BILANZ: Herr Thomas, was fällt Ihnen ein zu Zürich?
Patrick Thomas: Schöne Stadt, hübscher Hermès-Laden …
… Sie scherzen. Der Laden wirkt, als hätten Sie ihn vergessen, klein, vollgestopft und von vorgestern.
Stimmt leider alles, ausser dass wir ihn vergessen haben. Das Geschäft an der Bahnhofstrasse läuft hervorragend. Und wir sind seit längerem auf der Suche nach einem besseren Lokal. Etwas zu finden, das uns passt, ist gar nicht so einfach.
Dafür machen Sie in China und Indien Laden um Laden auf. Sie sind spät dran.
Wir sind nicht spät dran!
Verglichen mit andern schon.
Wir vergleichen uns nicht mit anderen.
Aber die Analysten.
Das kümmert uns nicht.
Das sagen Sie, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr Ernst?
Voll und ganz. Wir haben unsere eigene Art, das Geschäft voranzubringen. Wir sind nicht daran interessiert, dass unser Umsatz möglichst schnell wächst. Das heisst, wir kommen wohl später als die andern – wir sind auch nicht in Eile. Bevor wir irgendwo auf der Welt einen Laden eröffnen, wollen wir die Gewissheit, dass wir dort auch genügend Kunden haben, damit das Geschäft rentiert. Die dafür nötige Kundenbasis bauen wir in Läden wie hier in Paris auf, wo Leute aus aller Welt einkaufen. Sind wir der Meinung, dass wir in einem Land genügend Kunden haben, die unsere Produkte kennen und schätzen, machen wir dort auch einen Laden auf. Für uns ist es nie zu spät, aber es kann sehr wohl zu früh sein.
Ist Langsamkeit Ihr Luxus?
Nicht langsam zu sein, sondern sich für alles genug Zeit zu nehmen. Ich bin nicht stolz darauf, wenn wir unseren Kunden sagen: «Danke für Ihre Bestellung, Sie erhalten die Lieferung in zwei Jahren.» Jeden Mercedes bekommt man schneller.
Ein bisschen stolz scheinen Sie schon zu sein, schliesslich bedeuten Wartelisten: mehr Nachfrage als Angebot.
Mit Stolz hat das nichts zu tun. Ich persönlich hätte gern alles schneller. Aber es gehört zu unserem Selbstverständnis, dass wir uns auch für die Produktion alle Zeit nehmen, die es braucht, um die Dinge so gut zu machen, wie wir es können. Die Wartelisten rühren daher, dass die Nachfrage schneller wächst als das Angebot – klar, das freut mich.
Spürt Hermès die Finanzkrise?
Bis jetzt gar nicht.
Null Sorgen?
Doch, Sorgen mache ich mir schon. Denn diese Krise wird in den kommenden Jahren viel Schmerz und Armut bringen.
Was erwarten Sie?
Dass die Regierungen erfahrener sind als auch schon und dass sie deshalb die liberalen Märkte mit etwas mehr Weisheit als zuvor kontrollieren werden. Sie werden das Schlimmste zu verhindern wissen. Hoffe ich wenigstens.
Bearbeiten Sie die Märkte je spezifisch?
Wir nennen es eine multilokale Kultur. Gewisse Dinge machen wir zentral, etwa das Produktdesign. Das wird alles hier in Paris gemacht, auch die Werbung. Aber die meisten Operationen sind lokal. Dafür muss man die Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern erst einmal verstehen, da ist uns sehr daran gelegen.
Allein das Prestige von Hermès ist doch ein Kassenschlager.
Wie gesagt, wir wollen nicht einfach Umsatz machen. Hermès basiert auf Werten, nicht auf Volumen.
Das klingt gut, doch was bedeutet es?
Wir sind mit einem Paradox konfrontiert: Je angesagter eine Marke ist, desto grösser wird sie. Und je grösser sie wird, desto weniger angesagt ist sie. Produkte werden banal, wenn man sie überall sieht. Deshalb müssen wir, wenn wir den Geist dieses Unternehmens erhalten wollen, nicht einfach versuchen, grösser zu sein, sondern besser. Vieles bei uns funktioniert daher nicht nach Effizienzkriterien. Wir stellen zum Beispiel nach wie vor 80 Prozent aller Produkte in Frankreich her und pflegen eine Produktpalette mit 50 000 Referenzen. Niemand in der Industrie macht das so, denn es ist ökonomisch unsinnig. Und: Wir würden nie abertausend Exemplare von irgendetwas produzieren, denn wir wollen nicht banal werden.
Damit wäre ja die Warteliste für einen Kelly Bag erklärt.
Diese Warteliste hat einen anderen Hintergrund. Als ich 1989 zu Hermès kam, hatten wir 300 Handwerker und eine Wartezeit von zwei Jahren. Heute haben wir 1800 Handwerker, und wir haben immer noch zwei Jahre Wartezeit.
Warum stellen Sie nicht einfach noch mehr Handwerker an?
Sie haben eine falsche Vorstellung. Wir müssen die Leute selber ausbilden. Jedes Jahr beginnen bei uns 150 Lehrlinge. Als Erstes besuchen sie eine Lederschule und verbringen dann zwei Jahre an der Seite eines Meisters, der sie lehrt, die Taschen zu machen. Wir arbeiten hier wie vor 100 Jahren, das ist pures Handwerk. Erst nach vier Jahren kann ein Lehrling einen Kelly Bag selber herstellen.
Binden Sie die Ausgebildeten mit einem Vertrag an Hermès?
Nein, die können gehen, wann sie wollen. Wir haben pro Jahr auch ein, zwei Kündigungen. Die meisten kommen nach sechs Monaten aber wieder zu uns zurück, denn wer das kann, was sie können, kann das nur bei uns wirklich einsetzen.
Auch Sie kamen nach sechs Jahren wieder zu Hermès zurück. Warum?
Jean-Louis Dumas, der Hermès bis vor zwei Jahren erfolgreich geführt hat, rief mich damals an und bat mich, auf meine einstige Position zurückzukommen. Wir hatten ein gutes Verhältnis, und ich bewundere ihn. Ich sagte: «Klar, mit Freude.»
Sie mussten nicht darüber schlafen?
Es war eine Ein-Minuten-Entscheidung. Aber ich sagte zu ihm: «Ich will heute Abend noch mit meiner Frau sprechen, bevor ich Ihnen morgen früh zusage.»
Nun sind Sie seit bald zwei Jahren der Chef im Haus – der erste familienfremde. Wie haben Sie das geschafft?
Ich kenne das Unternehmen, geniesse das Vertrauen, teile die Vision der Familie.
Wie lautet diese?
Wir haben das Motto: Hermès muss bleiben, was sie ist. Wir wollen die gleiche Hermès in 20 Jahren wie vor 20 Jahren. Bekanntlich ändert sich immer alles. Wollen wir unserem Grundsatz gerecht werden, müssen wir auch Hermès immer neu erfinden. Anders gesagt: Wir ändern alles, damit sich nichts ändert.
Hermès setzen viele gleich mit Understatement. Sie sind Kooperationen mit Bugatti und Eurocopter eingegangen. Sind protzige Autos und private Helikopter nicht ein Verrat an der Marke?
Mitnichten. Bei diesen Partnerschaften geht es um Design, und Design ist Teil unserer kreativen Kultur. Einer unserer Designer wurde angefragt, ob er das Innere des Helikopters neu gestalten könnte. Er hat es gemacht, und zwar so gut, dass das Äussere nicht mehr dazu gepasst hat. So kam der Auftrag, gleich den ganzen Helikopter zu gestalten. Herausgekommen ist etwas ganz Neues. Nur dank Design. Bei Bugatti war es genau das Gleiche.
Hermès ist an der Börse kotiert. Spüren Sie den Druck?
Wir lassen uns nicht unter Druck setzen. Als wir vor 15 Jahren an die Börse gingen, kamen die Analysten und fragten Jean-Louis Dumas: «Können Sie uns Ihre Finanzstrategie erklären?» Dumas hat drei Sekunden überlegt und dann gesagt, er wolle, dass seine Enkel stolz auf ihn seien. Ich denke, wir haben damals nur die wenigsten Analysten im Raum für uns gewinnen können.
Analysten finden, Hermès wäre unter dem Dach von Richemont oder Louis Vuitton Moët Hennessy besser aufgehoben denn als Einzelmarke. Was meinen Sie dazu?
Namen nenne ich keine. Aber ich behaupte, wenn ein Aktionär mit rein finanziellen Interessen an die Spitze von Hermès käme, wäre von Hermès in fünf Jahren nichts mehr übrig.
Warum?
Hinter Hermès steht eine Familie mit einer Haltung, bei der es um Qualität geht, um Handwerk, um Kompromisslosigkeit. Ein Eigentümer mit anderen Vorstellungen würde das kaputt machen, etwa indem er versuchte, mehr Gewinn herauszuholen, schneller zu wachsen. Und wer würde das bezahlen? Der Kunde. Wenn ich von der Familie den Auftrag erhielte, den Gewinn in fünf Jahren zu verdoppeln, könnte ich das locker bewerkstelligen. Aber dann hätten Sie in fünf Jahren eben keine Hermès mehr.
Die Mehrheit von Hermès gehört nach wie vor der Familie. Aber es wird auch gemunkelt, dass dies nicht so bleibe.
Als ich als Familienexterner CEO geworden bin, hiess es, das sei ein Zeichen, dass sich die Familie langsam verabschiede. Richtig ist, dass sich die Familie nach wie vor zu Hermès bekennt. Aber sicher, wir haben heute ein anderes Szenario als unter Jean-Louis Dumas: Er war nicht nur CEO, sondern auch künstlerischer Direktor. Dieser bin ich nicht, sondern Dumas’ Sohn Pierre-Alexis.
Die Familie besitzt 75 Prozent an Hermès. Sind die Mitglieder in einem Pakt gebunden?
Ja, es gibt Familienpakte.
Wie sind diese ausgestaltet?
Da kann ich nicht konkreter werden, als zu sagen, dass die Firma recht gut geschützt ist. Die Familienmitglieder müssen die Aktien für eine gewisse Zeit behalten.
Für wie lange?
Für 6 bis 20 Jahre, je nach Paket. Wenn jemand verkaufen will, muss er sein Paket erst den andern Familienmitgliedern anbieten.
Wie sieht der Luxusmarkt der Zukunft aus?
Heute ist er fokussiert auf ein paar Firmen: Prada, Gucci, Louis Vuitton, Chanel …
… Hermès.
Makroökonomisch gehören wir dazu, sonst je länger, je weniger. Viele Luxusfirmen produzieren immer mehr Commodities, banale Produkte. Statt vertikal wird Luxus zunehmend horizontal definiert. Was dabei herauskommt, sind Champagner für 23 000 Euro pro Flasche und Konfitüren für 18 Euro pro Gläschen.
Ihre Definition von Luxus?
Ein Mitarbeiter sagte einmal, Luxus bedeute, dass der Wunsch, etwas zu besitzen, grösser sei als die Notwendigkeit, es zu besitzen. Auch wir machen Produkte des Alltags, aber wir geben den Dingen obendrein einen qualitativen, ästhetischen und sinnlichen Inhalt, sodass es auch Freude macht, sie zu besitzen.
Und wo liegt der Unterschied zur Konkurrenz?
Es ist arrogant, sich selbst zu preisen, aber trotzdem: Wir machen keine Kompromisse, nie. Wenn es bei einer Produktentwicklung, die bei uns gut und gerne vier Jahre dauern kann, auf einmal heisst, das kommt nun doch viel teurer, ist die Reaktion hier immer: Nun denn. Das ist unsere Stärke, das macht den Unterschied.
Anders bei Ihren Kunden: Die Preiserhöhungen in Japan müssen Sie mit Umsatzschwund bezahlen.
Das ist eine japantypische Reaktion: Japan ist der Markt in der Welt, wo wir den grössten Anteil an Kunden aus der Mittelklasse haben. Wenn wir in Indien oder Russland, also Märkten, in denen nur sehr wohlhabende Leute unsere Kunden sind, die Preise erhöhen, hat das null Effekt auf die Nachfrage. Diesen Leuten ist das egal. Wenn aber 50 Prozent der Kunden aus der Mittelklasse stammen wie in Japan, wenn das also Leute sind, die sparen, um sich etwas leisten zu können, dann hat das einen massiven Effekt. Wir mussten die Preise erhöhen, weil der Yen derart eingebrochen ist.
Haben Sie die Preise wieder gesenkt, um den Umsatzschwund zu stoppen?
Nein. Wir machen auch bei den Margen keine Kompromisse.
Sie führen das Unternehmen seit zwei Jahren. Was haben Sie bewirkt?
Das Unternehmen ist neu organisiert, und ich kann für mich beanspruchen, diese neue Struktur initiiert zu haben. Seit ich hier CEO bin, sind neben der Verantwortung auch die Kompetenzen auf mehr Leute verteilt. Ich habe damit zwar keine Revolution ausgelöst, aber eine Evolution. Hier herrscht heute durchs Band ein unternehmerischer Geist.
Haben Sie eigene Leute installiert?
Ich bin dagegen, dass ein neuer CEO mit seinem eigenen Team kommt und den Rest entlässt. Ich glaube an das Gegenteil: arbeiten mit denen, die da sind, ausser sie sind nicht kooperativ oder nicht kompetent. Hier habe ich die Leute ja gekannt, viele waren Freunde von mir. Ich brauchte nur einen einzigen neuen Kopf, einen, der sich mit der Entwicklung von Strategie und Image systematisch beschäftigt. Den habe ich mitgebracht. Er arbeitete mit mir bei Lancaster, kam dann mit mir ins Whiskygeschäft und schliesslich hierher.
Ein Kopf für Strategie und Image? Was steht an?
Ich will jemanden, der sich Gedanken darüber macht, wie wir wahrgenommen werden, welche Leute Hermès-Produkte kaufen oder nicht und warum. Ich will Durchschnittsalter, Geschlecht und so weiter kennen und das verstehen.
Diese Basics kennen Sie nicht?
Wir haben uns bislang kaum darum gekümmert und waren zur Beantwortung solcher Fragen personell nicht ausgestattet.
Das heisst, Sie machen nun das erste Mal Marktforschung?
Ja, das ist ein bisschen Marketing, und wir schämen uns nicht dafür. Aber es wird die Art, wie wir kommunzieren und mit wem, verändern. Das muss man schliesslich auch managen.
Das war bisher nicht gemanagt?
Doch, aber einzig und allein durch Jean-Louis Dumas. Zwar hat er nie Marketing im eigentlichen Sinn gemacht, trotzdem war er dank seiner Intuition ein treffsicherer Marketeer. Diese Intuition habe ich nicht. Ich muss daher rationaler vorgehen und meine Schwächen mit dem Know-how anderer kompensieren.
Was haben Sie für Führungsprinzipien?
Erstens: Wenn du Leute führen willst, gehe hinter ihnen. Zweitens: Es gibt keine individuelle Leadership, nur Teamleadership. Denn Unternehmen werden immer komplexer. Wenn ich in Pension gehe und meinem Nachfolger ein Team mit allen nötigen Fähigkeiten hinterlasse, habe ich – drittens – meinen Job gut gemacht.
Sie sind 61, wann gehen Sie in Pension?
Sobald ich kann.
Konkret? Bis Pierre-Alexis Dumas übernehmen kann?
Warum nennen Sie ihn als Nachfolger?
Weil er der Sohn von Monsieur Dumas ist.
Ja, schon, aber wir sind hier kein Königreich, sondern eine börsenkotierte Firma.
Patrick Thomas (61) ist seit Januar 2006 CEO beim Luxuslabel Hermès. Er ist der Erste in dieser Position, der nicht zum Hermès-Clan gehört, und gilt als Ziehsohn seines Vorgängers Jean-Louis Dumas, der 28 Jahre lang Chef im Haus war. Thomas ist ein Rückkehrer: Von Pernod-Ricard 1989 als Group Managing Director zu Hermès gestossen, wechselte er 1997 als Präsident zur Lancaster-Gruppe, dann als CEO zum Whiskyhersteller William Grant und kehrte 2003 zu Hermès zurück – als Co-CEO von Dumas. Thomas hat ein Diplom der Ecole Supérieure de Commerce de Paris, ist verheiratet und Vater von zwei erwachsenen Kindern.
Hermès in Zahlen
1837 in Paris als Sattlerei gegründet, hat sich Hermès als Luxusmarke weltweit etabliert. Unter dem Brand werden 14 Produktdivisionen geführt. Das Angebot reicht von Seidenfoulards über Gartenmöbel, Porzellan und Schmuck bis hin zu Babyfinkli – und alles wird in Eigenregie hergestellt, Lizenzen sind tabu. Hermès ist seit 1993 an der Börse kotiert, 75 Prozent der Firma befinden sich aber nach wie vor in Familienbesitz. 2007 erreichten die Franzosen einen Umsatz von 1,63 Milliarden Euro und einen Gewinn von 423 Millionen Euro.