BILANZ: Ihr neues Buch heisst «The Return of Depression Economics». Warum das?
Paul Krugman: Ich bin ein marktwirtschaftlicher Keynesianer. Wenn immer möglich, trete ich für freie Märkte ein - aber einen Zusammenbruch wie in den Dreissigerjahren wollen wir uns auch nicht leisten. Vorderhand konnte Alan Greenspan das Nötige tun und die Wirtschaft in Schwung halten. Doch im Frühjahr 1998 befielen mich erste Zweifel.
Was wären denn die Zeichen einer beginnenden Depression?
Die Probleme liegen auf der Nachfrageseite, nicht in irgendwelchen Schwierigkeiten auf der Produktionsseite. Es wird nicht genug ausgegeben; das könnte man das japanische Syndrom nennen. Als neuer Engpass kamen dann die finanziellen Erschütterungen in Asien und Lateinamerika dazu. Das hat mir eine beängstigendere Sicht der Dinge nahegelegt.
Vorderhand geben aber die Amerikaner mehr aus, als sie einnehmen, ihre Sparrate ist negativ.
Natürlich ist die Depression heute kein amerikanisches Problem. Der laufende Konsum wird durch die aufgeblähten Aktienkurse aufrechterhalten. Wenn diese Stütze einmal entfällt, sieht es anders aus. Die Notenbank wird dann zwar die Zinssätze senken, aber es ist denkbar, dass dies nicht wirkt. Wir sollten uns also auf den Moment vorbereiten, da die Börse einbricht, und wir in eine «liquidity trap» geraten, in eine Falle, wo die Leute auf ihrem Bargeld sitzen bleiben und es nicht ausgeben.
Und mit welchen Rezepten liesse sich da gegensteuern?
Japan ist der Ausgangspunkt - und bietet sich als ziemlich verworrener Fall dar. Ich habe als mittlerweile berühmtes Rezept eine mässige Inflationierung vorgeschlagen. Eine aggressive Geldpolitik müsste die Geldmenge deutlich vermehren. Für die USA wäre dies allerdings nicht sofort nötig, dort haben wir einen Puffer in Form einer zwar geringen, aber laufenden Inflation von zwei Prozent. Das könnte sich freilich als ungenügend herausstellen. Doch Amerikas Budget liegt im Plus, und auch das gibt Raum für die Schaffung zusätzlicher Kaufkraft. In Japan hingegen fehlte die Nachfrage, und man war nicht willens, dagegen anzukämpfen. Anderswo, besonders in Europa, ist es nicht viel besser. Was geschieht, wenn die amerikanischen Börsen womöglich einbrechen? Vielleicht glaubt die Europäische Zentralbank dann, das habe mit Europa nichts zu tun und handelt nicht.
Aber Japans Probleme sind doch wirklich sehr besonders. Eine schnell alternde Bevölkerung sperrt sich gegen jede Einwanderung.
Tatsächlich hat Japan zwei ganz besondere Fragen zu lösen: Zum einen die demografische Verengung und zum anderen die Spätfolgen der Finanzexzesse, die Anfang der Neunzigerjahre platzten. Aber das ist eben auch ein Grund, uns um uns selber Sorgen zu machen. Der Satz für Tagesgeld liegt in Europa bei 2,5 Prozent. Da gibt es nicht mehr viel zu senken, wenn billiges Geld nötig wird. Und in den USA liegt der Satz bei 4,7 Prozent. Als man Anfang der Achtzigerjahre mit Zinssenkungen ankurbelte, musste man diesen Satz um sechs Prozentpunkte reduzieren, von neun auf drei Prozent.
Neben dem Deflations-Horrorszenario kann man sich für die USA aber wohl auch eine weiche Landung vorstellen.
Das ist die wahrscheinlichste Variante. «In Greenspan we trust» - Greenspan wird es richten. Ein krasser Fall der Börsenkurse würde mit einer deutlichen Zinssenkung beantwortet, auch am langen Ende. Solch ein Absturz ist nicht auszu-schliessen, ein Modell der Federal Reserve schätzt die heutige Überbewertung der Kurse auf 40 Prozent.
Nach einem Kurszerfall könnte aber die andere amerikanische Schieflage zum Vorschein kommen. Der Dollar könnte fallen. Das Handelsbilanzdefizit würde so zwar behoben - aber die Importe würden eine zunehmende Inflationierung bewirken.
Das würde sicher schmerzen, doch schlägt solches auch auf die fragilen Volkswirtschaften andernorts durch. Beispielsweise wäre ein gegenüber dem Dollar stark aufgewerteter Euro das letzte, was sich Euro-Land wünschte. Der neueste Jahresbericht der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zeigt die verheerende Wirkung solcher Zerreissproben auf, via die sprunghaft vergrösserten Rendite-Unterschiede nationaler Bonds.
Das Handelsbilanzdefizit der USA beträgt nun 300 Milliarden Dollar im Jahr und muss finanziert werden, was ein ehemaliger Fed-Gouverneur öffentlich bezweifelt hat.
Das Defizit ist gross, aber das sind die USA auch. Gemessen am Bruttosozialprodukt macht es weniger als vier Prozent aus. Australien leistete sich während zwanzig Jahren 4,5 Prozent Defizit. Natürlich ist das bei einem kleineren Land leichter zu finanzieren, doch im Moment wird das amerikanische Defizit frohgemut vom Ausland finanziert. Ich sage immer, dieses Defizit gehört nicht einmal zu den zehn Hauptproblemen, die mich beschäftigen. Zwar kommen alle solchen Dinge einmal zu einem Ende, aber ich kann das Handelsbilanzdefizit einfach nicht als Auslöser einer Krise sehen.
Im Vergleich zum amerikanischen Boom erscheint Europa völlig blockiert und im Abseits.
Die USA betreiben eine Budgetpolitik des 19. Jahrhunderts in Verbindung mit einer Geldpolitik des 21. Jahrhunderts - also öffentliche Sparsamkeit mit privater Geldflüssigkeit. Das schützt vor wirtschaftlicher Sklerose. Europa praktiziert das Gegenteil. Wenn aber diese Politiken immer noch mit den Etiketten von «rechts» und «links» diskutiert werden, macht das ganz einfach keinen Sinn. Es geht vielmehr um Dirigismus oder Pragmatik. Das kann zwar Härten mit sich bringen, aber davor sollte Europa nicht zurückschrecken - etwa was die Lockerung des Arbeitsmarktes angeht. Dieser stellt den Kern des Problems dar, und ich sehe in keinem Land entscheidende Bewegungen. Frankreich hatte einen kleinen Erfolg mit mehr Teilzeitstellen. Deutschland dagegen vernichtet genau diese kleinen Jobs mit der Besteuerung der 630-Mark-Stellen. Und in der Geldpolitik haben sich die anfänglichen Befürchtungen beim Start der Währungsunion leider erfüllt - diese Geldpolitik ist zu konservativ. Ziemlich düster, meine ich.
Hinter dem amerikanischen Boom steht eine steigende Produktivität. Doch bei den Europäern herrscht immer die Angst, eine steigende Produktivität vernichte nur Arbeitsplätze.
Das ist so. Allerdings haben die USA während vieler Jahre auch mit nur geringer Produktivitätszunahme einen Boom erlebt und viele Arbeitsstellen geschaffen. Die rasche Produktivitätssteigerung ist ein relativ neues Phänomen. Und für Europa wiederum wäre auch diese Steigerung an sich nicht das Kernproblem. Es würde vermutlich deshalb zum Problem, weil die Reallöhne sofort entsprechend mitsteigen würden.
Kriegt Europa die «learning curve» nie wieder? Oder sind diese kulturellen Haltungen unveränderbar?
Dafür bin ich nicht Experte. Aber einst galt das Vereinigte Königreich als hoffnungslos erstarrt: zu mächtige Gewerkschaften, zu sture Klassenunterschiede - und dann kam Margaret Thatcher. Irgendeine solche Thatcher-Lösung bräuchte Europa, obwohl ich sie eigentlich überhaupt nicht mochte.
Es war alles zu abrupt, zu hart, und viele kleine Dinge funktionierten ja auch dort nicht. Aber andererseits geschieht in Europa jede Veränderung nur in kleinen, in zu kleinen Schrittchen.
Immerhin hat sich Holland umstrukturiert.
Gewiss, da war ein wirklicher Wechsel zu spüren. Nun sagen allerdings nicht alle Zahlen das aus, was man meint, auch nicht die Zahl der neuen Beschäftigten. Holland hatte sehr viele Leute in den Listen der Invalidenversicherung stehen, die jetzt wieder arbeiten.
Michel Albert schreibt vom «rheinischen Kapitalismus», der durch Konsens so viel leiste wie ein rein kapitalistisches Modell. Gibt es verschiedene Kapitalismen?
Vor zwanzig Jahren wäre dies ohne Einschränkung denkbar gewesen. Heute spielt die industrielle Massenproduktion keine grosse Rolle mehr, in der man sich so organisieren konnte. Doch eine Dienstleistungswirtschaft oder eine Informationsgesellschaft verschiebt die Gewichte im klassisch aushandelbaren «contrat social». In den USA haben wir fast alle zehn Jahre eine völlig neue Struktur, die Wirklichkeiten fliessen ineinander über. Mit wem soll man sich da am runden Tisch zusammensetzen? Ein Bill Gates jedenfalls wäre seinerzeit nicht zugezogen worden, und doch steigen Firmen und Branchen, wie er sie verkörpert, zu Schwergewichten auf. Die alten Politiken sind eben wirklich alt geworden, und dezentralisiertes Vorgehen wirkt besser.
Ihr Kollege Paul Romer sieht genügend Arbeit, genügend Nachfrage für einen andauernden Aufschwung.
Es gibt wirklich genügend Arbeit und Arbeitsstellen für alle, und es gibt die entsprechenden Bedürfnisse. Jeder hat gern ein Haus und mehr; die menschliche Neigung zu kaufen, ist unbeschränkt. Ob alles gut ist, was gekauft wird, bleibt abzuwarten. Aber gekauft wird es. Für Grundstoffe wie Stahl ist die Nachfrage limitiert, jedoch nicht für plastische Chirurgie.
Schrecken Sie die wachsenden Lohnunterschiede Amerikas nicht?
Natürlich ist der soziale Zusammenhalt wichtig. Es darf nicht so weit kommen, dass sich gewisse Leute in einer völlig anderen Gesellschaft wiederfinden, als die, die alles haben. Wenn Aufstände losbrechen, ist es mit dem Wachstum auch vorbei.
Gibt es dagegen Marktlösungen?
Ich habe da keine pfannenfertige Antwort. Die untersten Einkommen sollten gestützt werden, mit Lohnzuschüssen.
Sie begrüssen also den «earned income tax credit», die negative Einkommenssteuer für Arbeitende?
Diese sollte man in den USA verdoppeln oder gar verdreifachen.
Ihre eigene Produktivität steigert sich wie jene der USA …
Na ja, ich bin recht am Ball. Vielleicht gerate auch ich in Überhitzung.
Haben Sie ein Team, das Ihnen zuarbeitet, haben Sie Forschergruppen zur Hand?
Nein, wie alle amerikanischen Professoren habe ich eine Drittelssekretärin, also eine Hilfskraft zusammen mit zwei anderen. Ich habe siebzehn Jahre lang wissenschaftlich gearbeitet und selbst geforscht. Heute übersetze ich solche Erkenntnisse in einfachere Botschaften. Ich lese sehr viel. Dann fliessen mir auch Arbeiten und Artikel anderer Kollegen zu, die ich wiedergebe, mündlich, schriftlich. Man ist nach so vielen Jahren an der Universität auch Teil eines Netzes, das austauscht und stimuliert.
Verstehen Sie ihre Rolle eher als Kommentator oder als Prophet?
Ich trage zusammen und gebe es verständlich wieder, ich suche nicht die Rolle des Propheten.
Aber Sie haben schon 1994 die tönernen Füsse des asiatischen Booms gezeigt, sie prophezeien heute die Deflation.
Was Asien angeht, bekam ich Recht, wenn auch aus teilweise anderen Gründen. Andere Dinge, wie etwa die Gefahren der Deflation, zeige ich bloss auf.
Wie investieren Sie Ihr Geld?
Oh, das tut meine Frau. Sie ist ebenfalls Ökonomin. Ich habe zu wenig Zeit dafür. Ich kann nicht Dutzende von Upstarts und Hightech-Firmen analysieren.