Eine Aussicht wie Dirk Lohmann geniesst kaum jemand in Zürich. Vom obersten Stock des ehemaligen IBM-Gebäudes am General-Guisan-Quai aus blickt der begeisterte Skifahrer über den See in die Alpen, ja bei Föhn drückt das prächtige Panorama durchs Fenster herein. Hinter den Bäumen verbergen sich rechterhand die Paläste der anderen Versicherungsgesellschaften, und den Ufern entlang ziehen sich die Villen, so weit das Auge reicht.
Der Chef von Converium ist ein typischer Zürcher der neuen Art: In einer deutschen Auswandererfamilie in Detroit aufgewachsen, kam er vor sechs Jahren aus Hannover an die Limmat, um aus dem Rückversicherungsgeschäft der «Zürich» ein Unternehmen zu bilden. Und als der angeschlagene Finanzkoloss sich 2001 von Teilen trennen musste, wagte sich Converium in die Selbstständigkeit. Dirk Lohmann führt vom General-Guisan-Quai aus Gesellschaften in Köln und New York und macht Geschäfte in aller Welt – der Hauptsitz von Converium ist, aus Steuergründen, allerdings in Zug.
Was Dirk Lohmann von seinem Arbeitsplatz aus sieht, will Winy Maas radikal ändern. Der holländische Stararchitekt träumt, im Auftrag von Avenir Suisse, von «Superzürich». Hochhäuser stehen rund um den See, Hängebrücken verbinden Gold- und Pfnüselküste, grosszügige Freizeitanlagen werten die dicht gebaute Stadt auf. «In Superzürich kann man locker sieben Millionen Bewohner unterbringen», sagt Winy Maas, «die ganze Bevölkerung der Schweiz.»
Der Architekt setzt damit, zumindest am Computer, in Stahl, Beton und auch viel Holz um, was Thomas Held als Vordenker von Avenir Suisse aus den ökonomischen Zahlen herausliest: Schon heute lebt die Schweiz in und von Zürich, einem Superzürich, das sich allerdings nicht um den See zusammenballt, sondern von Baden bis Frauenfeld und von der Rigi bis an den Randen ausdehnt. Diese Metropole ist der – einzige – wirtschaftliche Motor des Landes. Das beweisen die Geldströme, die der Neue Finanzausgleich national auslöst: Vier Fünftel der Kantone bekommen bis zu dreistellige Millionenbeträge; nur zwei Kantone, Zürich und Zug, bezahlen dafür. Was für Zürich gut ist, schliesst Held daraus, ist auch gut für die Schweiz.
«Die Randregionen können sich am günstigsten entwickeln, wenn sie dem Zentrum zudienen», empfahl er deshalb an einem Symposium zum 200-Jahr-Jubiläum des Kantons Thurgau. Damit provozierte er allerdings Protest: Die ehemaligen Untertanen wehren sich dagegen, erneut unter die Dominanz von Zürich zu geraten, notfalls auch wider die wirtschaftliche Realität. Wie die beiden anderen Regenerationskantone, die an Zürich grenzen, St. Gallen und Aargau, macht der Thurgau beim Standortmarketing der Greater Zurich Area AG nicht mit – im Gegensatz zu Graubünden oder Solothurn.
Die verlachten Agglos mit ihrem AG oder TG auf dem Nummernschild schauen denn auch schadenfreudig zu, wie die Metropole gegenwärtig mit Problemen kämpft. Eine «veritable Deprokrise» keime in der Stadt, spottete Max Dohner in der «Aargauer Zeitung», die zur publizistischen Macht im Mittelland heranwachsen will. Doch trotz dem Platzen der Blasen, dem Dümpeln der Finanzflaggschiffe und dem Erbleichen der «Bööggen auf den Steuerbrücken» merke Zürich nicht, was es geschlagen hat: «Es stanzt nach wie vor aus der Schweiz ein Stück namens ‹Downtown Switzerland› und hält die anglo-servile Hülse für den Kern, dabei ist es doch – echt zürcherisch gesprochen – nur das Bütschgi.»
Die Zürcher und vor allem die zugezogenen Neozürcher verdienen mit ihrer Überheblichkeit den Spott, Zürich aber braucht mit seinen Schwierigkeiten mehr Anteilnahme: Denn sie betreffen das ganze Land. Sie begannen nur mit dem Grounding der Swissair und der Krise von Swiss und Unique, dem mit zürcherischer Grosskotzigkeit umbenannten Flughafen Kloten. Noch immer lässt sich zwar trefflich darüber streiten, ob das Land für seine internationale Anbindung Flugzeuge mit dem Schweizerkreuz am Heck braucht. Die ökonomischen Fakten aber bleiben unwiderlegt: Gemäss einer Studie der Zürcher Hochschule Winterthur hängen 93000 Vollzeitstellen vom Fliegen ab, 6 Prozent des Volkseinkommens des Kantons und 2,3 Prozent desjenigen der Schweiz. Und die «Glatttalstadt» um den Flughafen, die (wäre sie eine politische Einheit) viertgrösste Stadt des Landes, bietet mit 120000 Einwohnern 100000 Arbeitsplätze an, erzielt mit 10 Milliarden Franken die zweithöchste Wertschöpfung aller Regionen des Kantons (Stadt Zürich 47 Milliarden Franken, Winterthur 6 Milliarden Franken) und entwickelt sich dank den Hauptquartieren von internationalen Konzernen, die die Nähe zum Flughafen suchen, zur «Stadt», die schweizweit am kräftigsten wächst.
Noch schwerer wiegt, dass nicht nur das Fluggeschäft, sondern auch der Finanzplatz mit einer Flaute kämpft. Er beschäftigt mehr als ein Fünftel der Arbeitnehmenden in der Agglomeration und erzeugt fast die Hälfte des Steueraufkommens der Stadt. Und das Geschäft mit Geld aus aller Welt sorgt nicht nur für Einkommen bei den Banken und den Versicherungen, sondern auch bei den Telekomunternehmen und den Immobilienverwaltern, bei Grieder, Confiserie Sprüngli und Grand Hotel Dolder, für den Anwalt an der Bahnhofstrasse und die Ärztin in der Hirslanden-Klinik, die Bally-Arbeiterin im Tessin und den Hotelier in St. Moritz.
«Wir bleiben Nummer eins der Welt», liess die BILANZ die Bankiers im letzten «Zürich-Special» vor vier Jahren noch behaupten. Inzwischen ist, nach den Milliardenverlusten der vergangenen Jahre, dieses Selbstbewusstsein der führenden Figuren des Finanzplatzes angeschlagen – und einige gehören gar nicht mehr dazu: Gleich drei aus dem Quintett, das die BILANZ als Botschafter für den Erfolg von Zürich in der Welt vorstellte, verloren ihre Topjobs, weil sie den Vorstoss rund um den Globus allzu forsch vorantrieben, neben SAir-Chef Philippe Bruggisser der CS-Turbo Lukas Mühlemann und der «Zurich»-Zampano Rolf Hüppi. (Die beiden, die sich immer noch glänzend halten, sind Christoph Blocher und Ernst Tanner, Chef von Lindt & Sprüngli.)
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Statt der gescheiterten Schweizer Globalisierer übernehmen immer mehr Ausländer bei den stolzen Finanzinstituten die Führung: neben Dirk Lohmann bei Converium der Deutsche Oswald Grübel und der Amerikaner John Mack bei der CS, der Amerikaner James Schiro bei der «Zurich», der Brite John Coomber bei der Swiss Re, der Belgier Roland Chlapowski, allerdings nur vorübergehend, bei der Swiss Life und gar der Basler Marcel Ospel bei der UBS. Und mit den Chefs müssen immer mehr ihrer Untergebenen, ohne goldenen Fallschirm, eine neue Stelle suchen.
Finanzplatz Zürich: dead or alive? Die Frage bewegt nicht nur alle, die in der Region mit Geld arbeiten, sie muss die Stadt und das ganze Land beschäftigen. Denn wie gut es der Schweiz geht, hängt tatsächlich davon ab, wie gut es dem Finanzplatz Zürich geht. Die Diskussionsrunde von «Thought Leaders», die First Tuesday Anfang Mai im Gottlieb-Duttweiler-Institut nachdenken liess, bestand deshalb zwar vorwiegend aus Bankern, aber sie entwickelte ihre Szenarien für die Zukunft von ganz Zürich.
Allen erfreulichen Szenarien ist gemein, dass Zürich für Ausländer attraktiv bleiben und noch attraktiver werden muss, gerade auch als Arbeitsmarkt. Denn zwar stehen Tausende von Bank- und Versicherungsfachleuten auf der Strasse, die Finanzinstitute finden aber kaum jemanden für die Stellen, die sie besetzen müssen. «Wir sehen einen asymmetrischen Arbeitsmarkt, typisch für einen Strukturwandel, der sich beschleunigt», sagt Stephan Kux, Wirtschaftsförderer des Kantons Zürich. «Es gibt viele qualifizierte Leute, die nicht die richtigen Qualifikationen haben.» In manchen Fällen stimmt deshalb das Amt für Wirtschaft und Arbeit, nach Abklären wegen des Vorrangs der Ansässigen, der Einstellung von Ausländern zu: Spezialisten etwa aus Osteuropa bringen Ausbildungen, Sprachfähigkeit und interkulturelle Kompetenz mit, wie sie nur wenige Schweizer vorweisen können.
Nicht nur die Finanzinstitute suchen hoch qualifizierte Fachleute, auch Hightech- oder Medtechfirmen finden nicht mehr genügend Ingenieure. Und dazu wollen die Wirtschaftsförderer mit verstärktem Engagement Unternehmensgründer aus dem Ausland anziehen, Jungfirmen und Konzernzentralen. Dies gelang in den letzten Jahren mit der Ansiedlung von Nobel Biocare (Dentalimplantate), Novo Nordisk (Pharma) oder Bombardier (Schienenfahrzeuge), denn Zürich hat viel zu bieten: Gemäss einer Studie der Personalberaterin Mercer gilt es als die Stadt mit der höchsten Lebensqualität weltweit, vor Genf, Vancouver und Wien. «Dabei gab es bisher nur zwei Tolggen», weiss Stephan Kux, «das Klima und die Zugänglichkeit des Arbeitsmarktes.»
Gegen Kälte, Regen und Hochnebel können die Wirtschaftsförderer kaum etwas machen, wohl aber für den freien Zugang zu Jobs. «Wir streben die konsequente Integration von Arbeitsmarktpolitik und Standortentwicklung an», betont Stephan Kux. Die Arbeitsbewilligung lässt sich per Internet einreichen und in einzelnen Fällen innert Minuten erteilen: «Das finden Sie sonst nirgends auf der Welt.»
Vor allem aber wollen Zürich und die Greater Zurich Area ihre Qualitäten besser darstellen, im Verbund und nicht mehr als Konkurrenten. Ihre bunten Drucksachen seien austauschbarer Schrott, hören die Wirtschaftsförderer von Investoren. Deshalb lassen sie jetzt die Spezialisten der Baarer Firma Arthesia für Zürich eine Story erzählen: «Lieber eine gute Botschaft entwickeln, die ein paar Jahre hält, als eine verunglückte Broschüre nach der andern herausgeben», sagt Stephan Kux. Die Story soll Zürich bescheinigen, was es gemäss dem Autor Richard Florida für «The Rise of the Creative Class» braucht: Talent – Technologie – Toleranz.
Die Metropole will so helle Köpfe, aber auch schräge Vögel anziehen. Sie sollen Visionen entwickeln, für sich selbst und ihre Unternehmen, aber auch für die Stadt und die Region. So wie Winy Maas, der den Zürchern, die einst «freie Sicht aufs Mittelmeer» forderten, Brücken vor den Kopf bauen will. Es wird sich weisen, ob der Holländer die Menschen in «Superzürich» für diese Aussichten begeistern kann.
Markus Schär
ständiger Mitarbeiter BILANZ.
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