Verstehen sie bei Namen wie Digital Island, Juno Online oder Phone.com Bahnhof? Kein Problem! Den meisten Zeitgenossen geht es gleich. Selbst eingefleischte Börsianer kennen die zahlreichen Namen aus dem Spektrum von Aktien des EDV- und Internetbereichs nicht. Trotzdem bedauern die meisten Anleger, diese Titel nicht zu besitzen, genauer gesagt: 1999 nicht besessen zu haben. Denn immerhin gehören sie zu jenen Aktien, die im vergangenen Jahr mit Kursexplosionen für Furore sorgten und die Schar der «traditionell» investierenden Anleger uralt aussehen liessen.

Uralt? Im Moment bestimmt. Während der Dow Jones Industrial Index im vergangenen Jahr mit 23 Prozent Zuwachs beileibe kein schlechtes Jahr verbuchte, schlug der technologielastige Nasdaq-Index (plus 85 Prozent für 1999) alle Rekorde. In Europa, wo die neuen Märkte ihre etablierten Mütter meistens deutlich hinter sich liessen, sieht das Bild ähnlich aus. Selbst in der Schweiz, nicht eben das Mekka von PC- und Internetaktien-Freaks, flogen vor allem die wenigen Papiere mit Internetfantasie auf und davon.

Das Wort Fantasie sei bewusst betont. Weil diese die Notierungen zahlreicher Unternehmen mit wenig Umsatz und keinerlei Gewinn völlig absurd in die Stratosphäre katapultiert hat, dürfte das Pendel bald und wuchtig zurückschwingen. Einen Vorgeschmack bekamen die Anleger zum Jahresanfang geliefert, als der Nasdaq-Index allein in den ersten drei Handelstagen rund zehn Prozent verlor. Noch sind krasse Überbewertungen aber weit verbreitet. Beispiel gefällig?

Phone.com kam im Juni 1999 zu 16 Dollar pro Aktie neu an die Nasdaq. Ende November notierte der Kurs 175 Dollar, was die Aktie zum besten Börsengang des Jahres machte. Phone.com produziert Software, die das Handy mit dem Internet verbindet. Bestimmt eine gute Sache mit Zukunftspotenzial. Kleines Handicap: Phone.com macht momentan 20 Millionen Dollar Umsatz und weist einen Verlust in gleicher Höhe aus. Gewinn gibt es, wenn alles planmässig läuft, frühestens 2001. Obwohl der Titel bis Anfang Januar auf 134 Dollar zurückgefallen ist, beträgt die Börsenkapitalisierung noch immer astronomische 7,1 Milliarden Dollar oder 35 000 Prozent des Umsatzes!

So absurd diese Zahlen klingen, sie sind kein Einzelfall. Das «Wall Street Journal» zählte in den USA 1999 neun Neuemissionen (Initial Public Offering, IPO), deren Kurse seit dem Börsengang um mehr als 1000 Prozent nach oben geschossen waren. Eindrücklich auch der mittlere Gewinn des ersten Handelstages, der sich auf satte 60 Prozent stellte, verglichen mit 18,9 Prozent im Jahr zuvor. Ende 1999 betrug der durchschnittliche kumulierte Kursgewinn aller IPO 141,8 Prozent, gegenüber den 18,6 Prozent des Vorjahrs ebenfalls ein Rekord.

An der Nasdaq werden täglich kleine Vermögen gemacht. Als Paine Webber die auf Kommunikationsbauteile spezialisierte Qualcomm mit dem Ziel einer Kursverdoppelung empfahl, sprang der Titel an einem Tag um fast ein Drittel nach oben. Im Gegensatz zu anderen Gesellschaften ist Qualcomm rentabel und steht solide da. Weil Kurssprünge dieser Art jüngst aber als normal gelten, ist es nicht erstaunlich, dass Rolf Bertschi, Leiter der technischen Analyse im Credit Suisse Private Banking, kommentiert: «Es sieht aus wie eine Blase, es riecht wie eine Blase, und es fühlt sich an wie eine Blase.»

Spekulative Blase hin oder her – auch hier zu Lande beflügeln www & Co.: So legte die Aktie der Verlagsgruppe Agefi einen Börsenstart nach Mass aufs Parkett. Zu 227 Franken im Juli an die Börse gebracht, war der Nebenwert in fünf Monaten auf ein Jahreshöchst von 740 Franken geschossen, bevor er sich auf 600 Franken korrigierte (siehe auch Kasten «Was die Börsen an- und umtreibt»). Selbst auf abgekühlter Basis beläuft sich das geschätzte Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) fürs Jahr 2000 auf 35, die Börsenkapitalisierung erreicht über 1000 Prozent des Umsatzes und mehr als 5000 Prozent des Eigenkapitals! Auffällig: Von der Internetstrategie kennt man bislang nur Einzelheiten, Agefi ist vorab im Zeitungsgeschäft tätig. Verglichen dazu ist die altehrwürdige NZZ, deren Titel ausserbörslich gehandelt werden, spottbillig zu haben. Das fürs Jahr 2000 geschätzte KGV liegt etwa bei 12, die Börsenkapitalisierung der Gesellschaft erreicht je ungefähr 110 Prozent von Umsatz und Eigenkapital.

Da erscheint die Kursexplosion von Distefora (1999 plus 1700 Prozent) schon fast plausibel. Immerhin hat das Unternehmen offiziell «Internetfirma» auf seine Fahnen geschrieben. Beteiligungen in Deutschland und England sollen Verkaufszahlen und Erträge massiv ausweiten. Im Aktienkurs sind indes schon viele Hoffnungen antizipiert. Die Kapitalisierung beträgt 1700 Prozent des für 1999 prognostizierten Umsatzes beziehungsweise rund 24-mal die Eigenmittel. Ein namhafter Gewinn dürfte laut Schätzungen frühestens 2001 zu erwarten sein.

Wie hoch solche Bewertungen sind, illustriert ein Vergleich mit dem Fernmelderiesen AT&T, seines Zeichens ja auch nicht gerade ein Lowtech-Vertreter, sondern bestens positioniert, um weltweit vom Internet- und Fernmeldeboom zu profitieren. «Ma Bell», wie AT&T in Börsenkreisen heisst, wird mit dem Dreifachen des 60 Milliarden Dollar schweren Umsatzes bewertet. So nebenbei erzielt der Konzern auch noch einen Gewinn von 6,7 Milliarden Dollar und zahlt eine sichere Dividende. Die Aktie geht mit einem KGV von 22 und einer Rendite von 1,7 Prozent über den Tisch, was sie nachgerade zum Schnäppchen macht.

Das sind aber nicht die Storys, welche die Fangemeinde von Informationstechnologie (IT) und Internet hören will. Gefragt sind Aktien von Firmen, die aus dem Nichts auftauchen und Umsätze sowie (hoffentlich) in ferner Zukunft auch Gewinne Jahr für Jahr raketenhaft zu steigern versprechen. Während das mit den Umsätzen bisweilen noch klappt, hapert es bei vielen am Ertrag. Schwarze Zahlen lässt beispielsweise auch die berühmte Amazon.com noch immer vermissen. Böse Zungen behaupten gar, Amazons Verlust nehme mit jedem weiteren Umsatzdollar zu.

Das scheint die Aktionäre in diesem wie in vielen anderen Fällen überhaupt nicht zu kümmern. Die Linux-Aktien wurden den wenigen Glücklichen, welche die Titel zu 30 Dollar aus Emission erhalten hatten, schon am ersten Tag für bis zu 240 Dollar aus den Händen gerissen, was den Hersteller von Gratis-Betriebssoftware, gemessen an der Entwicklung des ersten Handelstages, zum erfolgreichsten Going-public aller Zeiten machte.

Doch zurück zu Amazon, an deren Marketingerfolg es nichts zu rütteln gibt. Dass aber die Ertragslage ihre Tücken hat, lässt sich auch von Laien nachvollziehen, stehen Bücher und CD allgemein ja nicht im Ruf, besonders hohe Gewinnmargen oder ausserordentliche Exklusivität aufzuweisen. Wohl nicht zufällig hat Amazon das Sortiment mittlerweile um die Bereiche Elektronik, Spielwaren und Software erweitert.

Bedenkt man zudem, dass Amazon Bestellungen wohl im Cyberspace annimmt, die Ware letztlich aber sehr real liefern muss, so wird noch eine andere Entwicklung augenfällig. Der Internethändler, dessen Börsenkapitalisierung ungefähr jener aller anderen amerikanischen Buchhändler zusammen entspricht, ist zwar in virtueller Umgebung gross geworden, mittlerweile aber auf dem Boden der richtigen Welt gelandet. Der PC-Produzent Gateway beschreitet diesen Weg gar ganz bewusst.

«Untersuchungen zeigen, dass die Hälfte aller PC-Käufer das Produkt vor dem Kauf anfassen und ausprobieren wollen», gibt Gateway-CEO Jeff Weitzen zu Protokoll, «und weil wir nicht auf die Hälfte der möglichen Kunden verzichten wollen, richten wir jetzt in den USA 240 Läden ein.» Da lassen plötzlich sehr irdische Kosten grüssen. Der Druck auf die Erträge hat sich mittlerweile in einer Gewinnwarnung für das vierte Quartal 1999 niedergeschlagen. Umgekehrt ist Compaq Computer, weltweit die Nummer zwei im Hardwaregeschäft, bemüht, die eigenen Produkte vermehrt auch übers World Wide Web zu verkaufen.

Den Aktien dieser beiden Unternehmen ist eines gemeinsam: Sie sind, anders als viele der kaum bekannten «Dot-com-Firmen» vernünftig bewertet und kaufenswert. In der unausweichlichen Korrektur der Hightech-Aktien stellen sie solide Werte global gut positionierter Unternehmen dar, die sich auch nach einem Sturm im Portfolio noch sehen lassen sollten. Oft ist es nicht einfach, eine Internetfirma überhaupt zu definieren. «Wenn Amazon.com als Internetvorzeigefirma gilt, müsste Orell Füssli mit dem gleichen Prädikat ausgestattet werden», sagt Antonio Oro, Gründungspartner der auf IT-Beratungen spezialisierten I.D.E.A. Consulting in Glattfelden. Oro, dessen Firma als Portfoliomanager der in diesem Jahr an die Börse gelangenden Beteiligungsfirma TOP-T Investment waltet, erwartet, dass sich das Internet in den kommenden Jahren zur rein technischen Plattform wandelt. «Viele der heute populären Firmen à la Yahoo werden in der jetzigen Form in den nächsten drei bis acht Jahren schlicht überflüssig», prognostiziert Oro.

Doch einstweilen gibt sich Yahoo unbeirrt. Der Anbieter des weltweit bekanntesten Internetportals mit Hunderten von Inhaltsanbietern lässt sich laut Zitaten aus angelsächsischen Medien auch vom unlängst bekannt gewordenen Zusammenschluss zwischen AOL und dem Mediengiganten Time Warner nicht ins Bockshorn jagen (siehe auch nebenstehenden Kasten). Eine Verschmelzung mit einem einzigen Medienkonzern steht derzeit offenbar nicht zur Diskussion.

Die grosse Zukunft sieht der IT-Consultant Antonio Oro in der Verschmelzung von Informationstechnologie und Telekommunikation. «Der mobile Zugriff aufs Internet, der durch die dritte Generation der Mobilnetztechnik überhaupt erst richtig möglich sein wird, ist ein bedeutendes Investitionsthema», sagt Oro. Diesbezüglich setzt er auf die Leader, namentlich Texas Instruments, Lucent Technologies, JDS Uniphase, ein Spezialist im Bereich optischer Signalübermittlung, sowie Cisco und Nortel.

Aber auch Ericsson steht auf seiner Kaufliste. «Wenn ein Konzern wie Swisscom in Zukunft ungefähr zwei Milliarden Franken für die Aufrüstung von der zweiten zur dritten Netzgeneration investiert, wird er sich an bewährte und standfeste Lieferanten vom Kaliber einer Ericsson halten», ist Oro überzeugt.
Gestandenen Fondsmanagern ist der Boom vieler junger Tech-Papiere ebenfalls nicht mehr geheuer. «Das Kirschenpflücken ist schwierig geworden», urteilt Emil Dörig vom CS Equity Fund High Tech, «viele Papiere wurden im vierten Quartal 1999 nur noch aus Window-Dressing-Überlegungen heraus gekauft, womit der letzte steile Anstieg für einige Zeit möglicherweise das Schlussbouquet war.»

Zwar ist auch Dörig überzeugt, dass die Branche ein überdurchschnittliches Wachstum beibehalten wird. Dennoch können die Kurse seiner Ansicht nach nicht weiter so steigen. «In den Notierungen steckt schon sehr viel Zukunft. Zudem lebt gerade der E-Commerce-Bereich auch von saisonalen Fantasien. Ist das Weihnachtsgeschäft vorbei, könnte aus den Kursen einige Luft entweichen», sagt der Fondsmanager.

Dörig, der betont, dass der CS High Tech Fund kein Internetfonds ist, setzt in erster Linie auf Nokia, Motorola und Ericsson, denen er mittelfristig weiteres Potenzial einräumt. Auch im Halbleiterbereich ortet Dörig Chancen, etwa bei der italienisch-französischen ST Microelectronics und bei Texas Instruments.
Es ist also nicht nötig, Kopf und Kragen zu riskieren, um dabei zu sein. SAP zum Beispiel ist ein erstklassiger Profiteur der Nach-Millenniums-Investitonswelle. Weil für zahlreiche Unternehmen die Vermeidung eines Millennium-Crashs im Vordergrund stand, wurden andere EDV-Projekte zurückgestellt. Nun kann das Budget wieder für Erweiterungs- und längerfristige Erneuerungsinvestitionen der Software eingesetzt werden. Mit Rambus setzt der Anleger auf die nächste Generation von Mikrochips, braucht auf nervenkitzelnde Kursschwankungen aber nicht zu verzichten. Das hohe KGV relativiert sich mit Blick auf das Gewinnwachstum. Analysten erwarten von 2000 zu 2001 eine Verfünffachung des Gewinns.

Um Ideen ist auch S.G. Cowen nicht verlegen. Nicht weniger als 88 «Strong Buys» in sieben Kategorien listet das US-Brokerhaus in seiner mit «inter.com» betitelten Studie auf. Darunter finden sich Klassiker wie IBM, ein Unternehmen, das für viele noch als träger Hardwarehersteller gilt, in Tat und Wahrheit aber in aussichtsreicher Position als Serviceanbieter steht, ferner Cisco, Microsoft und die mit einem KGV von 13 kaum überteuerte Samsung Electronics.

Klammert man die wenigen Ausnahmen aus, so sehen die Charts im IT- und Internetbereich indes alle mehr oder weniger identisch aus: Die Kurve verläuft von tief unten links nach hoch oben rechts. Ob die Masse, die laut Börsenweisheit ja meistens schief liegt, angesichts dieser Einstimmigkeit möglicherweise auf dem Holzweg ist? Das kann niemand mit Bestimmtheit sagen. Sollte aber das eine oder andere Investment kurzfristig in die Hosen gehen, tröstet vielleicht die Prognose von Paine-Webber-Chefstratege Edward Kerschner, der da sagt: «In den nächsten 10 bis 15 Jahren wird unverändert Geld in die US-Aktien fliessen und die Kurse stützen, weil die Schicht der mit der Altersvorsorge beschäftigten Baby-Boomer als Teil der Gesamtbevölkerung noch bis ins Jahr 2010 zunehmen wird.» Es ist anzunehmen, dass dabei auch die eine oder andere IT-Aktie (wieder) ihre Käufer findet.

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