Zeig mir deine Schuhe und ich sage dir, wer du bist. Frauen wussten es schon immer und Männer lernen es langsam auch. Gutes Schuhwerk ist das Fundament jeder guten Kleidung und nicht wenige schwören sogar darauf, dass man dem Menschen von der Sohle direkt in die Seele blicken kann.
Gute Schuhhersteller gibt es in ganz Europa, doch die beiden wichtigsten Rivalen für klassische Herrenschuhe sind Italien und England. Die Eleganz der Produkte aus den Häusern Gucci, Ferragamo, Bruno Magli und so weiter ist unbestreitbar, doch für Puristen und Qualitätsfanatiker ist England noch immer unübertroffen. Der Schriftsteller Thomas Bernhard brachte es auf den Punkt: «In Italien immer wieder Schuhe gekauft, und dann doch immer nur die englischen angezogen.»
Die Kleinstadt Northampton, rund eine Autostunde von London, ist seit über hundert Jahren das Zentrum der britischen Schuhindustrie. Einst gab es hier rund fünfzig verschiedene Fabriken, heute sind es noch ein gutes halbes Dutzend. Church ist die bekannteste Marke, die jedoch inzwischen zum italienischen Modegiganten Prada gehört und leider in Sachen Qualität nur noch ein gutes industrielles Massenprodukt ist. John Lobb ist der von Prince Charles favorisierte Schuhmacher, der ursprünglich nur Massschuhe fertigte, aber seit der Übernahme durch Hermès nun auch eine Ready-to-wear- Kollektion im italienischen Stil produziert. Wenn man die in Massanzüge aus Savile Row gekleideten Männer der britischen Upper Class nach ihrer Lieblingsschuhmarke fragt, rangiert Edward Green ganz oben auf der Liste. Das Motto dieser seit 1890 existierenden Schuhmanufaktur heisst «the finest shoes in England for the discerning few» – für die anspruchsvolle Elite, sozusagen.
Edward Green ist die einzige noch unabhängige Firma, welche in Handarbeit eine kleine Stückzahl rahmengenähter Schuhe herstellt, die in Design und Verarbeitungsqualität beinahe das Niveau eines massgefertigten «bespoke shoe» erreichen. Nur rund 10 000 Paar Schuhe verlassen jährlich die Werkstatt, wo die besonders delikaten Partien des Leders noch mit Nadeln aus Schweineborsten statt aus Stahl handgenäht werden.
Die Schuhe von Edward Green vereinen mediterrane Eleganz mit dem britischen Sinn für Understatement und der Gewissheit, dass weniger manchmal mehr ist: Weniger konservativ langweilig als die Konkurrenz aus Northampton und weniger modisch affektiert als die italienischen Rivalen. «Wir sind keine Luxusmarke mit glamourösen Werbekampagnen und überdesignten Flagshipstores», erklärt Firmenchefin Hilary Freeman die Unternehmensphilosophie. «Wir machen keine Werbung, unser Produkt spricht für sich selbst. Ein Edward-Green-Kunde sucht nicht Markenprestige, sondern höchste Qualität, und darin investieren wir.»
Edward Green bietet einen kompletten Revisionsservice
Die kreative Kraft hinter dieser Philosophie war bis zu seinem Tod vor drei Jahren John Hlustik, der die beinahe bankrotte Firma 1983 übernommen und zu neuem Erfolg geführt hatte. Als einer der renommierten britischen Schuhdesigner für andere Marken bestand Hlustik in seiner eigenen Firma darauf, ohne Kompromisse den bestmöglichen Schuh zu kreieren und dann den dafür nötigen Preis von 600 bis 1000 Franken zu verlangen. Er schaffte es ausserdem, die alte britische Regel «no brown after six» zu unterwandern und seine Kunden mit grossem Erfolg von der Attraktivität von braunem Leder zu überzeugen.
Heute ist einer seiner begabtesten Schüler für das Edward-Green-Design verantwortlich. Tony Gaziano aus Northampton, dessen Vorfahren aus Sizilien stammen und der ursprünglich Architekt werden wollte, ist ein würdiger und äusserst sympathischer Nachfolger. Nach über zehn Jahren im Business bei Edward Green und danach beim Londoner Massschuhmacher Cleverley kennt Gaziano jeder der Dutzende von Arbeitschritten im Herstellungsprozess aus eigener Erfahrung, von der Auswahl des schwer erhältlichen pflanzengegerbten Kalbsleders bis zur Politur, wo den braunen Schuhen von Hand eine individuelle Farbschattierung verliehen wird, die von Anfang an einen Patina-Look verleiht. Das Zeichen eines wirklich guten Schuhs ist bekanntlich, dass er bei guter Pflege von Jahr zu Jahr immer schöner wird. Wenn die Sohle einmal abgetragen ist, bietet Edward Green einen kompletten Revisionsservice, bei dem der Schuh auseinander genommen wird und auf der originalen Holzleiste mit neuer Sohle wieder zusammengenäht wird. «Es ist erstaunlich, was für eine starke emotionale Bindung gewisse Herren mit ihren alten Edward-Green-Schuhen entwicklen. Wir erhalten manchmal seitenlange Dankesbriefe, wenn wir sie ihnen nach der Reparatur wieder wie neu zurückschicken», erzählt Hilary Freeman lachend.
Sogar Lachs- und Froschleder werden verarbeitet
Der Tragkomfort der Schuhe ist ausgezeichnet, denn die erhältlichen Grössen sind nicht nur wie üblich auf die Fusslänge, sondern auch auf sieben verschiedene Fussbreiten von A bis G abgestimmt. Auf Wunsch ist jedes Modell in diversen Farbschattierungen und mit unterschiedlich dicken Leder- oder Gummisohlen erhältlich, der Kunde kann sich somit seinen idealen Schuh «made to order» anfertigen lassen.
|
Seit einem Jahr bietet Edward Green mit grossem Erfolg nebst «made to order» auch «made to measure» oder «bespoke», wie der Fachausdruck für massgeschneiderte Schuhe lautet, an. Tony Gaziano persönlich ist für diesen Service verantwortlich, wo für 3500 bis 5000 Franken pro Paar dem Kunden jeder auch noch so extravagante Spezialwunsch erfüllt wird und die Materialliste von Krokodil über Haifisch und japanischen Rochen bis hin zu irischem Lachs- und Froschleder reicht. «Schon unsere Ready-to-wear-Kollektion ist zu 90 Prozent handgefertigt, und viele Designs sind von massgeschneiderten Schuhen im Stil der Zwanziger- und Dreissigerjahre inspiriert», erklärt Gaziano. «Unser Bespoke-Service ist deshalb einfach eine Ergänzung für diejenigen, die einen besonders ausgefallenen Geschmack haben und ein von Meisterschuhmachern gänzlich handgefertigtes Unikat besitzen wollen. Für mich ist diese Arbeit eine sehr interessante Herausforderung, weil ich mit Materialien und Formen experimentieren kann und weil mich die zwischenmenschliche Interaktion mit meinen Kunden fasziniert.» Die Mehrheit dieser Kundschaft kommt aus den USA und aus Japan, wobei die Letzteren nicht immer einfach zu befriedigen sind. «Japaner haben sehr kurze, breite und fleischige Füsse, und dennoch wählen die meisten sehr schmale, spitze Schuhdesigns, was oft anatomisch einfach nicht möglich ist. Manche bestehen entgegen meinem Rat darauf und zwängen sich nachher in Schuhe, die viel zu eng für sie sind. Anscheinend haben Japaner eine viel höhere Schmerztoleranz als wir Europäer.» Manche Kunden ordern gleich ein halbes Dutzend Paar Massschuhe und überlassen ihm das Design, andere wiederum sparen jahrelang für ein einziges Paar und wissen ganz genau, was sie wollen. «Mir macht beides Spass, denn im Gegensatz zu den alten etablierten Massschuhmachern habe ich noch immer die Ambition und die Neugier, meine Designs weiterzuentwickeln und Neues auszuprobieren. Genau deshalb kommen viele erfahrene Kunden zu mir.»
Muss man als erfolgreicher Schuhdesigner Schuhfetischist sein? Tony Gaziano verneint lachend. «Ich liebe meine Arbeit und ich habe eine Leidenschaft für Schuhe, doch das hat mit Handwerk und nicht mit Fetischismus zu tun. Manchmal sehe ich gewisse ganz aufgeregte Kunden und würde am liebsten sagen: Komm, es ist zwar ein sehr schöner Schuh, aber letztlich ist es doch bloss ein Schuh!»
Jann Schwarz lebt als freier Autor in England und in der Schweiz.