Die gängige Handlungsempfehlung bei Aktien teilt sich in die Kategorien «überbewertet», also verkaufen, und «unterbewertet», also kaufen. Für die Bewertung werden verschiedene Grössen herangezogen, wobei das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) mit Abstand den bekanntesten Vergleichsmassstab darstellt.
Klaus Kaldemorgen ist Fondsmanager bei der DWS und einer der bekanntesten Börsenstrategen Deutschlands.
Natürlich sollte man nicht stumpf der billigsten Aktie den Vorzug geben. Schliesslich verdienen zukunftsträchtige Unternehmen einen Aufschlag gegenüber Unternehmen, denen er der Wind ins Gesicht bläst. Zudem sollte man auch beachten, dass der Wert einer Anlage stets relativ ist. So ist die Bewertung einer Aktie immer auch eine Funktion des Zinsniveaus.
Gemeinhin gilt dabei die Rendite der 10- jährigen US-Staatsanleihe als Benchmark. Drückt man deren Rendite in einem KGV aus, in diesem Fall also dem Verhältnis von Kurs zu Rendite, hatte dieses am Jahresanfang einen Wert von 52. Aktuell beträgt dieser Wert 151, was einem Anstieg von 190 Prozent entspricht.
Die Bewertung am Aktienmarkt
Die Bewertung am Aktienmarkt ist im gleichen Zeitraum von 21 auf 27 gestiegen, also um knapp 30 Prozent. Mit Blick auf die Bewertung ist da also eine Menge Luft nach oben, zumindest wenn man die Aktien relativ zu Staatsanleihen betrachtet. Allerdings gerät die Bewertung als Anlagekriterium zunehmend unter Druck.
Vermutlich hat jeder Anleger bereits die Erfahrung gemacht, dass mit hoch bewerteten Aktien eher Geld zu verdienen ist als mit niedrig bewerteten. So hat der MSCI Value Index in diesem Jahr etwas mehr als 18 Prozent verloren, obwohl die Bewertung mit einem KGV von 21 Prozent sehr günstig ist. Der MSCI Technology Index hingegen hat 21 Prozent zugelegt, womit sich das KGV auf 35 erhöht hat, Tendenz steigend.
Bewertungskennzahlen fassen in einer Zahl natürlich viele unterschiedliche Faktoren zusammen, die auf den Wert einer Aktie oder des Aktienmarktes insgesamt Einfluss nehmen. Zunehmend wichtiger für die Anlageentscheidung wird vor dem Hintergrund dieser Komplexität deshalb das sogenannte Narrativ. Ein Narrativ ist eine auf die Wahrnehmung Einfluss nehmende Erzählung.
Der Charme eines guten Narrativs
Der Vorteil eines Narrativs liegt darin, dass aus einer Vielzahl von Einflussfaktoren diejenigen erzählt werden, die für die Entwicklung einer Aktie als besonders relevant betrachtet werden. Dadurch wird die Anlageentscheidung deutlich unkomplizierter, da vermeintlich wichtige Informationen von unwichtigen getrennt werden.
Auch professionelle Anleger werden durch seitenlange Zahlenkolonnen nicht schlauer, wenn diese nicht in einer Story zusammengefasst werden können. Auch sind es gewöhnlich lediglich zwei oder drei Gründe, die für eine Anlage sprechen und nicht ein dutzend, die jeder Anleger dann auch noch einmal für sich gewichten muss.
Der Charme eines guten Narrativs besteht darin, dass es einfach, plausibel und leicht nachvollziehbar ist. Eine Leistung, die Bewertungskriterien nicht erbringen können. Der Nachteil eines guten Narrativs liegt darin, dass es nach einer Weile zu einem Glaubensbekenntnis wird, welches nicht mehr hinterfragt wird, da die Kursentwicklung Beweis genug ist für die Stimmigkeit.
Im Augenblick bestimmen zwei Narrative die Entwicklung an den Aktienmärkten:
Es gibt keine Alternative zu Aktien, da die Zinsen nahe dem Nullpunkt oder sogar darunter liegen und dies auch noch für lange Zeit so bleiben wird. Selbst wenn die Wirtschaft aufgrund der Coronavirus-Pandemie schwächelt und die Unternehmensgewinne rückläufig sind, wird man beim Warten auf den Aufschwung nicht durch entgangene Zinsen bestraft, sondern noch durch Dividenden belohnt.
Das zweite Narrativ beschäftigt sich mit den durch die Coronavirus-Krise veränderten Lebensumstände. Allem, was digital ist und damit Abstand zu anderen Menschen verspricht, wird auf absehbare Zeit hohes Wachstumspotenzial beigemessen. Dies betrifft die Arbeitswelt (Homeoffice), unser Einkaufsverhalten (Online) sowie unser Sozialverhalten (virtuell und digital statt real).
Es wundert nicht, dass unter diesen Umständen neun der zehn grössten Unternehmen der Welt dem digitalen Zeitalter zuzurechnen sind. Die durchschnittliche Wertentwicklung der Aktien dieser neun Unternehmen beträgt knapp 40 Prozent in diesem Jahr. Hingegen leiden Ölunternehmen unter einem extrem negativen Narrativ, und das nicht erst, seit BP vor einigen Wochen das Ende des Ölzeitalters verkündet hat.
Gebrandmarkt als die grössten Klimasünder auf diesem Planeten mag kein Anleger sich hier die Finger schmutzig machen. Die Kursverluste der grossen europäischen Ölunternehmen betragen im Schnitt 50Prozent im laufenden Jahr. Schenkt man den Analysten Glauben, so handeln diese Unternehmen zurzeit deutlich unter ihrem Liquidationswert.
Diese Beispiele zeigen die grosse Gefahr der Narrative:
Sie bergen das Risiko von Über-, aber auch Untertreibungen, sobald zu viele Anleger sie sich zu Eigen machen. Wenn diese Narrative also zu universalen Glaubenssätzen mutieren, entstehen leicht Illusionen über die Renditemöglichkeiten, die mit entsprechendem Enttäuschungspotenzial einhergehen. Nehmen wir an, dass sich das Coronavirus-Problem demnächst durch einen Impfstoff lösen lässt.
Ein höheres Wirtschaftswachstum mit steigenden Inflationsraten und höheren Zinsen wäre dann ein realistisches Szenario. Das durch die Pandemie beschleunigte Wachstum für digitale Produkte und Dienstleistungen würde sich hingegen als nicht nachhaltig erweisen, der Ölpreis vielleicht als zu niedrig. Ein Narrativ, das Zuspruch finden könnte, wäre die «Rückkehr zur alten Normalität» statt der Fortsetzung des «New Normal».