Bilanz: Die Reaktion auf die jüngste ABB-Reorganisation war positiv. Sie hätten dem Konzern Ihren Stempel aufgedrückt. Brauchten Sie einen persönlichen Erfolg?
Göran Lindahl: Nein, das war nicht das Motiv. In den letzten achtzehn Monaten haben wir drei strategische Initiativen ergriffen. Die erste betraf die Bereinigung des Portfolios; 1997 verkauften wir unser Grosshandelsgeschäft und einige Kabelaktivitäten, weil sie nicht zu unseren Kernkompetenzen passten. Die zweite Initiative wurde durch die Asienkrise ausgelöst. Wir haben den Konzern neu positioniert, um ihn auf die veränderten Umweltbedingungen auszurichten. Der dritte Schritt ist nun die Reorganisation, mit der wir uns an die Bedingungen der Globalisierung anpassen.
Der Rhythmus der Veränderungen ist sehr hoch. Ist das nur Aktionismus?
Nein, da habe ich keine Bedenken. Sie müssen das in einer historischen Dimension sehen. Es geht ja nicht einfach um beliebige Veränderungen, sondern um eine evolutionäre Entwicklung. Als ABB 1988 gegründet wurde, hatten wir eine nationale Ausrichtung. Damals sassen die Länderchefs der wichtigsten Märkte in der Konzernleitung. Anfang der neunziger Jahre sahen wir, dass die EU Realität wurde. In Nordamerika bildete sich die Nafta, und in Asien entstand ein dritter Handelsblock. 1993 reagierten wir darauf mit einer neuen Regionalstruktur. Die Länderchefs in der Konzernleitung wurden durch Regionenchefs für Europa, Nord- und Südamerika sowie Asien ersetzt. Heute gehen wir von einem globalisierten Umfeld aus. Deshalb sitzen in der neuen Konzernleitung neben mir die Spartenleiter und der Finanzchef.
Wie sichern Sie sich die Unterstützung des Managements angesichts des enormen Veränderungstempos bei ABB?
Neben den drei strategischen Initiativen habe ich mit meinem Team einen neuen Management-Prozess entwickelt. Neu ist der offene Dialog mit mehreren Leuten. Im Fall der jüngsten Reorganisation versammelte ich seit dem vergangenen November dreimal ABB-Topmanager, etwa 70 Leute, und diskutierte mit ihnen, wie wir unsere Präsenz an den Märkten verbessern können.
Hatten Sie die Lösung schon parat?
Ich hatte eine Idee, wohin es gehen könnte, aber wir entwickelten die Sache gemeinsam. Anfangs machten wir Marktanalysen und bestimmten unsere Stärken und Schwächen in der bisherigen Organisation. Daraus ergaben sich mehrere Optionen, die wir bis Mai in verschiedenen Workshops offen diskutierten. Dann führte ich im Topmanagement eine anonyme Umfrage mit vierzig Fragen durch. 90 Prozent der Leute stimmten der heutigen Lösung zu. Es war eine ganz natürliche Entwicklung.
Das muss ja zugegangen sein wie in einer eidgenössischen Vernehmlassung.
Warum nicht? Zur Hälfte sind wir ja ein Schweizer Unternehmen (schmunzelt). Im Ernst, mir ist wichtig, meine Mitarbeiter zu begeistern und ihre Unterstützung zu gewinnen. Sie können heute ein Unternehmen nicht mehr mit Befehlen vom Chefsessel aus führen. Wenn Sie ein Problem lösen wollen, müssen Sie sicherstellen, dass Ihre Lösung auch verstanden und mitgetragen wird. Deshalb müssen Sie die Mitarbeiter einbeziehen. Manche Leute glauben, dass sie die Welt allein verändern können, ich nicht. Natürlich braucht es einen General, aber er muss ab und zu auch zurückschauen, um sicher zu sein, dass ihm die Truppe folgt.
Die Matrixorganisation der ABB galt als Percy Barneviks Glanzleistung. Haben Sie die breite Vernehmlassung nicht auch gemacht, weil Sie beim Schlachten dieser heiligen Kuh auf Nummer Sicher gehen wollten?
Die Matrix wird gar nicht abgeschafft, nur verfeinert. Nicht zum ersten Mal übrigens. Percy Barnevik selbst hatte die Organisation bereits 1993 stark verändert. Seither haben wir weitere Managementkonzepte entwickelt und eingesetzt, zum Beispiel die globale Betreuung von Grosskunden. Und wir haben Geschäfte zusammengeführt, um die kritische Masse zu erreichen. Das ist eine wenig dramatische Evolution, in der wir jetzt den nächsten Schritt tun.
Sie haben die Regionalorganisationen abgeschafft. Könnten Sie sich vorstellen, auf die Ländergesellschaften zu verzichten?
Nein, denn die Kunden sind immer lokal. Man kann nicht alle Märkte der Welt von einem Punkt aus bearbeiten, es braucht starke Organisationen vor Ort.
ABB gilt als globales Unternehmen. Nach der Umbesetzung besteht die Konzernleitung nur noch aus vier Schweden, drei Schweizern und einem Norweger. Wie passt das zum Image des Global players?
Ich verstehe Ihren Einwand und respektiere ihn. Aber wir wollen die besten Leute nehmen, die wir haben. Ich hätte den Ersatz der scheidenden Konzernleitungsmitglieder nach Nationalitäten bestimmen können. Nur wäre das angesichts der unbestrittenen Erfahrung der jetzt ernannten Segmentchefs nicht sinnvoll gewesen.
Vielleicht kommen Sie ja einfach besser mit Schweden zurecht?
Im Gegenteil. Ich bevorzuge eher den Kontakt zu Nichtschweden. Die Schweden sind natürlich gute Leute (lacht verschmitzt) - dies gilt auch für Schweizer, Deutsche usw. Aber es wäre einseitig, nur eine Sicht der Dinge zu berücksichtigen. Ich kenne meine Landsleute sehr gut, und wir haben einige hervorragende Schweden im Konzern. Doch wir brauchen in der Konzernleitung eine Mischung vieler Nationalitäten. Heute sitzen, als Folge unserer Firmengeschichte, noch viele Schweden und Schweizer im Topmanagement. Aber unser Nachwuchs ist schon viel gemischter, nur ist er noch nicht bereit für die Spitzenposten.
Alexis Fries hat als einziger Regionenchef überlebt und leitet neu das Kraftwerksgeschäft. Seine Leistungen scheinen Sie zu überzeugen.
Oh ja. Aber lassen Sie mich etwas klarstellen: Europa-Chef Eberhard von Koerber hat mit 60 die ABB-Altersgrenze erreicht. Amerika-Chef Howard Pierce ist 57 und wollte in den USA bleiben. Er übernimmt dort neue Aufgaben. Beim 43jährigen Alexis Fries war schon länger klar, dass der Posten des Asienchefs eine Zwischenstation war und er einmal in die Zentrale zurückkehren würde.
Sie haben auch die Sparte Strom-übertragung und -verteilung sowie die Industriesparte neu aufgeteilt. Der bisherige Kraftwerkschef Armin Meyer übernimmt eines der drei neuen Industriesegmente. Warum dieser Wechsel?
Ich brauchte jemanden mit Erfahrung im komplexen, hochprofitablen Industriegeschäft. Armin Meyer arbeitete vor seinen 8 Jahren im Kraftwerksbau 15 Jahre in verschiedenen Bereichen der Industriesparte. Er ist der richtige Mann für den Job.
War Meyer als Kraftwerkschef zuwenig erfolgreich?
Im Gegenteil. In der Power Generation musste er eine grosse Restrukturierung durchsetzen, um den Turnaround in Angriff zu nehmen. Er hat ihn erreicht, die Erträge des Halbjahres 1998 sind bereits so hoch wie die des ganzen Vorjahrs. Nun setzen wir mit Alexis Fries einen Mann an die Spitze des Kraftwerksgeschäfts, der die Bedingungen unserer Kunden schon sehr gut kennt.
Was bezwecken Sie mit der Aufteilung des Geschäfts in sieben Segmente?
Ich wollte die Aktivitäten des Konzerns fokussieren und ihnen klarere Profile geben. ABB wird gemeinhin als Kraftwerksbauer gesehen, was nur bedingt stimmt. Wir sind als Technologiekonzern breiter abgestützt. Wenn ich das Öl-, Gas- und Petrochemiegeschäft ausgliedere, sehen die Leute, dass wir auch auf diesem Gebiet gross sind. Zudem gebe ich ein Signal nach innen, weil wir uns besser mit den Konkurrenten vergleichen können. Wer weiss denn, dass wir in der industriellen Automatisierung bereits zu den grössten Anbietern gehören? Heute sind wir transparenter und fokussierter.
Wo sehen Sie das höchste Wachstum?
In der Stromverteilung, im Öl-, Gas- und Petrochemiegeschäft, dann in der Automatisierung - und bei den Finanzdienstleistungen. Im Vergleich zu GE Capital sind wir klein, aber wir können mit unseren 900 Mitarbeitern bei den Finanzdienstleistungen noch sehr viel mehr erreichen.
Ist die Aufgliederung des Konzerns eine Vorbereitung für künftige Spin-offs?
Wir haben derzeit keine konkreten Pläne für einen Spin-off. Das war kein Motiv der Restrukturierung. Wir wollten vielmehr unsere Wachstumsfelder besser zeigen.
Jetzt haben Sie ein Portfolio von Segmenten, das Sie bewirtschaften können.
Bei Portfolio denken viele an einen Fondsmanager, der nur noch über Zahlen führt. Deshalb spreche ich bei dem, was wir jetzt geschaffen haben, nicht gern von einem Portfolio. Der Unterschied ist vielleicht der, dass wir uns mit unseren Segmenten täglich sehr aktiv beschäftigen, während ein Portfolio-Manager Beteiligungen kauft und dann von aussen verfolgt, wie sie sich finanziell entwickeln. Wir operieren als Industrielle.
Sie planen keinen Spin-off. Da denkt Martin Ebner, einer der einflussreichsten ABB-Aktionäre, anders. Er hat sich für den Verkauf des margenschwachen Kraftwerksgeschäfts ausgesprochen.
Wie mit andern Grossaktionären habe ich auch mit Martin Ebner schon mehrmals Gespräche über den Gang unserer Geschäfte geführt. Aber ich habe ihn nie so konkret von einem Verkauf sprechen hören. Einige seiner Äusserungen mögen so verstanden und publiziert worden sein.
Wäre der Verkauf dieses Herzstücks von ABB für Sie überhaupt denkbar?
Theoretisch ist alles denkbar. Aber in der Realität sehe ich kaum einen möglichen Käufer. In Europa gibt es heute noch drei grosse Konkurrenten, Siemens, Alstom und ABB. Am Geld für eine Übernahme fehlt es nicht. Doch angesichts ihrer Marktanteile würde es Brüssel keinem erlauben, einen andern zu übernehmen. In den USA ist die Situation für den einzigen Konkurrenten von General Electric, Siemens-Westinghouse, die gleiche. Bleibt noch Mitsubishi. Ich habe allerdings noch keine bedeutende japanische Firma gesehen, die ein europäisches Grossunternehmen übernommen hat.
Im Kraftwerksgeschäft herrscht ein harter Wettbewerb. Wie geht’s weiter?
Je transparenter die Unternehmen für die Investoren sind, je mehr die Aktionäre auf eine hohe Eigenkapitalrendite drängen, desto stärker werden die Anbieter gezwungen, ihre Preise aufgrund effektiver Kosten und realistischer Margen zu setzen. Das zeichnet sich am Markt bereits ab.
Die Kennzahlen von GE liefern der Branche seit Jahren eine Messlatte, die niemand erreicht. Wird ABB GE je einholen?
Dass GE die Messlatte legt, gilt nur für einige Bereiche. Im übrigen sollte man nicht vergessen, dass fast die Hälfte des Geschäfts von GE und ein Grossteil der Erträge auf die hochmargigen Finanzdienstleistungen von GE Capital entfällt.
Will ABB deshalb die Finanzdienstleistungen ausbauen?
Natürlich. Wir unternehmen alles, um unseren Investoren gute Gründe zu liefern, sich bei uns zu engagieren.
Und wann werden Sie GE einholen?
Ich kann keinen Zeitpunkt nennen. Und man muss Äpfel mit Äpfeln vergleichen. GE hat einen Kabel-TV-Bereich, ein Leasing-Geschäft und die Flugzeug-Triebwerke. Das haben wir nicht. Vergleicht man die industriellen Segmente, dann stehen wir schon heute nicht schlecht da.
Reicht Kostenmanagement aus, um in Zukunft am Markt erfolgreich zu sein?
Nein, darum möchte ich auch über das reine Margendenken hinausgehen und den Konzern so trimmen, dass wir innovativer und kreativer werden. Ich schaue mir laufend die innovativsten Konkurrenten an, um zu lernen, wie sie das machen.
Das tönt anders als bei Barnevik, der als Kostenschleifer galt. Wie wollen Sie ABB innovativer und kreativer machen?
Ich weiss nicht, was Sie damit meinen. Aber zu Ihrer Frage: Wir setzen an verschiedenen Stellen an. Zum einen bei den Strukturen, das machen wir gerade. Dann bei der Forschung und Entwicklung, bei der Informationstechnologie und bei unserem Verhältnis zur Umwelt. Da müssen wir uns den höchsten Standards stellen. Und dann auch bei unseren Mitarbeitern rund um die Welt, dem sogenannten Humankapital.
Und was hat Priorität?
Die kritischsten Erfolgsfaktoren sind der Einsatz von Informationstechnologie und das Humankapital. Die entscheidende Frage ist: Wie können wir Talente und fähige Leute anziehen und halten? Denn diese sind rar und entsprechend begehrt.
Wie wollen Sie die Leute fesseln?
Wir müssen ihnen echte Herausforderungen bieten. Dann müssen wir sie wirklich am Unternehmen teilhaben lassen, durch partizipative Management-Prozesse, durch Aktienoptionen usw. Das ist die Rolle einer zeitgemässen Leadership, die ich ins nächste Jahrhundert rüberbringen möchte.
Geben Ihnen die Investoren genug Zeit, um Innovationen voranzutreiben? Und braucht es Akquisitionen, zum Beispiel in der Informationstechnologie?
In der Automatisierungstechnik, unserem IT-Herzstück, haben wir viel Know-how, und dieser Bereich wird neu fokussiert. Deshalb glaube ich nicht, dass wir eine IT-Firma kaufen, sondern eher Applikationen. Aber insgesamt wird unser künftiges Wachstum sowohl von innen wie von Zukäufen getragen sein.
Von den beiden grössten Schweizer ABB-Aktionären, Martin Ebner und Stephan Schmidheiny, ist bekannt, dass sie gerne eine ABB-Einheitsaktie sähen.
Ich sage es ganz deutlich: Das ABB-Management, mich eingeschlossen, will die Einheitsaktie. Aber es gibt eine Reihe technischer Probleme: verschiedene Stimmrechte, Kapitalgewinnsteuern, Doppelbesteuerung von Dividenden usw. Das alles ist hoch komplex. Doch die Sache steht auf unserer Agenda, und früher oder später werden wir eine Lösung finden.
ABB ist von der Krise in Asien schwer getroffen. Wie geht es dort weiter?
Wieso schwer getroffen? Wir hatten im ersten Halbjahr 1998 trotz eines schwierigen Umfelds einen um 13 Prozent höheren Reingewinn. Das ist, was für die Aktionäre zählt.
Haben Sie in Asien die Investitionen gedrosselt?
Im laufenden Jahr haben wir nur wenige grössere Investitionen getätigt. Und es ist klar, dass wir in der gegenwärtigen Phase zweimal überlegen, bevor wir investieren. Trotzdem sehen wir uns in Asien nach Firmen um, weil die Konditionen vorteilhafter werden.
Glauben Sie noch an den Wiederaufschwung in Asien?
Selbst wenn die Krise etwas länger dauern sollte, wird das Wachstum zurückkommen. Bedenken Sie, dass in Asien erst ein Viertel des globalen Sozialprodukts erarbeitet wird, obwohl dort mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung lebt.
Und wie lange dauert das?
Ich glaube, dass es schon drei Jahre dauern wird. Prognosen sind allerdings heikel … (Flüstert:) Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Ich habe eine Kristallkugel, in die ich regelmässig schaue. Aber wissen Sie, was das Problem ist? Es ist die gleiche Kugel, die auch Sie benutzen.