Fast an der Grenze zu Italien, in der Südspitze der Schweiz, liegt unweit des Bahnhofs von Mendrisio das Architekturstudio von Mario Botta. Von hier aus leitet der 74-jährige Tessiner seine Baustellen auf der ganzen Welt, hier stehen die zahlreichen Maquetten seiner aktuellen Projekte – etwa von der neuen Kunstakademie in Shenyang im Norden Chinas, auf deren Riesenbaustelle rund 10'000 Personen in drei Schichten arbeiten, von den Thermen in Baden, vom Theater der Architektur, das diesen Herbst in Mendrisio eröffnet werden soll.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Und natürlich vom neuen Stadion für Ambrì-Piotta. Dort tut sich aber derzeit wenig, denn die Clubverantwortlichen haben das Geld für die «neue Kathedrale der Leventina», wie Botta das Stadion nennt, nicht beisammen.

Herr Botta, die Chancen stehen gut, dass Ihr Heimatkanton, das Tessin, nach knapp 20 Jahren wieder einen Bundesratssitz bekommt.
Mario Botta*: Wir werden sehen: Wer hoch fliegt, kann tief fallen.

Wie wichtig ist es denn, dass das Tessin wieder in der Landesregierung vertreten wäre?
Es ist vor allem wichtig, einen guten Bundesrat zu haben. Letztlich ist es egal, ob er Tessiner oder Berner ist. Und ehrlich gesagt: Ich sehe bis anhin keine überzeugenden Kräfte. Weder im Tessin noch sonst wo.

Diese Aussage dürfte den Kronfavoriten 
Ignazio Cassis wenig freuen.
Ich habe Ignazio Cassis ein paar Mal getroffen. Er scheint mir eine ehrliche Person zu sein. Das ist schon nicht schlecht. Aber ich bin grundsätzlich unzufrieden mit meinem Land. Vor 50 Jahren, als ich jung war, gab es die 68er. Wir waren voller Hoffnungen, voller Ziele, Visionen. Wir konnten uns damals nicht vorstellen, dass es je wieder Krieg geben würde oder Flüchtlingsströme, die fast ein biblisches Ausmass annehmen. Und jetzt finden wir uns inmitten einer Welt und eines Europas voller Konfusionen. Und die Schweiz? Sie ist darin gefangen, hat selbst keine Identitätskraft mehr. Was sind denn heute die Werte, welche die Eidgenossenschaft anbietet?

Die Stabilität?
Ja, es geht uns gut. Aber es fehlen mir die ideelle Triebfeder, die Inspiration, die Perspektiven. Der Hedonismus der Konsumgesellschaft allein genügt nicht.

Sie glauben also, dass es uns heute 
zu gut geht?
Die heutige Gesellschaft ist etwas eingeschlafen. Wir haben jetzt die Illusion, dass sich mit der Wahl eines Regierungsmitglieds etwas ändert. Doch das Schlimme an der Schweiz ist, dass die Politiker völlig austauschbar sind. Man kann den Aussenminister zur Kultur schieben, den Militärminister zu den Sozialversicherungen. Es ist eine resistente Maschine, die alles fest im Griff hat und es schwierig macht, in der Schweiz etwas zu ändern. Das bräuchte so viel Energie. Das Schweizer System ist so stark, dass es sogar den mächtigsten Politiker, Christoph Blocher, wieder ausgeworfen hat. In anderen Ländern halten sich die mächtigsten Politiker während Jahrzehnten.

Fehlt Ihnen ein Schweizer Emmanuel Macron, jemand, der das Land umkrempeln will?
Ich verfolge seinen Aufstieg mit Besorgnis. Er ist zu schön, zu modisch, zu mondän. Ich bin nicht sicher, dass das lange hält. Mir waren François Mitterrand und Charles de Gaulle lieber, die klare Werte hatten.

Waren denn Ihrer Ansicht nach die Schweizer Politiker früher auch besser?
Ja. Es gab Figuren. Adolf Ogi etwa, der hatte noch Visionen. Ebenso wie Pierre Aubert. Natürlich: Wenn ich die Schweizer Regierung mit korrupten Regimes anderer Länder vergleiche, dann können wir zufrieden sein. Aber wenn ich mit dem vergleiche, was die Schweiz geben und machen könnte, dann werde ich den Eindruck nicht los, dass unsere Regierung und unsere Politiker einfach die Verwaltung führen. Sie beschränken sich auf die Lösung kleiner Probleme – oder kleiner Problemstückchen. Früher schauten sie über den Tellerrand hinaus. Heute habe ich den Eindruck, dass die Schweiz nur noch nach innen schaut. Jeder kümmert sich bloss noch um sein Gärtchen.

Die Globalisierung hat alles viel komplizierter gemacht. Da ist es einfacher, sich auf die kleinen Probleme im Inland zu kümmern.
Uns fehlen die grossen Ideale, die Perspektiven angesichts der Dramen und Katastrophen, die es heute gibt. Wir werden immer unsensibler den wirklich grossen Problemen der Welt gegenüber. Wir tun so, als stünden wir ausserhalb der Menschheit. Aber wir sind hier in der Schweiz Teil dieser Menschheit. Ich bin wie alle auch verantwortlich für die Sachen, gegen die ich nichts unternehmen kann. Zum Beispiel das Elend der Flüchtlinge. Es gibt keine Solidarität mehr. Es gibt nur noch die individuelle Logik der Einzelnen – der Schriftsteller, der Künstler, der Banker. Aber die Gemeinschaft ist mehr als die Addition der Individuen und deren innerer Logik.

Werfen Sie Künstler, Schriftsteller und Banker 
alle in denselben Topf?
Ich gebe zu, dass die Intellektuellen und Kunstschaffenden immerhin etwas sensibler sind – aber nicht so, wie es ihre Vorgänger waren. Ich denke da an Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Alberto Giacometti oder Paul Klee. In ihrem künstlerischen Schaffen fand sich eine Kraft, aus der auch das Land schöpfen konnte. Wenn man über die Schweiz von Dürrenmatt liest, erkennt man die Werte des Landes. Werte und Gemeinschaft sind wichtig für mich als Architekten.

Inwiefern?
Die Architektur ist die Organisation des Lebensraums des Menschen. Um meinen Beruf als Architekt ausüben zu können, bin ich auf die Gemeinschaft angewiesen. Kirchen, Strassen, Häuser – das sind kollektive Güter. Sogar ein privates Einfamilienhaus ist ein kollektives Gut, da es gesehen wird und ein öffentliches Bild mitprägt.

Sie bauen Kirchen, Häuser und Museen auf der ganzen Welt. Ist es denn anderswo besser?
Ja, ich denke schon. Nehmen wir China: Natürlich kann man das Land kritisieren für den Umgang mit den Menschenrechten. Aber es gibt dort einen Willen, ja einen Druck, sich zu entwickeln, mehr Wohlstand zu erhalten, mehr Lebensqualität. Das ist schon beeindruckend im Vergleich mit anderen Ländern. Eigentlich ist es ein Paradox: China ist vielleicht materiell ärmer als die Schweiz, ideell ist es aber derzeit sicher reicher.

Arbeiten Sie lieber in China als in der Schweiz?
Nein, am liebsten würde ich vor meiner Haustür arbeiten. Das wäre am einfachsten. Aber der Architekt entscheidet nicht selbst, was er macht. Er antwortet auf die Nachfrage der Kollektivität. Der wahre Kunde aber ist die Geschichte. Die Geschichte verlangt, dass ich eine Kirche, ein Stadion, ein Theater, ein Haus baue. Nebst den technischen Anforderungen muss ich als Architekt auch immer die metaphorischen, symbolischen Werte respektieren, die ebenso wichtig sind.

Bei der Architektur geht es doch auch um Ausstrahlung. Jede Stadt, jeder Konzern will ein Wahrzeichen haben und engagiert deshalb einen Stararchitekten.
Das ist ein nicht sehr interessanter Aspekt der Architektur. Viele dieser sogenannten Stararchitekten machen oft mittelmässige Bauten. Wenn ich mir zum Beispiel Sachen von Daniel Libeskind anschaue, dann sehe ich nur unnötige Dreiecke. Bei den Bauten von Le Corbusier hingegen erkennen wir die Werte, die dahinterstecken, und die Bezüge auf die griechische Geschichte. Louis Isadore Kahns Bauwerke sind voller Bezüge zur römischen Architektur, Carlo Scarpa setzte im Umgang mit historischer Bausubstanz und handwerklichem Wissen neue Massstäbe. Man muss aufpassen: Mode existiert nicht nur für die schönen Frauen, Moden gibt es überall, auch in der Architektur. Man muss die Grundwerte finden.

Also gilt auch hier: Früher war es besser?
Es ist leider so, die meiste Architektur ist heute anonym. Das meiste ist ein Stück Peripherie statt Teil einer Stadt. Wenn ich die Agglomerationen anschaue, bin ich nicht zufrieden. Ich erkenne mich nicht darin.

Wie macht man es denn richtig?
Ein Bau muss immer in Beziehung zum Lebensraum, zur geografischen und kulturellen Landschaft, zum Kontext, zu den Menschen stehen. Architektur bedeutet nicht, etwas an einem Ort zu bauen, sondern einen Ort zu bauen. Wieso sind die historischen Stadtzentren so angenehm? Wieso gehen alle dahin? Weil wir dort ein Gedächtnis wiederfinden, das uns allen gehört. Barock, Renaissance – alle Epochen sind in den Steinen. Und wir sind Teil dieser Geschichte, Teil der Menschheit. Das ist eine unglaubliche Kraft. Wir sind nicht Insekten, die kurz leben und wieder verschwinden.

Was bauen Sie denn am liebsten?
Mich interessieren sakrale Bauten in einer säkularisierten Welt, in der es scheinbar keine Werte mehr gibt. Ich baue Kirchen, Synagogen und jetzt in China eine Moschee. Ich bin kein Kenner des Islams, aber das Verlangen der Menschen, einen Raum des Betens und der Stille zu finden, das interessiert mich. Das geht über die einzelne Religion hinaus. In einer Konsumgesellschaft ist das Bedürfnis noch viel stärker, etwas zu erlangen, das man nicht kaufen kann. Das Verlangen nach Spiritualität bleibt. Genauso wie das Verlangen nach Illusion, die uns das Theater bietet. Wir gehen ins Theater, sitzen und warten, dass sich der Vorhang öffnet. Zum Träumen, um dem Alltag 
zu entfliehen.

Sie haben vorher die Schweiz kritisiert …
… das muss man manchmal tun, wenn man sein Land liebt. Friedrich Dürrenmatt, der hart mit der Schweiz ins Gericht ging, hat sein Land geliebt – und alles der Nationalbibliothek vermacht.

Fühlen Sie sich von der Schweiz zu wenig anerkannt?
Nein, das will ich nicht sagen … weil es wahr ist (lacht). Ich will mich nicht beschweren, dafür bin ich zu bescheiden. Die Schweiz tut sich schwer, ihre kreativen Köpfe zu honorieren. Das mussten schon viele erfahren: 1965, als ich Student in Paris war, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und bin an einem Samstag zu Alberto Giacometti gegangen, um ihm zu sagen, dass ich seine Arbeit bewundere. Und er hat mir gesagt: «Oh, du Armer! Du bist auch Schweizer. Du wirst alles ganz alleine machen müssen.» Giacometti war sehr verbittert gegenüber der Schweiz. Damals, also ein Jahr vor seinem Tod, hatte sie ihm nicht einmal eine Lithografie abgekauft. Ich muss also nicht lamentieren, wenn die offizielle Schweiz mich zu wenig beachtet.

Vielleicht wäre dies anders, wenn Sie 
in Zürich leben würden.
Nein, im Gegenteil. Die Grenzregionen sind privilegierte Regionen. Ich bin hier viel freier als in Zürich. Denn hier in Mendrisio erlebe ich die Widersprüche, die Hoffnungen, die Niederlagen Europas stärker als in Zürich. Man hat mehr Stimulationen, Impulse.

Die meisten Leute im Tessin erleben diese 
Nähe zur Grenze und zu den Problemen 
und Widersprüchen Europas eher als Problem 
denn als Befreiung.
Die meisten Leute wollen am liebsten im Mutterleib bleiben und sich nicht bewegen. Ich bin überzeugt: Die Grenzregionen sind die neuen Zentren. Nicht nur die geografischen Grenzen, sondern auch jene zwischen verschiedenen Disziplinen.

Trotzdem: Hier im Tessin hört man wenig Gutes 
über Italien. Im Gegenteil, die 60'000 Grenzgänger sind ein ständiges Politikum.
Das ist die fremdenfeindliche Seite der Schweiz. Es gibt zwei Seiten. Zum einen sind da die Konflikte mit Italien, die für negative Schlagzeilen sorgen und für politische Vorstösse. Zum anderen leben die Menschen zusammen, haben über die Grenze hinweg Freundschaften geschlossen und geheiratet. Die Grenze ist nicht nur eine Barriere, sondern auch eine Brücke. Mailand ist meine Stadt – nicht etwa Zürich. Mendrisio gehört zur Peripherie der Mailänder Metropolitanregion mit ihren zehn Millionen Einwohnern. Italien, das ist meine Kultur.

*Der Schweizer Mario Botta (74) gehört zu den berühmtesten zeitgenössischen Architekten. Bis heute hat er weltweit über 100 Projekte realisiert. Dazu gehören das Gebäude der früheren Banca del Gottardo (1988) in Lugano, der frühere UBS-Sitz in Basel (1994), das San Francisco Museum of Modern Art (1995), die Kathedrale im französischen Evry (1995), das Museum Tinguely in Basel (1996), das Centre Dürrenmatt in Neuenburg (2000), das Leeum Samsung Museum of Art (2004) in Seoul und die soeben eröffnete Fiore di pietra auf dem Monte Generoso.