Die Frau fällt einem sofort auf. Nicht nur, weil sie mit Anfang vierzig bemerkenswert gut aussieht. Auch nicht, weil sie mit Kleidern, Gepäck und Uhr die Insignien der Reichen und Schönen mit sich führt. Sondern vor allem, weil das Gesicht von irgendwoher bekannt zu sein scheint...
Viel Zeit zum Grübeln bleibt nicht in der wohlklimatisierten Lounge des Bahnhofs Hualamphong, die einen vom Krach und vom Chaos abschirmt, die ansonsten in Bangkok herrschen. Doch so wie jene Frau stellt man sich das Publikum des Eastern & Oriental Express vor: die Reichen und die Schönen, die das Leben geniessen. Die es sich leisten können, zwischen 1500 und 3000 Dollar für eine Bahnfahrt auszugeben. Die es sich leisten können, 49 Stunden für die 2000 Kilometer lange Strecke Bangkok–Singapur zu investieren, was man im Flugzeug in zweieinhalb Stunden erledigen könnte.
Eine Fahrt im Eastern & Oriental Express gehört zu den touristischen Höhepunkten einer Asienreise, vergleichbar allenfalls mit dem Besuch des «Mandarin Oriental» in Bangkok, des «Raffles» in Singapur oder des «Datai» auf Langkawi. Und das Innere des Zuges würde jedem Luxushotel zur Ehre gereichen: Dicke, handgeknüpfte Teppiche bedecken den Boden, Griffe und Geländer glänzen in poliertem Messing, die Sessel mit ihren Brokatpolstern sind fantastisch bequem, die Mahagonimöbel ebenso stilvoll wie die Kirschbaum-Wandtäfelungen mit handgearbeiteten Rosenholzintarsien. Dazu in jedem der klimatisierten Abteile ein schönes, kleines Badezimmer mit Dusche und Toilette. Nur verdammt eng ist es. 7,8 Quadratmeter müssen reichen für die zwei Tage, und davon geht noch ein Teil weg für jenes Gepäck, das man nicht eingecheckt hat. Dabei ist das schon das State Compartment, die mittelgrosse Kabine. «Das Abteil ist eigentlich für zwei Personen», sagt der Attendant, als er die Koffer bringt, «you are very lucky!» Dem kann man kaum widersprechen. Im kleinsten Abteil, dem Pullman, würde die Fahrt zu zweit wohl für jede Beziehung zur Belastungsprobe.
Um Punkt 10.30 Uhr fährt der Zug mit lautem Hupen und einem kräftigen Ruck an. Lange hält es einen nicht im Abteil. Der interessanteste Platz des Zuges ist ganz an dessen Ende, im halb offenen Observation Car, einer rollenden Veranda: Von hier lässt sich die Landschaft ungehindert bestaunen, die Natur ungefiltert riechen, die Hitze und Feuchtigkeit unklimatisiert spüren.
Nachhaltig sind die Eindrücke bereits in der ersten Stunde Fahrt durch die Slums von Bangkok. Zentimeternah sind die Wellblechhütten an die Geleise gebaut; wer jetzt noch den Kopf aus dem Zug steckt, kommt ohne ihn in Singapur an. Auf den Leinen zwischen den Bahnmasten flattern notdürftig gewaschene T-Shirts, Kinder spielen im Dreck. Zunächst staunt man ob der Klischees, die hier alle so beispielhaft erfüllt werden. Dann stellt sich nach und nach das schlechte Gewissen ein bei jenen, die sich quer durch das Elend in so schamlos hedonistischer Weise fortbewegen. Erst mit der Zeit schwinden die Skrupel, als immer mehr Kinder zwischen den Baracken hervorrennen, neben dem Zug herlaufen, schreien, lachen, winken. Glücklich scheinen sie zu sein, trotz den Umständen. Das beruhigt das Gewissen. Und ist das nahe liegende Thema, um mit den anderen Passagieren ins Gespräch zu kommen.
Ein Drittel von ihnen sind Japaner, ein weiteres Drittel Amerikaner, der Rest Europäer. «Wir haben auch viele Schweizer», sagt Evelyn, die Zugmanagerin, die aus Dübendorf stammt, lange Jahre das Büro der Singapore Airlines in Zürich leitete und seit zwei Jahren in Bangkok wohnt. Das Publikum besteht weniger aus der Welt der Nouveaux Riches oder der Jeunesse dorée als vermutet. Es sind Leute wie Lionel Anthony, ein ehemaliger Venture-Capitalist aus Wales, der sein Unternehmen nach dem ersten Herzinfarkt mit 56 Jahren verkauft hat. «Es soll nicht blasiert klingen, aber es ist gar nicht so einfach, sein Geld sinnvoll auszugeben», sagt er, und da er sich aus Statussymbolen nichts macht, hat er mit seiner Frau, mit der er während vier bis fünf Monaten pro Jahr die Welt bereist, nur die kleinste Kabine gebucht.
Es sind Leute wie David Shelby, ein Grossgrundbesitzer aus England, der viel Geld verdient mit Getreideanbau und der nun wegen der EU-Osterweiterung Angst um seine Subventionen hat. «Das könnte ein grosses Problem für mich werden», sagt er und kratzt sich am Kopf. «Aber was solls, man muss das Leben geniessen, solange es geht.»
Es sind Leute wie Trudy McCutcheon, die für australische Firmen MBA-Absolventen von amerikanischen Topuniversitäten rekrutiert und nun eine Auszeit braucht, um über die Strategie ihres Unternehmens nachzudenken. «Bei mir hat sich plötzlich ein Zeitfenster von drei Wochen für Reisen geöffnet», sagt sie. «Es war jetzt oder nie.»
Es sind Leute wie der ältere Herr mit grauem Haar und Hornbrille, der immer eine dicke Zigarre im Mund hat. Das ist doch … Er ist es tatsächlich: Moritz Suter, Gründer der Crossair und Kurzzeitchef der Swissair. Seit seinem Ausstieg dort bereist er mit seiner Frau die Welt. «Als Unternehmer musste ich auf vieles verzichten, das hole ich jetzt nach», sagt er und zählt gut gelaunt seine Ferienroute auf: Malediven, Eastern & Oriental Express, Langkawi, Bali – an solch einem Kunden hat jedes Reisebüro Freude.
Und es sind Leute wie jene Frau Anfang vierzig, die mit ihrem Freund hier ist, einem deutschen Juwelier, wie sich im Gespräch herausstellen sollte. Sie spricht bevorzugt französisch. Déjà vu.
Vier Stunden geht die Fahrt durch Slums, Reisplantagen, Felder mit Wasserbüffeln, dann folgt bereits der erste Stopp: an der durch den gleichnamigen Film berühmten Brücke am River Kwai. Evelyn scheucht die Passagiere fürs Fotoshooting aus dem Zug, dann geht es auf einem von einem Motorboot gezogenen Floss den Fluss hinauf. Während der Fahrt durch die Mangrovenwälder geben Einheimische in gebrochenem Englisch den Passagieren eine Schnellbleiche in thailändischer Sprache (River Kwai spricht sich «Kwä» und heisst «Fluss des Flusses»), Klimakunde (es gibt hier zwei Jahreszeiten: heiss und sehr heiss) und Kultur (Lotosblüten faltet man und verschenkt sie an orange gekleidete Mönche). Ziel der Flossfahrt ist der Friedhof Chungkai, wo 1700 der 16 000 hier gefallenen britischen und holländische Soldaten liegen. Im Zweiten Weltkrieg mussten 61 000 Gefangene eine 415 Kilometer lange Eisenbahnlinie für das japanische Militär bauen, unter mörderischen Bedingungen: ohne Werkzeug, fast ohne Nahrung, in 24-Stunden-Schichten und in einer durch tropische Hitze, Malaria und Typhus lebensfeindlichen Umwelt. «Can you imagine?», fragt eine wohlbeleibte Amerikanerin ihren Begleiter zwischen den Grabplatten. Da tut das eisgekühlte Erfrischungstuch, das die Crew den schweissgebadeten Passagieren am Friedhofsausgang reicht, gleich doppelt so gut.
Zurück im Zug, steht der Fünfuhrtee mit englischem Gebäck schon bereit. Steward Arnan hat ihn angerichtet. Der Malaie, seit neun Jahren mit dabei, ist die Höflichkeit in Person. «Thanks for calling», sagt er jedes Mal mit einer Verbeugung, wenn man ihn per Klingelknopf ins Abteil holt. Später sammelt er die Pässe ein, um die malaysischen Zollformalitäten erledigen zu können. Die Frau Anfang vierzig in Juweliersbegleitung übergibt ihm einen Schweizer Pass. Der Verdacht, sie komme einem bekannt vor, erhält neue Nahrung.
Zwei Stunden später machen sich die Passagiere bereits schick fürs Abendessen: Jackett und Krawatte, so gibt das Bordmagazin vor, sind für die Herren erwünscht, Abendkleid für die Damen. Eine Inszenierung wie beim Captain’s Dinner einer Kreuzfahrt, nur dass die Gastgeber hier im Hintergrund bleiben. Hauptdarsteller sind die Passagiere.
Während das Dinner serviert wird, hält der Zug im Provinzbahnhof Hua Hin, direkt neben einem Regionalzug. Die beiden Speisewagen kommen nebeneinander zu stehen. Die Fahrgäste auf beiden Zügen starren durch die Fensterscheiben in die jeweils fremde Welt: eng besetzte Holzbänke versus grosszügige Brokatsessel, rote PVC-Tische versus weisses Leinen, Plastikbesteck versus französisches Tafelsilber, Fastfood in Styroporverpackungen versus Hummer und Gänseleber auf italienischem Porzellan, Cola-Dosen versus Burgunder in deutschem Kristallglas. Das ungute Gefühl kehrt zurück.
Das Essen im Eastern & Oriental Express würde jeder First Class gut zu Gesicht stehen: nicht mikrowellenerhitzt wie im Flugzeug, sondern in den beiden winzigen Küchen von Tony Mek und seinem malaysischen Team frisch zubereitet. Dazu erlesene, aber bezahlbare Weine. Bravourös kämpfen die Kellner beim Servieren gegen die Fahrtbewegungen an; je nach Zustand der Geleise ruckelt der Zug bisweilen so heftig wie ein Flugzeug in Turbulenzen. Es ist kein Zufall, dass sich die Weingläser nach oben hin verengen. Normalerweise wird das Essen in zwei Durchgängen serviert. Doch auf dieser Fahrt sind nur 55 der 130 Plätze im Zug belegt, besteht die Zugskomposition nur aus 15 statt 22 Waggons. «Die Japaner geben weniger Geld für Reisen aus, und der Terroranschlag in Bali hat uns auch nicht geholfen», sagt Zugsmanagerin Evelyn. Es gab schon bessere Zeiten für die Betreibergesellschaft Orient Express Hotels. Nicht in ferner, glorioser Vergangenheit: Auch wenn der Zug so aussieht, als wäre er für Queen Victoria persönlich während des Opiumkrieges gebaut worden, ist er doch erst seit zehn Jahren unterwegs. Der Reeder und Milliardär James B. Sherwood hat sich seinen Traum 30 Millionen Franken kosten lassen, den einst in Neuseeland rollenden Zug nach dem Vorbild des Hollywoodklassikers «Shanghai Express» (mit Marlene Dietrich, 1932) umzubauen und zwischen Singapur und Bangkok auf die Reise zu schicken.
Egal: Die Illusion, in einer rollenden Zeitmaschine unterwegs zu sein, ist perfekt. Besonders wenn man abends in den Rattanmöbeln des Saloon Car sitzt, die Kristallspiegel mit den eingravierten Lotosblumen bewundert und dabei Lionel Anthony zuhört, wie er über den raschen Fall Singapurs im Zweiten Weltkrieg philosophiert. «Die Engländer haben die Japaner vom Meer erwartet und ihre Kanonen in diese Richtung fest montiert», erzählt er und nippt an einem Glas Cognac. «Aber die Japaner kamen durch den Dschungel und fielen ihnen in den Rücken.» William, der Pianist, der mit seiner Kugelglatze und dem Schnauzbart aussieht wie der Bösewicht in Karatefilmen, spielt derweil dezent «As time goes by» und «Let it be». Als hätte er zugehört.
Die Nacht wird so unruhig, wie der Zug fährt. Am nächsten Morgen hat die Landschaft gewechselt. Statt Reisfeldern durchqueren die Trassen nun Kautschukplantagen, statt buddhistischer Tempel sieht man islamische Moscheen. Und immer wieder Dschungel, der jenseits von Landes- und Religionsgrenzen das Bild prägt. Nicht atemberaubend, aber schön. Seit dem Nachtstopp ist der Zug um ein Drittel leerer: Alle Japaner sind in Kuala Lumpur ausgestiegen. Wenn man nur eine Woche Urlaub pro Jahr hat, kommt es auf jeden Tag an. Den zweiten Ausflug, den auf die malaysische Ferieninsel Penang, werden sie nicht mehr miterleben. Nicht dass sie viel verpasst hätten: eine Rikschafahrt durch die ehemalige Kolonialstadt Georgetown und den Besuch eines Tempels. Aber die Überfahrt bietet eine weitere Gelegenheit, mit den anderen Passagieren ins Gespräch zu kommen. Mit Moritz Suter beispielsweise über die Vergangenheit der Swissair und die Zukunft der Swiss. Oder mit jener Schweizerin über sie selbst. Sie kommt aus Crans, so viel ergibt sich dabei, und heisst Lolita. Ein eher seltener Vorname. Der Groschen will trotzdem nicht fallen.
Inzwischen ist das Reisetempo gemächlicher. Bordingenieur Pau Fek, der aus Singapur stammt und wie die meisten anderen Crewmitglieder seit Anfang an mit dabei ist, erklärt: «In Malaysia können wir wegen der Gleise nur 50 statt 60 Meilen fahren.» Es stört nicht: Entschleunigung ist das Zauberwort. Käme man nach der zweitägigen Fahrt statt in Singapur wieder am Ausgangsbahnhof Bangkok an, es würde wohl die wenigsten stören: Der Weg ist das Ziel.
Am nächsten Mittag rollt der Zug in die Endstation. Singapurs Bahnhof Keppel Road hatte einst die Kolonialmacht England für 999 Jahre dem malaysischen Staat als Hoheitsgebiet zugesprochen. «Welcome to Malaysia» heisst es demzufolge in der Bahnhofshalle, deren Zustand auch sonst nicht dem Standard Singapurs entspricht. Das Zugteam stellt sich in Reih und Glied vor der Lokomotive auf, um sich von den Gästen zu verabschieden. Herzlichen Dank für alles, Evelyn, und noch eine letzte Frage: Diese Frau dort meine ich irgendwo schon mal gesehen zu haben …? «Gut möglich», lächelt Evelyn. «Das ist Lolita Morena. TV-Moderatorin, ehemals Miss Schweiz und Ex-Frau von Fussballer Lothar Matthäus.»
Lolita Morena. Natürlich!