Mit der Börsenerholung seit März, so hoffen viele Exponenten der beruflichen Vorsorge, können sich die durch die Finanzkrise entstandenen Verluste von selbst beheben. Jetzt bloss nicht in Panik verfallen, die Renten seien sicher, die Verluste an den Börsen nur Buchverluste, und diese würden mit der Kurserholung bald wieder wettgemacht, wird argumentiert. Während auf politischer Ebene um Lösungen gerungen wird, zeigen die Recherchen von BILANZ, dass sich grundsätzliche Systemanpassungen nicht länger aufschieben lassen.

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Eine Besserung der Situation der zweiten Säule ist nämlich in weiter Ferne. Das macht der neue Index zum Deckungsgrad deutlich, den BILANZ mit der Beratungsfirma Lusenti Partners sowie «Stocks» und «Handelszeitung» publiziert (siehe «Die Lage bleibt kritisch»). Das Verhältnis von Anlagevermögen zu Vorsorgeverpflichtungen hat sich bis Ende April nur leicht auf 90 Prozent erholt. Bei einem Anlagevermögen von schätzungsweise 540 Milliarden Franken fehlen in der zweiten Säule somit rund 60 Milliarden.

Tatsächlich leisten die Kapitalerträge einen immer wichtigeren Beitrag zu den Einnahmen der beruflichen Vorsorge. Gemäss Statistik des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) wird inzwischen jeder dritte Franken an der Börse verdient (siehe Grafik). Damit wirkt sich eine Börsenerholung stärker aus als Sanierungsmassnahmen wie etwa die Senkung des Umwandlungssatzes, der zur Berechung der Renten dient (siehe Glossar auf Seite 87), oder eine tiefere Verzinsung der Altersguthaben. Herbert Brändli, Präsident der Sammelstiftung Profond, rechnet vor: «Senken wir den Umwandlungssatz von 7,2 auf 6,8 Prozent, verbessert sich der Deckungsgrad nur um 0,6 Prozentpunkte.» Die künftigen Renten der Versicherten sinken indes um über 5 Prozent. Wenn die Anlagerendite um bloss ein Prozent besser ausfällt, kann eine Unterdeckung bei gleichen Voraussetzungen doppelt so rasch beseitigt werden, wie die Grafik «Langwierige Sanierung» zeigt. «Den Aufschwung an der Börse zu verpassen, hat bedeutendere Auswirkungen als jede Sanierungsmassnahme», ist Brändli überzeugt und hält an einer Aktienquote von hohen 50 Prozent fest, obwohl der Deckungsgrad bei kritischen 85 Prozent liegt.

Bumerang von links. Brändlis Äusserungen sind Wasser auf die Argumentationsmühle der Gewerkschaften. Per Volksabstimmung wollen diese eine weitere Senkung des Umwandlungssatzes von derzeit 7 auf 6,4 Prozent verhindern. SP-Ständerätin Anita Fetz hat gar ein Moratorium für die Sanierung von Pensionskassen gefordert. Solche Forderungen könnten sich als Bumerang erweisen und dazu führen, dass es zur Zerreissprobe des Generationenvertrags zwischen aktiven Versicherten und Rentnern kommt, wie Nationalrätin Ruth Humbel befürchtet (siehe «Gefährliche Zerreissprobe»).

Einmal mehr werden die Lebensversicherungen bei dieser Debatte eine gewichtige Rolle spielen, obwohl im Gegensatz zur letzten Krise 2002/03 durch spektakuläre Verluste nicht sie negativ in Erscheinung getreten sind. Mit ihrer garantierten Vollversicherung sind sie diesmal sogar Profiteure. Kleine und mittlere Unternehmen stehen Schlange, um mit ihrer Pensionskasse in den Genuss einer 100-prozentigen Deckungszusage zu gelangen. So konnte etwa Allianz Suisse eine Verdoppelung ihres Neugeschäfts im Bereich Kollektivleben innert Jahresfrist vermelden.

Solche Garantien sind allerdings nicht umsonst zu haben, wie das Beispiel von Swiss Life zeigt. Nach der letzten Krise vor sieben Jahren wurde die Risikoprämie zur Deckung von Invaliditäts- und Todesfallrenten um ein Drittel erhöht und ist rund doppelt so hoch wie die entsprechenden Aufwendungen. Wegen der Börsenverluste fiel das BVG-Geschäft trotz dieser «Garantieprämie» im vergangenen Jahr defizitär aus. Die Differenz mussten nicht die Aktionäre begleichen, sondern die anderen Gruppen von Versicherten, indem Swiss Life fast 429 Millionen Franken aus anderen Überschusstöpfen als Ertrag aktivierte und so für 2008 einen Jahresgewinn verzeichnen konnte.

Anders als bei den Lebensversicherern ist die Situation bei den andern Leistungsträgern der zweiten Säule noch weit gravierender als bei der letzten PK-Krise, wie selbst Gewerkschafter Paul Rechsteiner (siehe «Die Renten dürfen nicht angetastet werden») anerkennt. Insbesondere die öffentlichrechtlichen Vorsorgeeinrichtungen sind völlig aus dem Lot geraten. Fast neun von zehn dieser Pensionskassen mit Staatsgarantie weisen eine Unterdeckung auf, Ende 2007 war es noch nicht einmal die Hälfte. Rund 35 Milliarden Franken müssten die Kantone und Städte in ihre Vorsorgewerke investieren, um diese Deckungslücke zu schliessen. Die Bernische Lehrerpensionskasse etwa weist mit einem Deckungsgrad von 73 Prozent einen Fehlbetrag von über 1,5 Milliarden Franken auf. Allein um zu verhindern, dass das Loch noch grösser wird, müssten auf dem Anlagevermögen 6 Prozent Rendite pro Jahr erzielt werden. Weil ab 2010 der technische Zins zur Verzinsung der künftigen Renten auf 3,25 Prozent gesenkt wird, vergrössert sich das Loch nochmals um 600 Millionen Franken. Während der nächsten 20 Jahre soll der Kanton Bern deshalb nebst den bereits bestehenden Sanierungsbeiträgen weitere rund 140 Millionen pro Jahr einschiessen, die Hälfte des für das laufende Jahr budgetierten Gewinns. «Nicht falsche Anlageentscheide wie in früheren Jahren sind der Grund für die unerfreuliche Situation, sondern hauptsächlich die Börsenturbulenzen», betont Luzius Heil, Geschäftsführer der Lehrerpensionskasse.

Privilegierte Rentner. Nicht besser ergeht es Ascoop, der Sammelstiftung von Privatbahnen und Tourismusfirmen. Mit einem Deckungsgrad von 73 Prozent ist die Kasse auf den Ausgangspunkt der vor zwei Jahren gestarteten Sanierung zurückgeworfen worden. Soll der Fehlbetrag innert geplanter Frist bis 2020 behoben werden, müsste die Sanierungsprämie, die paritätisch von Arbeitgeber und -nehmer bezahlt wird, je nach angeschlossener Firma von derzeit 3 bis auf 20 Prozent erhöht werden. Und diese reicht nur, wenn auch an den Finanzmärkten jedes Jahr eine Nettorendite von 3,5 Prozent erzielt werden kann. Bereits sind einzelne Bahnen wegen der entsprechenden Rückstellungen in die roten Zahlen gerutscht. Ascoop-Chef Urs Niklaus schliesst nicht aus, dass einige Betriebe durch die Sanierungspflicht gar in existenzielle Nöte geraten.

Überdurchschnittlich hohe Anlageverluste haben Ascoop und die Bernische Lehrerpensionskasse übrigens bei alternativen Anlagen wie Hedge Funds und Rohstoffen erlitten. Die Verluste sind weit grösser, als der geringe Anteil am Gesamtvermögen vermuten lässt. Um nämlich die Gewichtung in der Asset Allocation, der Vermögensaufteilung, zu halten, müssen laufend neue Mittel nachgeschoben werden, womit sich die effektiven Verluste aufsummieren.

Solche Verluste und damit auch die Bürde der Sanierung lasten fast ausschliesslich auf den aktiv Versicherten und den Arbeitgebern. Die Rentner müssen zwar auf den Ausgleich der Teuerung verzichten, diese ist jedoch in den letzten Jahren äusserst bescheiden ausgefallen. Da das Vorsorgeguthaben der aktiv Versicherten im Fall von Ascoop gleich hoch ist wie das der Rentner – bei einzelnen Betrieben beträgt es sogar nur ein Viertel –, unterliegt ihr finanzielles Risiko und damit auch die Sanierungslast einem Hebeleffekt ähnlich wie bei einem Hedge Fund. Pro Erwerbstätigen fehlen derzeit rund 80  000 Franken in der Ascoop-Kasse oder ein guter Bruttojahreslohn.

Diese Fehlentwicklung liegt zum einen an grosszügigen Stellenabbauprogrammen über vorzeitige Pensionierungen, aber auch am System der zweiten Säule an sich. Seit Einführung des BVG-Obligatoriums 1985 ist jedes Jahr ein neuer Jahrgang mit seinem Vermögen in Rente gegangen, womit das Vorsorgeguthaben im Verhältnis zu demjenigen der aktiven Beitragszahler grösser geworden ist. Ersichtlich wird diese Entwicklung am Verhältnis der Ausgaben und Einnahmen in der beruflichen Vorsorge (siehe Grafik). Detaillierte Zahlen zur Entwicklung der Vorsorgevermögen für Rentner und Erwerbstätige gibt es hingegen erst seit 2004.

Korrigieren liesse sich die Fehlentwicklung, indem entweder auch die Rentner das Anlagerisiko mittragen oder aber deren Vermögen ausgesondert und möglichst risikolos in Staats- oder ähnliche Anleihen angelegt würde. So wie auch im privaten Anlageverhalten nach der Pensionierung Anlagerisiken vermieden werden sollten. Die Zinserträge können zum Ausgleich der Teuerung verwendet werden. Das hätte aber eine drastische Senkung beim Umwandlungssatz auf etwa 5 Prozent zur Folge, wie eine vom BSV eingesetzte Arbeitsgruppe im Herbst 2004 errechnet hat. Die Renten würden 30 Prozent tiefer ausfallen und die angestrebten 34 Prozent, welche die Pensionskassenrente vom bisherigen Lohn ausmachen sollte, deutlich verfehlt.

Ambitiöse Ziele. Der aktuell höhere Umwandlungssatz von 7 Prozent unterstellt jedoch, dass mit dem Vermögen der Rentner jährlich eine Rendite von mehr als 4,5 Prozent erwirtschaftet werden kann. Derweil wird das Vermögen der aktiven Versicherten nur mit zwei Prozent verzinst, wodurch das Verhältnis allein durch den Zinseszinseffekt zulasten der aktiven Versicherten Jahr für Jahr verschlechtert wird. Die Arbeitsgruppe ist deshalb schon im Herbst 2004 zum Schluss gekommen, dass eine realistische Renditeerwartung etwa bei 3,6 Prozent liegen dürfte. Damit müsste der technische Zins von derzeit 3,5 bis 4,5 Prozent auf 3,1 Prozent und der Umwandlungssatz bis 2015 auf 6,15 Prozent gesenkt werden.

Selbst die 3,1 Prozent sind ambitiös, unterliegen sie doch einer Renditeerwartung von 3,6 Prozent. Laut dem BVG-Index der Bank Pictet haben Pensionskassen mit einer risikoarmen Aktienquote von 25 Prozent seit Anfang 2000 eine nur halb so hohe Rendite erwirtschaftet. Gemäss dem Pensionskassen-Index der Credit Suisse ist die Performance im ersten Quartal um weitere 1,58 Prozent gesunken. Der Gesamtindex müsste bis Ende Jahr um 24 Prozent zulegen, um die Lücke zur gesetzlichen Mindestzins-Vorgabe zu schliessen. Das entspricht der zweifachen Performance im Ausnahmejahr 2005.