So einen wie den Finollo dürfte es eigentlich gar nicht mehr geben. So einer ist aber typisch für Genua: Gilt als eine der feinsten Adressen Italiens, bezeichnet sich als «einen der letzten wahren Antiglobalisten» der Modewelt, lässt dabei eine Spur Ironie über sein Gentleman-Lächeln huschen und weist stolz darauf hin, dass die Jugendstilvitrinen seiner Schneiderei noch genau so aussehen wie anno 1899. Damals hatte Urgrossvater Emanuele Finollo das Atelier eröffnet und bestückte fortan die genuesischen Adels- und Bürgersherren mit massgeschneiderten Krawatten und Hemden – alle aus besten englischen Stoffen in meisterhafter Handarbeitet gefertigt. Finollo schneiderte Giovanni Agnelli oder dem Herzog von Windsor die Hemden und Pyjamas auf den Leib und bedient noch heute Aristokraten, Industrielle und Politiker – Männer, denen Qualität über alles geht und die für ein Hemd gerne 600 Euro bezahlen. Die meisten von ihnen sind Italiener. Finollo kennt indes auch viele amerikanische, japanische, neuseeländische – und auch schweizerische – Kunden. Namen nennt Finollo selbstverständliche keine, eine Frage der Diskretion.
Finollo macht keine Werbung
Mittlerweile ist die dritte Finollo-Generation im Geschäft: Daniela Finollo und ihr Ehemann Roberto Linke. Da Linke das Geschäft wie ein echter Finollo führt und dessen Philosophie förmlich verkörpert, wollen wir ihn ebenso Finollo nennen. Sein Geschäft befindet sich seit über hundert Jahren an der eleganten Via Roma, gleich neben den grosszügigen Auslagen von Ferragamo, Vuitton, Rykel und Dolce & Gabbana. Während sie mit protzigen Schaufenstern um die Aufmerksamkeit der Passanten buhlen, sind Finollos winzige Vitrinen so altbacken ausgestattet, dass sein Lokal kaum zu finden ist. Um ihn herum modernisieren, internetten und werben sie – doch Finollo geht das alles nichts an. Er verweigert sich dem World Wide Web, will selbst dann keine Werbung, wenn sie sein eigener Sohn, ein erfolgreicher Genueser Werber, für ihn lancieren würde. Wozu auch, fragt Finollo, als ob es völlig normal wäre, lediglich 600 Hemden pro Jahr zu schneidern. Und wenn er gebeten wird, doch wenigstens in Rom eine Filiale zu eröffnen, lehnt er ab: «Keine Kapazität.» Selbstverständlich ist er zu diskret, um sich über seine Konkurrenz, die Edelschneider in Mailand oder Neapel, zu äussern. «Die produzieren zehntausende von Hemden und Anzügen pro Jahr», sagt er lediglich, und seine Augen schauen etwas mitleidig, «das kann unmöglich in Handarbeit geschehen.»
Qualität auf höchstem Niveau
In seinem Atelier hingegen arbeiten die vier Schneiderinnen von Hand – eine von ihnen erzählt stolz, dass sie seit über vierzig Jahren für Finollo tätig sei. Er glaube, sagt Finollo, sein Atelier mit der individualisierten Massarbeit sei für Qualitätshemden weltweit einmalig.
Qualität auf höchstem Niveau, unerschütterliches Selbstbewusstsein und traditionsreiches Handwerk: Geschäfte mit dieser Kombination findet man in Genua mehr als anderswo. Flaniert man durch die engen Gassen der Altstadt – ein faszinierendes Labyrinth voller versteckter Schönheiten – entdeckt man an jeder Ecke Lokale, Cafés oder Werkstätten, die seit über hundert Jahren ihre Spezialitäten feilbieten und ihre Betriebe im altehrwürdigen Stil der Gründerzeit belassen haben: Hier in dritter Generation die massgefertigten Schuhe von Stagno, da die karamellisierten Feilchenblüten und kandierten Früchte der Confiserie Romanengo – sie werden weltweit exportiert, auch in den Globus nach Bern. Hier das im Jugendstil gehaltene, romantische Caffé degli Specchi, dessen Spiegel- und Kachelgewölbe jeder Reiseführer rühmt, und da die winzige Bottega del Barbiere, die wegen ihrer original Art-déco-Einrichtung unter Denkmalschutz steht und wo neben den multikulturellen Quartierbewohnern auch des Öfteren italienische Prominente sich rasieren lassen. Delikatessgeschäfte wie das Serafina mit seinen Einmachgläsern voller Oliven, Kapernäpfel und eingelegter Auberginen; einfache Trattorien wie Sa Pesta mit den knusprigsten Farinate (Kichererbsenfladen) der Stadt oder die Antica Drogheria Torielli, ein Spezereiladen mit über 300 Gewürzen aus aller Welt, in dem der ehemalige Kolonialgeist Genuas weiterlebt – sie alle haben eines gemeinsam: Ihre Besitzer betreiben sie seit Jahrzehnten mit grosser Leidenschaft und viel Sachkenntnis. Das spürt man. Und deshalb macht es so Spass, bei ihnen einzukaufen.
Ohne degustieren, fachsimpeln und sich Geschichten von anno dazumal anhören, geht das meistens nicht – zum Glück, denn im Gespräch tauen die Genuesen allmählich auf und gewähren dem Besucher Einblick in ihr warmherziges Wesen. Sie sind nun mal wie ihre Stadt, geben sich anfangs zurückhaltend. Genua wirft sich nicht dem erstbesten Schnelltouristen an den Hals. Sie, die Stolze, will behutsam entdeckt werden, ähnlich einer Tochter aus reichem Haus, die sich ihren Verehrern erst nur im Lumpenkleid präsentiert – um zu prüfen, ob man sie ihretwegen und nicht des Geldes wegen erobern will. Wer nur oberflächlich durch die Stadt rast, wird Genuas Schönheit nicht finden – obschon Prunk und Pracht seit über fünf Jahrhunderten mit ihr verknüpft sind. Zu Zeiten Columbus’ war sie die reichste, schillerndste und innovativste Stadt der damaligen Welt. Dieses Erbe hat sie sich bis heute in Form zahlreicher fürstlicher Palazzi, Kirchen, Kunstgalerien und der grössten zusammenhängenden Altstadt Europas bewahrt – das Centro Storico erstreckt sich über 113 Hektaren, das entspricht mehr als 150 Fussballfeldern. Sicherlich: Die Zeiten des genuesischen Adels und der grossen Seefahrer sind längst vorbei, die Hafenmetropole hatte nach dem Zweiten Weltkrieg schwerste Wirtschaftskrisen zu überstehen, ihre Altstadt verkam zu einem Geviert mit zahlreichen halb verfallenen Ruinen und dunklen Gassen, in denen sich Drogenhändler, Hafenprostituierte und illegale Einwanderer herumtrieben.
Genuas Altstadt wird saniert
Touristen benutzten die Stadt schliesslich bloss noch als Zwischenstopp im grossen Fährhafen – um rasch weiter gen Süden zu ziehen.
Seit rund 15 Jahren aber ist ein Revival der Altstadt im Gang. Es begann damit, dass die Architekturabteilung der Universität mitten ins Centro Storico versetzt wurde und fortan Studenten die vernachlässigten Gassen eroberten und eine starke Polizeipräsenz für mehr Sicherheit sorgte. Neue Bars und Restaurants entstanden, kleine, moderne Ladenlokale eröffneten.
Zwischen 1987 und 1991 wurde das im Zweiten Weltkrieg zerbombte Opernhaus Carlo Felice wieder aufgebaut. Ein Jahr später leistete sich Genua ein komplettes Facelifting des Alten Hafens – der Porto Antico ist seither mit seinen Freiluftkonzerten, Museen, Kinos und Restaurants ein beliebtes Zentrum für Populärkultur- und Vergnügungsveranstaltungen. 2001 wurden im Hinblick auf den G-8-Gipfel schliesslich zahlreiche Kirchen und historische Palazzi renoviert, ganze Strassenzüge verkehrsberuhigt, und immer mehr innovative Jungunternehmer hielten in der Altstadt Einzug. Sie kommen mit neuen Business- konzepten, mit trendigen Bars und Boutiquen, haben aber eines gemeinsam mit Genuas traditionellen Geschäften: Diesen Stolz aufs eigene Produkt, dieses Qualitätsstreben. Mario Rivaro beispielsweise produziert in seiner neuen Cremeria delle Erbe das beste Eis von Genua – sagen die Genuesi. Und es stimmt: Seine Gelati kosten zwar doppelt so viel wie die der Konkurrenz, schmecken dafür aber auch viel fruchtiger, echter und leichter – und sie enthalten keine künstlichen Farbstoffe oder Konservierungsmittel und nur so wenig Zucker und Fett wie nötig. Probiert Mario eine seiner Kreationen, macht er ein Gesicht wie ein Weinkenner bei einer Degustation. Er und sein Partner Stefano sind nicht einfach Glace-Produzenten – sie sind die ultimativen Gelati-Gourmets und nötigen jeden Kunden, an ihrer Leidenschaft mit zahlreichen Degu-Löffelchen teilzuhaben.
Mit Hingabe arbeiten auch die Mitarbeiter von Mentelocale, der kulturellen Drehscheibe Genuas, die seit zwei Jahren im altehrwürdigen Palazzo Ducale ein Online-Stadtmagazin, eine Bar und ein Restaurant betreibt – alles sehr hip und beliebt bei den Einheimischen. Surft man durch ihr Magazin www.mentelocale.it, erlebt man mit jedem Klick die Dynamik Genuas: «Es eröffnet beinahe jede Woche ein neuer Club, eine Galerie oder ein Restaurant, und wir sind die, die darüber als Erste berichten», sagt Mentelocale-Geschäftsführer Paolo Musso. Noch ist er mit Genua nicht ausreichend zufrieden – auch dies ein Zeichen für den Ehrgeiz der Einheimischen. Er, der Pionierunternehmer, fordert noch mehr Dynamik, noch mehr Innovation, denn «Genua hat grosses Potenzial», ist er überzeugt. Vor allem, so hofft er, soll die Weltöffentlichkeit die Stadt nicht mehr länger auf die brutalen Polizeieinsätze des G8 reduzieren. Die Vergehen der Sicherheitskräfte hat sie zu Unrecht mit einem Negativ-Image bestraft. «2004 ist unsere Chance», sagt Musso, «dann sind wir Kulturhauptstadt Europas und können den Besuchern zeigen, wie reichhaltig Genua wirklich ist.»
Genua wird die Werbetrommel indes nicht gross rühren. Es ist mit dieser Stadt ein wenig wie mit Finollos Understatement: Er versteckt die Herstelleretikette im Innenärmel seiner Hemden: «Wer Finollo trägt, hat es nicht nötig, mit einer Marke zu protzen», sagt er. Und: «Wer wissen soll, dass jemand Finollo trägt, der weiss es auch ohne sichtbaren Markennamen.» So wird auch nur der wissen, was Genua zu bieten hat, der einen Sinn für die Grösse einer unaufdringlichen Stadt zu entwickeln weiss.
Gabriela Bonin lebt und arbeitet als Journalistin in Italien und in der Schweiz.
|