In den letzten Jahrzehnten konnte die Welthandelspolitik Einfuhrzölle systematisch und weltweit abbauen. Laut Weltbank sank der durchschnittliche Einfuhrzoll von rund 8,6 Prozent im Jahr 1994 auf 2,6 Prozent 2017. Hinzu kommen über 300 Freihandelsverträge, die mittlerweile mehr als die Hälfte des Welthandels umfassen.
Gleichzeitig weisen immer mehr Studien darauf hin, dass der Protektionismus wieder zunimmt und neue Handelsschranken entstehen – und dies schon lange vor Donald Trump. Wie passt das zusammen?
Das Projekt Next Generation informiert über aktuelle Forschungsergebnisse zu wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen und über die Arbeit der Studierenden in den volkswirtschaftlichen Lehrprogrammen der Universität St. Gallen.
- Hier: Piotr Lukaszuk über: Jason Garred: «The Persistence of Trade Policy in China after WTO Accession», in: «Journal of International Economics» 114, 2018, S. 130-142.
Herausgeber Next Generation: Prof. Christian Keuschnigg.
Nachdem die traditionellen Instrumente wie Einfuhrzölle zunehmend verpönt sind, haben sich die protektionistischen Tendenzen systematisch hin zu nicht-tarifären Barrieren verlagert, etwa Steuern, Subventionen oder Exportbeschränkungen. Diese sind oft schwieriger festzumachen und gelten daher als «verschleierter Protektionismus». Gemäss dem Global Trade Alert, der weltweit grössten Datenbank zu Protektionismus, haben sich die nicht-tarifären Handelsbarrieren zwischen 2009 und 2017 fast verdoppelt.
Der durchschnittliche Einfuhrzoll ist von rund 8,6 Prozent 1994 auf 2,6 Prozent 2017 gefallen. Dagegen haben sich die nicht-tarifären Handelsbarrieren von 2009 bis 2017 fast verdoppelt.
Eine Studie von Jason Garred von der Universität Ottawa untersucht am Beispiel Chinas den Wandel von Einfuhrzöllen zu nicht-tarifären Barrieren – und ihre protektionistischen Auswirkungen. Der Ökonom achtete also auch auf Beschränkungen wie Exportlizenzen und -verbote oder Mehrwertsteuerrabatte für Exporte.
Und letztere spielen in Chinas Handelspolitik eine sehr wichtige Rolle. Während die meisten Länder ihre Exporte von der Mehrwertsteuer befreien, versteuert China grundsätzlich alle Exporte mit einem Steuersatz von 17 Prozent. Seit 2004 wird aber die Ausfuhr mancher Produkte teilweise oder gänzlich von der Mehrwertsteuer befreit, um bestimmte Branchen zu fördern.
Grosse Zweifel an Liberalisierung
Der kanadische Wissenschaftler kombiniert in seinem Aufsatz diese unterschiedlichen Exportbeschränkungen und berechnet damit ein Mass der effektiven Ausfuhrzölle für jedes Produkt.
Nach dem Beitritt zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 passte China seine Schutzpolitik systematisch an, indem es Einfuhrzölle durch Ausfuhrhindernisse ersetzte. Die Ergebnisse wecken grosse Zweifel, dass die WTO-Mitgliedschaft tatsächlich Chinas Handelspolitik liberalisieren konnte.
Die Grafik zeigt, dass China nach 1997 nicht nur seine Einfuhrzölle stark senkte, sondern auch die Unterschiede der Zölle für verschiedene Produktkategorien halbierte. Dadurch werden heute die meisten Importe mit einem ähnlichen Zoll belastet.
Bei den effektiven Ausfuhrzöllen zeigt sich jedoch gerade das Gegenteil: Manche Produkte weisen nach 2006 starke Exportbeschränkungen auf, andere hingegen nicht.
Wo werden Zölle durch Ausfuhrhürden ersetzt?
China betreibt eine gelenkte Industriepolitik und entscheidet vorab auf höchster politischer Ebene, welche Branchen strategisch gefördert werden sollen. China schützt also nicht alle Branchen in gleicher Weise vor ausländischem Wettbewerb, sondern behandelt einzelne Produkte und Sektoren sehr unterschiedlich. Mit Importzöllen und anderen Barrieren kann es den Marktzugang für ausländische Güter behindern – während Exportbeschränkungen gezielt den Weltmarktzugang einzelner produzierter Güter erschweren.
Um diese Strategie nachzuweisen, sind zwei Fragen zu beantworten: Erstens, inwieweit werden Einfuhrzölle durch Ausfuhrhürden ersetzt? Zweitens: Welche Unterschiede gibt es bei Exportbeschränkungen zwischen verschiedenen Sektoren der chinesischen Wirtschaft?
Was vorher geschützt war, war es nachher auch
Man kann eine Branche fördern, indem man sie entweder vor Importen schützt oder von Exportbeschränkungen ausnimmt. Jason Garred untersucht nun, ob Produkte, welche vor dem WTO-Beitritt 2001 mit hohen Einfuhrzöllen vor ausländischer Konkurrenz geschützt wurden, auch nach dem Beitritt bevorzugt wurden. Seine Schätzungen zeigen, dass die effektiven Ausfuhrzölle zwischen 2002 und 2012 tatsächlich signifikant schwächer anstiegen, wenn in dieser Branche der Einfuhrzoll vor dem WTO-Betritt hoch gewesen war.
War der Einfuhrzoll eines Produkts vor dem WTO-Beitritt um 1 Prozentpunkt höher, fiel der Anstieg der Ausfuhrzölle um 0.5 Prozentpunkte geringer aus.
Eine strategisch wichtige Branche kann man auch fördern, indem man ihre Vorleistungen verbilligt – etwa für die Rohmaterialen. Ein Weg dazu ist, die Branchen in der vorgelagerten Wertschöpfungskette mit hohen Ausfuhrzöllen zu belegen. Die empirische Analyse zeigt, dass China neue Ausfuhrzölle vor allem auf Rohmaterialien und Halbfertigprodukte erhöhte. Die hohen Exportkosten beschränken den Auslandsabsatz der Branche und drücken den Preis.
Win-Lose-Situation
Die Produzenten von Rohmaterialien und Halbfertigprodukten müssen also ihre Erzeugnisse günstiger auf dem chinesischen Heimmarkt verkaufen. Vor allem bei Materialien, wo China signifikante Marktanteile besitzt und der Weltmarktpreis wegen des geringeren chinesischen Angebots steigt, entsteht dadurch eine Preislücke zwischen dem chinesischen und dem Weltmarktpreis. Damit erhält die nachgelagerte Schlüsselbranche in China gleich einen doppelten Wettbewerbsvorteil. Nicht nur kann sie im Inland billigere Vorleistungen beziehen: Dieselben Vorleistungen verteuern sich auch für die ausländischen Konkurrenten.
Um diese Zusammenhänge empirisch zu belegen, vergleicht Jason Garred zunächst die Einfuhrzölle auf Fertigprodukte im Jahr 1999 mit den effektiven Ausfuhrzöllen auf Rohmaterialien nach dem WTO-Beitritt 2001, welche für die Herstellung genau jener Fertigprodukte notwendig sind. Seine Schätzungen zeigen, dass die Absenkung der Einführzölle Eins-zu-Eins mit einem Anstieg der effektiven Ausfuhrzölle einherging. Weiter zeigt er, wie der Einsatz von Ausfuhrzöllen die chinesischen Exporte beeinflusste. Steigt der effektive Ausfuhrzoll auf Rohmaterialien um 1 Prozentpunkt, gehen die Exporte dieser Branche um rund 5.1 Prozent zurück.
Das löst einen Preisverfall im Inland aus, welcher den nachgelagerten Verarbeitungsstufen zugutekommt. Die Verbilligung der Vorleistungen steigert die Exporte der Fertigprodukte um bis zu 7 Prozent.
Beijing lässt sich weniger von Partikularinteressen beeinflussen, sondern betreibt offensichtlich eine zentral gelenkte Industriepolitik.
Die chinesische Regierung lässt sich weniger von Partikularinteressen beeinflussen, sondern betreibt offensichtlich eine zentral gelenkte Industriepolitik. China identifiziert strategisch wichtige Schlüsselindustrien, die sie mit verschiedenen Instrumenten gezielt subventioniert. China fördert diese Branchen, indem die Regierung ausländische Direktinvestitionen hemmt und gleichzeitig die Branche von Exportzöllen entlastet. Zusätzlich verbilligt sie die Vorleistungen der heimischen Produzenten, indem sie höhere Exportzölle auf den vorgelagerten Stufen erhebt. Indem diese Exportzölle tendenziell die Weltmarkpreise für die Rohmaterialen steigen lassen, benachteiligen sie zudem die ausländischen Konkurrenten.
Andere Branchen, andere Sitten
In anderen Branchen, die keine strategische Bevorzugung geniessen, lässt China ausländische Direktinvestitionen zu und verzichtet auf den Einsatz von diskriminierenden Exportzöllen.
Diese Erkenntnisse werfen die Frage auf, ob die Politik, Einfuhrzölle durch Ausfuhrzölle zu ersetzen, nicht gegen WTO-Regeln verstösst. Die Vereinigten Staaten riefen deshalb die WTO an, welche 2013 entschied, dass China Exportrabatte für bestimmte Produkte zurückziehen muss. Dieser Fall macht die Beschränkungen eines multilateralen Rahmens wie der WTO deutlich, der die Schutzpolitik ihrer Mitglieder einschränken soll.
Die Gefahr solcher schutzpolitischen Massnahmen, die im WTO-Rahmen nicht vollständig verboten werden können, liegt in der Ausbreitung.
Auch andere WTO-Mitgliedstaaten wie Brasilien oder Indonesien setzen gezielte Ausfuhrzölle ein, um aktive Industriepolitik zu betreiben.
Die Gefahr solcher schutzpolitischen Massnahmen, welche innerhalb der WTO-Gespräche nicht vollständig verboten werden können, liegt in der Ausbreitung. Wenn ein Land den Anfang macht, überlegen sich auch andere Länder, ähnliche Massnahmen einzuführen, um gleiche Wettbewerbsbedingungen für ihre eigenen Firmen zu erhalten. Auch innerhalb der Europäischen Union werden die Stimmen für eine eigene Industriepolitik lauter, um mit den chinesischen und amerikanischen Unternehmen im Wettbewerb bestehen zu können.
Am Ende verlieren alle. Alle müssen teure Subventionen finanzieren, aber kein Land erzielt einen Wettbewerbsvorteil, wenn die anderen nachziehen. Ein multilaterales Vorgehen im Rahmen der WTO wäre besser.
Der Autor: Piotr Lukaszuk absolviert ein Doktorstudium in Economics and Finance an der Universität St. Gallen. Mit der Initiative «Next Generation» ermutigt das Wirtschaftspolitische Zentrum der HSG ihre Nachwuchstalente, die Öffentlichkeit über Erkenntnisse der Wissenschaft zu informieren. Die besten Studierenden fassen wichtige Ergebnisse ausgewählter Publikationen in Fachzeitschriften zusammen.