BILANZ: Quincy Jones, Sie sind Weltrekordhalter.

Quincy Jones: Was soll das heissen?

Sie haben «Thriller» produziert, das mit über 100 Millionen Exemplaren meistverkaufte Album aller Zeiten. Ist es heute überhaupt noch möglich, diesen Rekord zu brechen?

Nicht so, wie es derzeit in der Musikindustrie läuft. Die jungen Musiker können heute kein Geld verdienen. Ihre Arbeit wird einfach aus dem Internet heruntergeladen. Was denken sich die Leute dabei? Die würden ja auch nicht gratis arbeiten. Wie es heute läuft, ist einfach falsch.

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Die etablierten Stars haben noch eine Einnahmequelle: grosse Konzerttourneen, wo sie Tickets teuer verkaufen – beispielsweise Madonna, die Rolling Stones und U2. Auch Michael Jackson wollte noch grosse Konzerte geben.

Die tun das nur, um Alben zu verkaufen. Ich war mit den Stones vor zwei Jahren in Brasilien. U2 spielten auch in Brasilien in einem Stadion für 80  000 Menschen. Sie könnten das nicht tun ohne Plattenverkäufe. Wie sollten sie auch? Merchandising und Konzerte reichen nicht. Es ist unmöglich ohne Plattenverkäufe, sorry.

Welche Zukunft sehen Sie denn für die Musikindustrie?

Die Musikindustrie ist an einem Ort angelangt, von wo aus wir neue Wege suchen müssen, und zwar schnell – oder es ist vorbei in wenigen Jahren. Die Musikindustrie in den USA hat 22 Milliarden Dollar an Umsatz eingebüsst. Ich glaube nicht, dass das Internet die Zukunft sein kann. Dort wird einfach alles gratis heruntergeladen. So funktioniert das nicht. Ich frage Sie: Wie lange könnten Sie ohne Musik sein?

Nicht lange.

Das ist normal. Aber wenn es so weiterläuft in der Musikindustrie, dann lohnt es sich nicht mehr, Musik zu produzieren. Wir haben ein Filmprojekt, da wollen wir den Leuten zeigen, wie das wäre.

Was ist das Besondere an dem Film?

Die erste Hälfte des Films ist mit Musik hinterlegt, wie alle Filme. In der zweiten Hälfte: nichts, keine Musik.

Okay, aber das wird wahrscheinlich nichts an der Situation ändern.

Es soll ja auch nur etwas vor Augen führen. Und es gibt auch noch ein grosses Problem auf Seiten der Musiker: Ein einzelner Song auf iTunes oder anderen Verkaufskanälen ist im Prinzip immer auch eine Werbung für ein gesamtes Paket, ein Album. Die meisten Bands heutzutage bringen es allerdings nicht fertig, mehr als einen Hit im Paket zu haben. Die Jungen wissen das und zahlen nicht 10 oder 15 Dollar für das ganze Album. Es ist ja sowieso nur ein Song darauf, den sie haben wollen. Also nehmen sie einen Song von da, zwei von dort und so weiter. Daraus machen sie ihre eigene Kompilation. Das Problem der Musikindustrie liegt auf beiden Seiten: bei den Konsumenten, die gratis herunterladen, und bei den Musikern, die keine wirklich attraktiven Pakete mehr schnüren können.

Das können die heutigen Bands nicht mehr?

Nehmen wir Michaels letzte Platte (Anm. d. Red.: Jones meint «Bad», die letzte Platte, die er zusammen mit Michael Jackson im Jahr 1987 produzierte): Wir hatten sieben Songs auf der Platte, die es in die Top Five der Charts schafften, fünf Songs sogar ganz an die Spitze. Man muss die Leute spüren lassen, dass das Paket wertvoll ist, dass es überhaupt irgendeinen Geldbetrag wert ist. Man kann nicht einfach nur einen guten Song auf einem Album haben. Würden Sie denn so ein Album kaufen?

Wahrscheinlich nicht.

Das ist es, was ich sage, das ist logisch. Es ist natürlich einfach, sich über den Zustand zu beklagen. Aber wenn man keine Diagnose hat, kann man auch keine Therapie verschreiben.

Jetzt haben wir eine Diagnose – was wäre die Therapie?

Wir versuchen, eine Lösung zu finden. Ich war im Unterhaus des britischen Parlaments, der politisch entscheidenden Kammer. Ich sprach mit König Juan Carlos in Spanien, wir haben ein Konsortium dort. Ich war im Mittleren Osten, gerade komme ich aus China, sprach dort mit den Leuten von China Mobile. Wir werden einiges ausprobieren. Ich weiss jedoch nicht, ob es funktionieren wird.

Was werden Sie ausprobieren?

Wir tun das, was wir immer getan haben: gute Musik produzieren. Aber die Frage ist: Welches ist der Verkaufskanal? Sicher nicht das Internet, dort wird gestohlen.

Aber auch gekauft.

Per saldo aber bleibt ein Minus. Ähnliches gilt auch für die Filmindustrie. Vor drei Jahren habe ich an der Universität von Peking eine Vorlesung gehalten. Vor dem Universitätsgebäude sass ein kleines Mädchen, das DVD für einen Dollar das Stück verkaufte – billige Kopien. Ich kaufte zwölf Stück, und in der Vorlesung sagte ich, dass in fünf Jahren, wenn ein Chinese zum nächsten Steven Spielberg oder zum nächsten John Lennon oder zum nächsten Stevie Wonder würde, auch niemand bezahle, wenn die Rechte der Künstler weiterhin so missachtet würden. Die chinesische Regierung hat begonnen, das zu verstehen.

Wirklich?

Ich habe mit Regierungsführern gesprochen. Aber China ist ein grosses Land, 1,3 Milliarden Menschen und 580 Millionen Mobiltelefone. Das ist viel. Und das Mobiltelefon ist am besten geschützt, wenn es um eine gute Verhandlungsposition geht in Bezug auf den Verkauf von Musik. Aber ich weiss auch nicht, ob das reicht.

Keine gute Zeit für die Musikindustrie.

Ich bin seit 60 Jahren im Geschäft, habe die besten Zeiten im Musikgeschäft miterlebt, und ich sehe, was jetzt passiert. Das tut richtig weh.

Sie selbst haben doch ausgesorgt.

Es tut weh wegen der jungen Musiker. Ich war im März am Musikfestival South by Southwest in Austin, Texas. 1900 Bands. Sie haben keine Möglichkeit, sich zu vermarkten. Sie alle versuchen, ihr kleines Ding zu starten, und verkaufen zwei- oder dreitausend Alben. Das ist nicht die Antwort auf die Probleme.

Aber welches könnten die neuen Vermarktungsmöglichkeiten sein?

Ich denke, es sind die Mobiltelefone. Es gibt da auch Probleme, aber ich habe die besten Leute geholt, um diese zu lösen: Shawn Fanning, der 1988 als 18-Jähriger alles startete, indem er die Musikaustauschbörse Napster programmierte. Auch Alan Kay ist dabei, einer der Väter der objektorientierten Programmierung, einer der Godfathers des Internets. Wir haben auch Musiker wie Herbie Hancock im Team. Einfach die besten Leute der Welt.

Und was tun diese Leute für Sie?

Wir versuchen zwei Dinge: die Musikindustrie zu retten und den amerikanischen Kindern ihre Wurzeln zu vermitteln. Die verstehen ihre Wurzeln nicht, die haben keine Ahnung.

Was meinen Sie damit?

Die verstehen nicht, dass Hiphop nicht der Ausgangspunkt von schwarzer Musik ist. Es ist alles zusammen: Gospel, Blues, Big Band, Jazz, Hiphop. Menschen auf der ganzen Welt sind von diesen Musikstilen so berührt, dass sie ihre eigenen Musikstile weggelegt und amerikanische Musik adaptiert haben. Oder hören Sie Jodelgesänge?

Nicht wirklich oft.

Hey man, give me a break! Jodelgesänge, echt? Und in der Disco? Jodelgesänge in der Disco? Sicher nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe und respektiere alle möglichen Musikstile. Aber derzeit wird überall amerikanische Musik gespielt, schwarze Musik, sie hat sich durchgesetzt. In Abu Dhabi, in Moskau, in St.  Petersburg, in Angkor Wat. Ich sehe etwas von der Welt, reise jedes Jahr 500  000 Meilen.

Was wissen Sie über die Schweiz?

Ich weiss viel über die Schweiz. Wir kamen zum Beispiel 1961 hierher für die Migros. Wir spielten in jeder Stadt in der Schweiz. Wir hatten aber schon 1953 in der Schweiz gespielt, mit Nat King Cole in Zürich. Und mit meiner Big Band im Jahr 1960. Ich komme schon seit Ewigkeiten in die Schweiz.

Was denken Sie über die Schweiz?

Toll, ein schönes Land. Und dann hatte Claude Nobs auch noch die Vision für das Montreux Jazz Festival. Es startete mit Jazz und ging den Weg von Louis Armstrong bis zum ersten Album von Terence Trent D’Arby. Die ganze Musikevolution. Auch dieses Jahr wieder: Herbie Hancock und Lang Lang zusammen am Piano, eines der unglaublichsten Konzerte, das ich je gesehen habe. Es ist wie ein Zuhause für mich. Ich habe auch einige Shows koproduziert für Montreux, beispielsweise von Miles Davis im Jahr 1991.

Quincy Jones (76) ist der erfolgreichste Musikproduzent aller Zeiten. Mit Michael Jackson hat er das meistverkaufte Album, «Thriller», produziert, ebenfalls die meistverkaufte Single, «We are the world». Er produzierte auch drei Alben mit Frank Sinatra, unter anderem den Song «Fly me to the moon», der 1969 bei der Mondlandung gespielt wurde. Auch im Filmgeschäft war Jones erfolgreich als Produzent von «Die Farbe Lila», für den er die Oscar-nominierte Musik schrieb.