Mal ist es Irans Präsident Mahmud Ahmadinedschad, der als Grund für steigende Ölpreise herhalten muss. Dann liefert die Schuldenkrise in Europa Argumente für einen Preisabschwung, um gleich durch einen heftigen Wirbelsturm im Golf von Mexiko als vermeintliche Ursache eines Preisanstiegs abgelöst zu werden. Wer immer seine Ölpreisprognose begründen will, findet eine Fülle von Erklärungen – für steigende Notierungen ebenso wie für sinkende.
Der Zürcher Marktkenner Hans Walk rät deshalb: «Analysten sollten sich für ihre Prognose in einen Bunker einsperren lassen und nur noch den Kursverlauf beobachten.» Walk ist so etwas wie ein Silberrücken in der Branche. Seit bald 50 Jahren ist er nun im Geschäft; zuerst als Händler und ab 1984 als selbständiger Analyst. In den Bunker hat er sich zwar nie verkrochen, doch vor acht Jahren ist er ins sonnige Muralto TI gezogen, von wo aus er aus sicherer Distanz von frühmorgens bis spätabends jede Preiszuckung beobachtet, sei es bei den Heizölkontrakten oder den Brent-Preisen an der Londoner Börse, sei es am WTI-Markt oder bei den Benzinpreisen in New York. Technischen Signalen wie Trendlinien, Fibonacci-Zahlen oder Flaggen und Wellen traut er weit mehr als Marktberichten und Nachrichten. Mehrmals täglich verschickt er seine Bulletins an die Kunden, meist lokale Heizölhändler, die sich an Walks Prognosen orientieren.
Allerdings ist auch der erprobte Veteran seit einiger Zeit immer wieder mal um eine Begründung für eine Kursbewegung verlegen. «Die Spekulation hat überhandgenommen», beobachtet Walk. Im Juli hätten die durchschnittlichen Tagesumsätze bei Brent, der Rohölsorte aus der Nordsee, 700 000 Kontrakte erreicht. Bei WTI, der Rohölsorte aus den USA, wurden fast 600 000 Kontrakte verzeichnet. Ein Kontrakt umfasst 1000 Fass Öl zu 159 Litern. Der effektive Tagesbedarf an Öl beträgt weltweit rund 89 Millionen Fass, also bloss einen Bruchteil der an den Ölbörsen gehandelten Menge.
Preisanstieg in der Pipeline
Psychologie und Astrologie liefern inzwischen ebenso plausible Erklärungshilfen für die immer hektischeren Preisbewegungen wie fundamentale Gründe. Hausbesitzer sollten sich deshalb nicht von dieser Hektik verleiten lassen, jetzt ihren Heizöltank zu füllen, weil sie mit weiter steigenden Preisen rechnen. Die landläufige Meinung, die Preise seien nach der Sommerpause am tiefsten, ist ohnehin ein alter Zopf. Er stammt aus dem Kohlehandel in Deutschland. Im Sommer war der schwarze Brennstoff jeweils günstiger, weil das Wetter für die Förderung und den Vertrieb besser war als im Winter.
Inzwischen haben nicht einmal mehr die Rheinfrachtkosten einen spürbaren Einfluss auf die Heizölpreise. Nur zweimal in den vergangenen zehn Jahren hat es sich gelohnt, Heizöl im Sommer zu kaufen, nämlich nach den Börsencrashs in den Jahren 2002 und 2008, als auch die Ölpreise von ihren Höchstständen mit in die Tiefe gerissen wurden.
Diesen Sommer spricht wieder einiges dafür, dass Heizöl ab kommendem Januar günstiger zu haben sein wird. Dafür gibt es neben charttechnischen Konstellationen auch handfeste Gründe. Wie die Analysten von Citigroup aufzeigen, kann sich auf der einen Seite die Ölförderung in Libyen weiter normalisieren. Zudem planen die Mitgliedstaaten des Ölkartells Opec, ihre Fördermengen auszuweiten. Auf der anderen Seite führen die konjunkturelle Abkühlung in China und die Wirtschaftsflaute in Europa zu einer sinkenden Nachfrage. Auch Japan wird die Importe drosseln können, nachdem die Stromproduktion in den Kernkraftwerken wieder hochgefahren worden ist.
Hinzu kommt die Entwicklung in den USA. Dort wird in der Energieversorgung eine Art nächste industrielle Revolution erwartet. Durch neue Technologien können Gas- und Ölvorkommen im Schiefergestein aus einer Tiefe von bis zu 4500 Metern profitabel gefördert werden. Chris Faulkner, CEO von Breitling Oil and Gas, einer US-Technologiefirma für Öl und Gas, geht von förderbaren Vorräten von 6 Billionen Fass beim Öl und 500 Billionen Kubikmetern beim Gas aus, was den Bedarf der USA für Jahrzehnte decken würde. Bereits träumt Präsident Barack Obama davon, dass die USA in zehn Jahren weitgehend unabhängig vom Import fossiler Energieträger sein könnten.
Vorsichtigen Anlegern bietet sich Kaufmöglichkeit
Die Gaspreise haben sich in den USA deshalb bereits deutlich abgekühlt. Sie betragen noch etwa ein Viertel der Importpreise für Gas in Deutschland. Und auch bei den Ölpreisen klafft seit Herbst 2010 eine Lücke zwischen den amerikanischen WTI- und den europäischen Brent-Kursen. Zurzeit liegt die Differenz bei etwa 20 Dollar pro Fass, erreichte aber auch schon über 30 Dollar. Während mit dem Ende der Driving Season, der Reisesaison in den USA, die Benzinnachfrage und damit der Preisdruck weiter nachlassen werden, kann eine Verschärfung der Unruhen in Syrien und der politischen Lage in Iran die Brent-Preise jederzeit wieder nach oben schnellen lassen. Meist sind diese Ausschläge jedoch von eher kurzfristiger Natur und knicken rasch wieder ein.
Wer mit dem Heizölkauf bis im Frühjahr zuwarten will, kann sich schon mal mit Ölprodukten gegen diese kurzfristigen Marktlaunen absichern. Mit Mini-Future-Short-Zertifikaten auf sinkende WTI-Preise und gleichen Long-Zertifikaten auf steigende Brent-Preise lässt sich die Bewertungslücke ausspielen und zugleich die Marktentwicklung auf beide Seiten absichern.
Weniger risikofreudigen Anlegern bieten die günstigen Bewertungen der Ölaktien Kaufgelegenheiten. Durch den Ölpreisanstieg der letzten Monate sind die Erträge der Ölfirmen und damit deren Aktienkurse unter Druck geraten. Die schrumpfenden Gewinne täuschen aber darüber hinweg, dass die meisten dieser Firmen solide finanziert sind. Gerade die grossen Player bieten zudem üppige Dividendenrenditen.
Matthias Müller von der Credit Suisse sieht Potenzial für positive Überraschungen bei Firmen, die in der Förderung neuer Vorkommen wie auch in den Schwellenländern stark positioniert sind. Dazu gehören etwa Shell und ENI, aber auch die brasilianische Petrobras. Zudem dürften Anlagenbauer wie Baker Hughes vom neu erwachten Pioniergeist in den USA besonders stark profitieren.
Mit Netz und doppeltem Boden
Nach den Berechnungen der Internationalen Energieagentur IEA liegen die Förderkosten für die neuen Ölvorkommen in den USA einschliesslich Steuern bei etwa 50 Dollar pro Fass, also klar unter den aktuellen Ölpreisen. Zudem brauchen die grossen Ölfirmen Preise zwischen etwa 65 und 85 Dollar, um profitabel zu arbeiten, während die grössten Ölförderländer wie Saudi-Arabien oder Russland ihre Staatsbudgets auf Preise von deutlich über 80 Dollar ausgerichtet haben. Das zeigt nicht nur, wie gut die Erträge der Ölfirmen nach unten abgesichert sind, sondern auch, wohin der Ölpreis längerfristig steuern wird.
Selbst wer beim Heizölkauf auf günstigere Gelegenheiten im Frühjahr wartet, muss damit leben, dass Durchschnittspreise unter 50 Franken je 100 Liter Heizöl extraleicht der Vergangenheit angehören. Eine Prognose, die auch Charttechniker Walk ohne grosse Nachprüfung teilt.