselbstständigt, wäre sie das achtgrösste Softwarehaus der Welt. CEO Ruettgers brüstet sich damit, auf der Softwareseite fünf Jahre Vorsprung auf die Konkurrenz zu haben. Selbst wenn davon nur die Hälfte wahr ist, wäre das in der schnelllebigen Hightechwelt immer noch eine halbe Ewigkeit.
Auch in Zukunft wird der Storage-Markt stark wachsen. Immer mehr hängt die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens davon ab, grosse Datenmengen sicher zu speichern und jederzeit schnell auf sie zugreifen zu können. Nun drängen die Grossunternehmen aus der Old Economy mit ihren weitläufigen Computersystemen ins Netz. Sie verdoppeln ihren Speicherbedarf jedes Jahr. Noch grösser ist das Wachstum bei den Internet-Start-ups: Faktor acht bis zehn pro Jahr ist hier üblich. Allein Yahoo verschlingt das Speichervolumen einer 800000-bändigen Bibliothek – jeden Tag aufs Neue. Um diesen äusserst lukrativen Markt zu attackieren, hat EMC zusammen mit Cisco und Oracle gerade eine Kooperation vereinbart, um den Dot.coms komplett integrierte Systeme quasi von der Stange anbieten zu können. Und künftige Breitbandanwendungen wie Video on demand werden die Datenflut weiter ansteigen lassen: Bereits heute wird in der IT mehr Geld für Speichersysteme als für Server ausgegeben.
In drei Jahren, rechnet das Marktforschungsinstitut IDC vor, dürften Storage-Lösungen bis zu 80 Prozent des Hardwarebudgets ausmachen. Um das Wachstum verdauen zu können, muss EMC allein dieses Jahr rund 4000 neue Leute rekrutieren. Diese begehrten Fachleute zu finden und dann auch noch so zu integrieren, dass die Firma nichts von ihrem Schwung verliert, nennt Ruettgers «die grösste Herausforderung». Sie zu meistern, wird die Aufgabe von COO Joseph Tucci sein. Er leitet seit Anfang Jahr das Tagesgeschäft; Ruettgers beschränkt sich seither auf die strategische Ausrichtung des Konzerns.
Vom 50-Milliarden-Markt möchten sich auch andere Anbieter ein Stückchen abschneiden. Hauptkonkurrent IBM hat gerade 400 Millionen Dollar allein in den Ausbau seiner Verkaufsmannschaft investiert. Von unten her drängen die Computerhersteller Dell und Compaq in den Markt. Ihr grosser Vorteil: Sie können die Speicherlösungen gleich im Paket mit Windows-NT-Servern verkaufen – jene Maschinen, auf denen immer mehr kleinere und mittlere Unternehmenswerke laufen und bei denen beide Anbieter eine starke Marktstellung haben. Dass ihre Preise dabei zum Teil deutlich unter denen von EMC liegen, macht Ruettgers keine Angst: «Grossunternehmen haben heterogene Computernetzwerke mit verschiedenen Betriebssystemen. Wir sind die Einzigen, die das alles unter einen Hut bringen.»
Zwar verlor beim jüngsten Crash der Hightechaktien auch EMC an Wert. Doch gegenüber anderen New-Economy-Titeln kam das Unternehmen relativ ungeschoren davon: Die Börsenkapitalisierung beträgt immer noch stolze 132 Milliarden Dollar, das ist mehr, als der Chemieriese Roche wert ist. Und wenn sich die Investoren von den verlustträchtigen und überbewerteten Dot.coms abwenden, dürfte die hochprofitable EMC davon besonders profitieren. «Es ist wie beim Goldrausch vor 150 Jahren in Kalifornien», sagt Ruettgers. «Manche Goldgräber wurden reich. Aber am meisten Geld machten die Händler, welche die Ausrüstung zur Verfügung stellen: Jeans, Siebe, Schaufeln und Pickel. EMC verkauft heute die Schaufeln und Pickel.»