Der Auftritt des Fed-Chefs Alan Greenspan am 16. Februar vor dem amerikanischen Senat geriet zum denkwürdigen Ereignis. Zum ersten Mal in seiner langen Karriere gestand der mächtigste Notenbanker der Welt ein, dass er ratlos war. Er könne, verriet Greenspan den konsternierten Senatoren, die aktuelle Zinssituation nicht richtig interpretieren. Alan Greenspan wusste nicht zu erklären, weshalb die Zinsen weiterhin tief bleiben – trotz robustem Wirtschaftswachstum und mehrfachen Leitzinserhöhungen.
Greenspan ist nicht der Einzige, den die aktuellen Wirtschaftsdaten verwirren. Ratlosigkeit breitet sich auch in der Gilde der Ölexperten aus: Der Ölpreis spielt verrückt. Schockartig reisst es ihn einmal hoch und dann wieder herunter. Im letzten halben Jahr schwankte er um deutlich mehr als zehn Dollar pro Barrel des Nordseeöls Brent. Im Oktober lag der Durchschnittspreis bei 50 Dollar, im Dezember waren es noch knapp 40. Am 17. März dann war mit rund 55 Dollar pro Fass der Gipfel erreicht. – es dürfte nicht der letzte gewesen sein. Der Ölpreis, so heisst es aus Kreisen der Opec, könnte vorübergehend sogar auf 80 Dollar steigen.
«Er wird in diesem Jahr nicht höher sein als im letzten», kontert Norbert Walter. Der Chefökonom der Deutschen Bank spricht für viele seiner Kollegen. Ein steigender Ölpreis liegt für sie quer in der konjunkturellen Landschaft. Deshalb geht auch Klaus Wellershoff von der UBS von moderaten Kosten «um die 40 Dollar herum» aus. Einige Auguren sehen ihn gar deutlich unter 40 Dollar.
Wiewohl ihn fast alle Experten hierzulande herunterreden: Der Ölpreis steigt, unaufhörlich. «Die Welt sollte sich vom billigen Öl verabschieden», sagte jüngst der venezolanische Präsident Hugo Chavez. Er rechnet mit einer Preisspanne von 40 bis 50 Dollar pro Barrel. Vor kurzem lag sie noch bei 20 bis 28 Dollar.
Hugo Chavez’ Prognose könnte sich sehr bald als zu vorsichtig erweisen. Zwar dürfte der Ölpreis in den nächsten Monaten etwas nachgeben, aus rein saisonalen Gründen. Doch fundamental ändert sich am Preisdruck nichts, der im Übrigen keine neue Erscheinung ist. In den letzten Jahren sahen sich die Ölkonsumenten ständig mit Preiserhöhungen konfrontiert. 1995 lag der Durchschnittspreis noch bei 17 Dollar für das Fass Brent. «Ende Jahr werden wir 53 Dollar pro Fass bezahlen», sagt Tobias Merath, Ölexperte bei Credit Suisse Commodity Research.
«Die Nachfrage nach Öl und anderen Rohstoffen wird das bestimmende Thema für die kommenden zehn Jahre», sagt Jan Poser, Chefökonom der Bank Sarasin. Für die Schweizer Konsumenten verheisst dies nichts Gutes. Sie sehen sich gleich zwei Bedrohungen ausgesetzt. Steigt der Ölpreis, sinkt sofort der Kontostand. Die Preise für Heizöl und Benzin werden praktisch täglich ans aktuelle Niveau angepasst. Und erholt sich der amerikanische Dollar vom derzeitigen Tief, so schlägt sich dies unmittelbar auf den Ölpreis nieder. «Der Anstieg des Ölpreises wirkt wie eine Steuer», schreiben Ökonomen der Allianz-Gruppe in einer Studie.
Am 10. März beispielsweise kosteten 100 Liter Heizöl in der Region Zürich knapp 70 Franken. Liess damals ein Hausbesitzer seinen Öltank mit 3500 Litern füllen, so zahlte er rund 2450 Franken – doppelt so viel wie im August 1999, als der Preis für 100 Liter bei 35 Franken lag. Monat für Monat zahlt er also zusätzlich 100 Franken an Heizkosten. Allein seit Februar 2004 ist der Heizölpreis um 37 Prozent gestiegen. Das tut weh. Es ist allerdings bei weitem nicht die alleinige Auswirkung der Turbulenzen am Ölmarkt. Auch an der Benzinsäule wird fleissig gezapft. Wer täglich von Bremgarten AG an seinen Arbeitsplatz in Zürich pendelt, legt monatlich 110 Franken mehr aus, seit der Benzinpreis um 10 Rappen gestiegen ist (22 Arbeitstage zu 50 Kilometern).
220 Franken weniger Geld pro Monat im Portemonnaie: Wenn es nur vorübergehend wäre, ginge es ja noch hin. Doch weder Benzin noch Heizöl werden künftig wieder billiger. Und auch die Mieten steigen. Denn die Vermieter pflegen ihre höheren Kosten bei Gelegenheit auf ihre Kundschaft zu überwälzen – was freilich auch die Detailhändler nicht lassen können. Gemüse und Früchte sind diesen Februar auf Grund des kalten Wetters in Südeuropa markant teurer geworden. Die höheren Energiekosten schlugen direkt auf die Preise durch.
«Der Ölpreis hat wenig Auswirkungen auf unsere Wirtschaft», sagen die Volkswirtschafter hüben und drüben, bei den Banken und in den Prognose-Instituten. Inflationäre Risiken sind für sie schon gar kein Thema. «Die Erdölpreiserhöhung», davon ist Aymo Brunetti, Chefökonom des Seco, überzeugt, «beeinflusst die Teuerung nicht nachhaltig, sie hat lediglich einen einmaligen Effekt.»
Mitnichten. Tatsache ist, dass die Inflation im Februar markant angezogen hat: von deutlich unter einem Prozent in den Vorjahren auf derzeit 1,4 Prozent. Es ist zu befürchten, dass jetzt eine Teuerungsrunde in Gang kommt, mit der niemand gerechnet hat. Denn nicht nur schlagen Benzin und Heizöl weiter auf, es kommt auch zu so genannten Zweitrundeneffekten. Was heisst, dass die Unternehmen ihre höheren Energiekosten auf die Preise schlagen, wie dies die Detailhändler bei den Früchten
taten. Aufschlagen werden insbesondere der öffentliche Verkehr, der Tourismus und die Gastronomie. Aber auch die Anbieter langfristiger Güter, die viel graue Energie enthalten, werden ihre gestiegenen Kosten auf die Konsumentinnen und Konsumenten überwälzen. Oder werden es zumindest versuchen.
Der Ölschock bremst jedoch auch den ohnehin erlahmenden Schwung der Wirtschaft in der Schweiz zusätzlich. Eine Erhöhung des Ölpreises von zehn Dollar, so die Erfahrung, dämpft das Wachstum in der Schweiz um ein halbes Prozent. Zudem wird der Öleffekt unterschätzt. Er zieht alle anderen Energiepreise mit hoch, wie die jüngsten Daten zeigen. Der ganze Rohstoffsektor inklusive Stahl und Kupfer ist in Bewegung geraten. Folge: Die Kosten der verarbeitenden Industrie steigen, und die Gewinne schrumpfen.
Schon möglich, so befürchten einige Ökonomen, dass ob all dieser Unbilden die Wirtschaft in den ersten zwei Quartalen dieses Jahres nicht mehr wächst. In den nächsten Wochen müssen deshalb die Konjunkturprognosen schon wieder zurückgenommen werden. Unter ein Prozent für das ganze Jahr, deutlich unter dem Potenzialwachstum von 1,5 Prozent. Peinlich für die Auguren ist: Es wäre dann, seit vergangenem Sommer, bereits die dritte Revision nach unten.
Erstaunen würde die Korrektur nicht. Seit über fünf Monaten macht die Schweizer Wirtschaft einen wenig dynamischen Eindruck. Die Investitionen gehen zurück, der Aussenhandel verliert an Schwung, und der lahme US-Dollar lässt die Exporterträge schrumpfen. 40 Prozent der helvetischen Ausfuhren sind mittlerweile vom Dollar abhängig, weil sie in die Vereinigten Staaten gehen oder in Länder, die ihre Währung an den Dollar gebunden haben. Resteuropa hat es allerdings auch nicht besser. «Der Ölpreis bremst auch Euroland», sagt Janwillem Acket, Chefökonom der Bank Bär. So ist etwa Deutschland, der Hauptabsatzmarkt für Schweizer Produkte, besonders stark vom Erdöl abhängig und wächst derzeit mit lediglich 0,8 Prozent.
Dem konjunkturellen Ungemach zum Trotz wirken alle Faktoren, die den Preis für das schwarze Gold hochtreiben, unvermindert weiter. Die Nachfrage nach Rohöl steigt in diesem Jahr um 2,5 Prozent, nach 3,4 Prozent im vergangenen Jahr. Lieferengpässe sind programmiert. Denn die Auslastung der Förderanlagen ist extrem hoch. Die Credit-Suisse-Experten schätzen, dass die freien Kapazitäten der Opec auf zwei Millionen Barrel gesunken sind – bei einer Nachfrage von 84 Millionen Barrel pro Tag. «Das ist nicht nachhaltig», sagt CS-Experte Merath. Im historischen Vergleich seien diese bei sieben Millionen Barrel gelegen. Gemäss Angaben des US-Energiedepartements fehlen derzeit 100 000 Fass pro Tag. Kommt die europäische Konjunktur in der zweiten Jahreshälfte, wie erwartet, wieder auf Touren, wird der Nachfrage-Überhang noch grösser.
Die Lagerbestände in den USA sind zwar wider Erwarten hoch, wie die neusten Zahlen aus dem Energiedepartement belegen. Und die Exporte nach China sind drastisch gefallen. Dies ist indessen ein vorübergehendes Phänomen. «Am Ölmarkt hat sich die Lage fundamental verändert», sagt CS-Experte Merath. Durch die wirtschaftliche Erstarkung von China, Indien, Brasilien, Indonesien und Emerging Europe steigt die Ölnachfrage massiv an. Allein in den letzten zehn Jahren ist der Verbrauch in Asien um 42 und in den USA um 16,5 Prozent gestiegen. Nur in Europa stagniert der Konsum der fossilen Brennstoffe. Es ist nicht absehbar, welchen Erdölhunger die aufstrebenden Länder Asiens, Osteuropas und Südamerikas noch entwickeln und bis in welche Sphären sie den Preis noch treiben werden.
Mehr Erdöl gibt es jedoch vorläufig nicht. Förderung und Verarbeitung sind kein elastisches System. Fünf bis zehn Jahre dauert die Erschliessung eines neuen Ölfelds. Und auch Raffinerien entstehen nicht von heute auf morgen. Jetzt rächt es sich, dass bei tiefen Rohölpreisen in den letzten Jahren in der Branche fast nicht investiert wurde. Aus dieser Warte betrachtet, birgt die Industrie viele Chancen für Investoren, aber auch unwägbare Risiken (siehe Nebenartikel «Investitionsobjekt Öl: Nicht nur der Ölmarkt boomt»). US-Präsident George W. Bush hat dies am 22. Januar bei seiner Amtseinsetzung demonstriert. Für einmal legte er nicht gegen das Böse an sich los, sondern hielt eine harte Rede gegen die «Reiche der Unterdrücker». Womit er unter anderem Iran meinte. Der Ölpreis stieg in der Folge einer Rakete gleich in die Höhe.