Die Fragestellung war einfach, der Absender prominent: «Wie wird die Mobile App der SBB einfach und attraktiv, damit du ihr vertraust und nie mehr aus Gewohnheit am Schalter/Automaten anstehst?»
Die Frage, welche die Bundesbähnler im Sommer auf dem Crowdsourcing-Portal Atizo in die virtuelle Runde warfen, ergab grosses Echo. 284 Mitglieder der Schweizer Ideenplattform meldeten sich mit Ideen, wie man den Kunden den Schalter verleiden könnte.
Der Input sah verschiedene Modelle vor. Strafe: «Einen Fünfliber verlangen für Schalterverkäufe.» Belohnung: ein Loyalitätssystem nur für Vielfahrer, die ihr Billett via App kaufen. Fahrgast-Mobilmachung: «Mit der Mobile App der SBB wirst du selbst zum Billettkontrolleur. Wenn du jemanden ohne Ticket erwischst, fährst du das nächste Mal gratis. Ab zehn Schwarzfahrern erhältst du das Halbtax zum halben Preis.»
Bald keine Kunden mehr an Schaltern?
Wollen sich die SBB von der Schwarmintelligenz helfen lassen und bald keine Kunden mehr an Schaltern bedienen? «Das entspricht überhaupt nicht unserer Absicht», heisst es aus der SBB-Zentrale. Man wolle mit diesem «Brainstorming» bloss herausfinden, wie man die Schwellenangst vor der Nutzung «alternativer oder elektronischer Ticketbezugsmöglichkeiten», die bequemen Zugriff zu jeder Zeit erlauben, lindern könne. Man sei schliesslich aufgefordert, sich mit der sinkenden Wirtschaftlichkeit des Schalterbetriebs auseinanderzusetzen.
Wenn Bahnkunden von den SBB zur Online-Arbeit angeregt werden, wenn Coop und Migros zu Self-Scanning und Self-Check-out animieren, wenn am Flughafen jeder am Automaten zum Handling-Agent zwangsbefördert wird, folgt das einer einfachen Idee: Der Kunde muss mitarbeiten, er wird vom Konsumenten zum Prosumenten, zum produzierenden Konsumenten. Die Firmen verlängern die Werkbank bis zum Kunden.
«Kunde als Arbeitskraft neuer Art»
Gerd-Günter Voss verfolgt das Phänomen seit Jahren. Der Professor für Industrie- und Techniksoziologie an der TU Chemnitz spricht von einem Prozess, der bewusst gesteuert werde: «Unternehmen setzen zunehmend den Kunden als nützliche Ressource ein. Er wird zu einer Arbeitskraft neuer Art.» Dahinter stünden betriebswirtschaftliche Überlegungen, vor allem zur Kostenreduktion, «aber auch mit dem Ziel, durch produktive Leistungen der Kunden eine neue Art der Wertschöpfung zu erreichen».
Voss untersucht die Vorgänge mit der soziologischen Lupe und war 2005 Co-Autor des Standardwerks «Der arbeitende Kunde». Durch die zunehmende Digitalisierung sei in den letzten zehn Jahren enorm viel passiert: «Die Entwicklung hat mit einer Dynamik zugenommen, die wir damals nicht ahnen konnten. Da läuft eine gigantische Rationalisierungsstory.»
100-jähriger Siegeszug
Angelaufen ist die Story Ende des 19. Jahrhunderts. Damals tauchten die ersten Verkaufsautomaten auf. Vor 100 Jahren führte die US-Supermarktkette Piggly Wiggly die Selbstbedienung ein, die bald den Siegeszug um die Welt antrat. Ein wichtiger Schritt war dann, als Ikea damit begann, den Kunden in der Endfertigung einzusetzen.
Tatsächlich sorgte ein Zufall, der sich vor 60 Jahren zutrug, für den Anfang eines ganzen Geschäftsprinzips. Ikea-Grafiker Gillis Lundgren schraubte 1954 dem Tisch Max die Beine ab, um das Möbel besser transportieren zu können. Der Beginn einer bis heute andauernden obligatorischen Arbeitsteilung zwischen Firma und Kunden.
Ikea machte das Prinzip gross und richtete es auf globaler Ebene an: die «Flatpack Revolution», die es erlaubt, Möbel platzsparend zu verpacken und durch die Mitarbeit der Kunden die Preise tief zu halten. Der Deal: Ikea macht einen Teil des Jobs, der Kunde den anderen. Was im Idealfall dazu führt, dass die Schweden Geld sparen und die Preise dauerhaft tief halten können. Als das Billy-Regal – designt von Gillis Lundgren – die Marke von 30 Millionen verkauften Einheiten erreicht hatte, war es Zeit zum Nachrechnen: Bei einer Aufbauzeit von durchschnittlich 30 Minuten und gemessen an einem Durchschnittslohn von acht Euro, summierte sich – so ist in Gerd-Günter Voss’ Buch nachzulesen – ein Bruttoselfprodukt von 120 Millionen Euro.
Den Unternehmen bringt das Auslagern aber noch mehr: Wenn Kunden im Supermarkt ihre Produkte selber scannen, machen sie damit auch Inventur. Mit dem Einlesen des Artikelcodes kommt dem Händler eine Absatzinformation zu, er weiss so in Echtzeit Bescheid über den Verbrauch und kann rechtzeitig Nachschub bereitstellen.
Begegnungszone
Migros und Coop machen beide emsig Gebrauch von den neuen Möglichkeiten und argumentieren, dass Self-Scanning der Kundschaft Zeitvorteile bringe. Interessant, dass ausgerechnet Harddiscounter – in der Regel Grossmeister der Effizienz – bislang den Zeitvorteil nicht an ihre Kunden weitergeben wollen: «Uns ist wichtig, dass unsere Mitarbeitenden den persönlichen Kontakt zu unseren Kunden pflegen können. Die Kassenzone ist dabei eine wichtige Plattform für ein herzliches ‹Grüezi› und bietet die Möglichkeit für direkte Kundenrückmeldungen», sagt Philippe Vetterli, Sprecher von Aldi Suisse. «Zurzeit ist die Einführung von Selbstbedienungskassen demnach nicht angedacht.»
Auf der etwas weniger herzlichen Seite wissen Player wie Aldi und Lidl, dass die Warenkörbe ihrer Kunden oft gross, Stellflächen für zusätzliche Automaten in der Kassenzone aber klein sind. So argumentiert Denner, wo man ein Self-Scanning-System fürs eigene Unternehmen als «nicht tauglich» erachtet: «Die Platzverhältnisse in unseren Filialen erlauben in vielen Fällen keine derartigen Installationen.» Zudem müsse das Personal beim Alkohol- und Tabakwarenverkauf eine Altersprüfung durchführen, was im Self-Scanning-Verfahren zu aufwendig sei.
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