BILANZ: Was war das erste Kunstwerk, das Sie an einer Auktion gekauft haben?
Steven Murphy: Die Welt der Auktionen ist für mich beruflich und privat ein neues Abenteuer. Die Bilder, die meine Frau und ich zu Hause haben, stammen grösstenteils aus unseren Familien. Die Kunst war immer ein Teil unseres Lebens, und meine beiden Kinder haben kürzlich ihr Kunstgeschichts-studium abgeschlossen.
Können Sie verstehen, weshalb jemand 88 Millionen Dollar für ein Bild von Mark Rothko ausgibt, wie in Ihrer Frühlingsauktion in New York?
Ja. Für die Preissteigerungen, wie wir sie seit ein paar Jahren erleben, gibt es Gründe. Es gibt mehr Käufer, die Nachfrage nach Spitzenwerken ist also gestiegen. Die verstärkten Aktivitäten am Auktionsmarkt hängen damit zusammen, dass wir jetzt in einer globalen Wirtschaft stecken. Technologische Erneuerungen, das mobile Internet und E-Mail via iPad und iPhone haben Informationsfluss und Transaktionen enorm vereinfacht. Heute kann sich jede Altersgruppe in jedem Erdteil das Angebot eines Auktionshauses in Realzeit ansehen und bieten. Zudem erleben wir einen kulturellen Wandel: In einer globalen Verunsicherung ist das Bedürfnis, Kunst zu erleben, stark gewachsen.
Das erklärt aber die exorbitanten Preise noch nicht.
Am Ende gibt es einfach nur diesen einen Rothko auf der ganzen Welt. Es braucht nur zwei Personen im Auktionssaal, um den Preis hochzutreiben.
Wie weit treibt das Medieninteresse den Erfolg der Auktionen an?
Das mediale Interesse für Kunst ist generell explodiert; es folgt der allgemeinen Zuwendung hin zur Kultur.
Rothko ist tot, seine Kunst gehört zum Kanon der Kunstgeschichte. Aber auch für zeitgenössische Werke von lebenden Künstlern wie Andreas Gursky oder Damien Hirst, die noch produzieren, werden Millionenwerte bezahlt. Alles Spekulation?
Ich sehe kein spekulatives Moment. Und ich sehe heute nicht mehr Risiko als 1926, als man für einen Picasso bot, dessen Wert sich über die Jahrzehnte multiplizierte, oder als 1824, als James Morrison 150 Pfund für ein Werk von Constable bezahlte. Seine Nachfahren verkauften das Werk 1990 für 10,8 Millionen Pfund. Seitdem hat es eine weitere Wertsteigerung von über 100 Prozent erzielt, denn Christie’s versteigerte das Werk im vergangenen Juli für 22,4 Millionen Pfund.
In den letzten Jahren ist eine neue Klientel auf dem Auktionsmarkt erschienen, die Hedge Funds oder Kunstfonds verwalten. Hier ist Kunst ein Investment.
Ich glaube nicht, dass es viele Leute gibt, die aus rein finanziellen Gründen in Kunst investieren. Aber es gibt immer mehr Menschen, deren Wohlstand stark zugenommen hat und die ihr Geld einsetzen wollen. Leute, die grosse, kostspielige Kunst kaufen, haben schon vorher Kunst gekauft. Die Nachfrage wird angetrieben durch das Interesse an Kunst und am Kunstsammeln. Dass Kunst zudem eine gute Sache ist, um sein Geld zu investieren, kommt erst an zweiter Stelle. Dass oft Wertsteigerungen damit verbunden sind, stellt für die Besitzer natürlich Good News dar. Aber zuerst geht es um das Objekt.
Gegen diese Theorie spricht, dass Werke von Shooting Stars wie den Schweizern Urs Fischer, Ugo Rondinone oder Pipilotti Rist schon nach wenigen Jahren wieder auf dem Markt sind. Gewisse Käufer scheinen stark auf Preisentwicklungen zu blicken. Tragen sie den Stil des Finanzinvestments in die Kunstwelt hinein?
Nein, diese Phänomene sind auch nicht neu.
Bevor Sie zu Christie’s kamen, arbeiteten Sie in der Musikindustrie. Worin besteht der Unterschied, einen Popstar wie Beyoncé zu lancieren oder ein Werk von Mark Rothko zu verkaufen?
Der grösste Unterschied ist der, dass Musik heute im Gegensatz zur Kunst auf rein digitalem Weg distribuiert und verkauft werden kann. Aber es ist für den Künstler und den Musiker genauso schwierig, Aufmerksamkeit zu erreichen.
Fallen die Entscheide darüber, wer ein Star wird, im Musikbusiness nicht demokratischer aus als in der Kunstwelt, wo einige Topsammler und Starkuratoren entscheiden, wer was wert ist?
Bis vor wenigen Jahren bestimmte das Radio den Musikhit, und das Radio war lange kontrolliert. Das hat sich erst vor kurzem geändert. Heute kann einer in seiner Garage in Brookyln ein Stück aufnehmen und ins Netz stellen – anschliessend entscheidet «the wisdom of the crowds». Bei der Kunst bestimmen tatsächlich Kuratoren, Sammler, Museumsleute und Kritiker über den Erfolg des Künstlers. Letztlich glaube ich aber, dass der innere Wert immer noch in der Magie der Kunst selbst liegt. Von etlichen Künstlern gibt es immer nur ein paar wenige, die an die Oberfläche dringen. Sie haben dieses gewisse Etwas, dieses «je ne sais quoi». Es liegt also in der Kraft des Kunstwerks selbst, dass es andere überragt. Der Kunststar kann nicht gemacht werden.
Aber es gibt Unterschiede in Bezug auf die Vermarktung.
Natürlich gibt es im Format und in den Methoden des Marketings grosse Unterschiede. Aber letztlich dreht sich alles um dasselbe, ganz gleich ob bei Beethoven oder Beyoncé, bei Jean-Michel Basquiat oder Gerhard Richter: Es geht um die Magie, die Schöpfung eines Einzelnen, der kämpfte, um etwas zu kreieren. Darin liegt auch das Spannende an meiner Arbeit. Ich habe das Glück, dass ich in meiner Karriere mit Künstlern zusammenarbeiten konnte, die den Geist – und auch die Mühen – des Kreierens teilen. Bei Christie’s sind wir letzten Endes nur erfolgreich, wenn das Marketing der Kunst in der Kunst selbst liegt. Im Musikbusiness sagten wir: «It has to be in the grooves.» Bei einem Bild gilt: Die Kraft muss an der Wand hängen.
Wenn die Nachfrage so gestiegen ist, dann haben Sie es mit einer neuen Klientel zu tun. Was ist ihr Profil?
Der Anteil neuer Käufer liegt bei 26 Prozent, und die Hälfte davon stammt immer noch aus den USA und Europa. Es sind bei weitem nicht nur Asiaten, die zu den neuen Käufern gehören. Sie sind zwischen 40 und 60 Jahre alt, und sie kaufen – genauso wie unsere Top-Kunden – quer durch die Kategorien, seien es Louis-Quinze-Möbel, Renaissance-Bronzen, alte Meister, eine impressionistische Zeichnung oder Gegenwartskunst.
In wirtschaftlich unsicheren Zeiten wie gerade jetzt fliesst Geld aus dem Ausland zu den Schweizer Banken. Inwiefern profitiert davon auch Christie’s?
Wir profitieren davon nicht speziell, obwohl wir durchaus beobachten, dass Sammler mehr Kunst kaufen als Folge der unsicheren Zeiten.
Die Schweiz gilt als wichtiger Umschlagplatz für Kunst. Welche Rolle spielt sie beim Umsatz für Christie’s?
Nach London und Paris, zwei äusserst dynamischen Handelszentren, ist die Schweiz der drittwichtigste Platz für unsere Auktionen. Wir hatten 2011 eine Umsatzsteigerung von 64 Prozent gegenüber dem Vorjahr, mit einem Gesamtumsatz von 223,7 Millionen Dollar. Aber die Auktionen sind nur die eine Seite der Medaille. Die Schweiz ist für uns auch zentral, weil hier viele Sammler leben, die sehr aktiv sind auf den wichtigsten internationalen Handelsplätzen, vor allem natürlich London und New York. Hier spielt sicherlich eine Rolle, dass die Schweiz in den letzten 20 Jahren eine riesige Anzahl von begüterten Menschen angezogen hat. Das Land ist ja bekannt für seine Banken, den Ölhandel und seine Steuerstruktur.
Wie wichtig ist die Schweiz anteilsmässig als Ort, um Werke für die Auktionen in London und New York zu erhalten?
Zahlen habe ich keine, aber blättern Sie einmal in einem Auktionskatalog für Impressionisten, Nachkriegskunst oder alte Meister. Sie werden oft «Property of a Swiss collection» lesen. Wir haben zwei Büros in der Schweiz, und neben den Auktionen liegt es in ihrer Verantwortung, mit den Sammlern zusammenzuarbeiten und ihnen Zugang zum globalen Netzwerk der Christie’s-Spezialisten zu ermöglichen.
Sehen Sie eigentlich psychologische Aspekte, die Käufer im Auktionssaal suchen und welche die Preisentwicklung beeinflussen?
Im Auktionssaal hat man – im Gegensatz zur Galerie – die Gelegenheit, den Moment mitzuerleben, in dem der Wert des Kunstwerks entsteht, und ihn aktiv mitzugestalten. Es geht natürlich auch um das Gefühl des Gewinnens. Wer will schon nicht gewinnen?
Worin sehen Sie künftig noch Potenzial für Christie’s?
Wir sehen grosse Entwicklungsmöglichkeiten in China, Hongkong, Indien, Asien generell und in Brasilien. In Hongkong haben wir unsere Belegschaft in den letzten zwei Jahren auf über 140 Mitarbeiter verdreifacht. Ein grosses Potenzial sehen wir ausserdem im Internet. 2011 wurden 29 Prozent der Gebote online getätigt – ein Viertel mehr als im Vorjahr. Unsere Liz-Taylor-Online-Auktion letzten Dezember war ein riesiger Erfolg: Für die 900 Lots gab es 52 000 Gebote.
Wird das Internet den Auktionssaal ablösen?
Das glaube ich nicht. Zwar ist es erfreulich zu sehen, dass bei unserer letzten Uhrenauktion in Genf im November auf 180 Bieter im Saal 1000 Online-Bieter kamen. Aber das funktionierte nur, weil es dieses Momentum im Auktionssaal gab. Man bezieht sich immer noch auf diesen speziellen Ort, den Auktionsraum, und den Auktionator. Die beiden Formate stehen nicht im Konflikt zueinander. Es ist eine reine Sache der Programmierung.
Wie in einem Opernhaus?
Genau. Bis vor fünf Jahren gab es nur das Live-Erlebnis im Auktionssaal. Das Internet ist für uns die grösste Neuerung seit den Telefongeboten im Jahr 1967. Heute programmieren wir unsere Verkaufsevents auf unterschiedlichen Ebenen und in verschiedenen Formaten. Aber das Live-Moment bleibt zentral, weil es das Gefühl der Anspannung kreiert. Die reale Auktion wird durch die Online-Auktion nicht ersetzt. Auch die grossen erfolgreichen Retailgeschäfte, die ein erfolgreiches Online-Geschäft haben, führen immer noch ihre Läden.
Ihr grösster Konkurrent war bisher Sotheby’s. In der Königsfamilie von Katar erwächst Ihnen aber offenbar ein neuer Konkurrent: Dieser wirbt Ihnen die besten Christie’s-Leute ab.
Bei mir ist das hälftig gefüllte Glas immer halbvoll und nicht halbleer. Die Welt der Kunst ist gross, und es hat genügend Platz für alle, die sich darin betätigen und wachsen wollen. Unsere Freunde und Kollegen arbeiten in den unterschiedlichsten Organisationen in allen Weltgegenden. Daraus ergibt sich ein Netzwerk, das uns nur zugutekommen kann. Die Leute der Kunstwelt sind stark miteinander verbunden. Wir müssen keine künstlichen Zäune errichten.
Hammering Man: Der New Yorker Steven Murphy (58) leitet das britische Auktionshaus Christie’s seit Herbst 2010. Nach seinem Studium der englischen Literatur an der Georgetown University war er im Musik- und Verlagsgeschäft tätig: Rodale (u.a. «Men’s Health»), Disney, EMI Music / Angel Records und Simon & Schuster. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Christie’s, 1766 in London gegründet, gehört dem französischen Luxusgüter-Unternehmer François Pinault (Gucci, Château Latour) und verfügt über 53 Vertretungen in 32 Ländern sowie zehn Auktionssäle von Amsterdam bis Dubai. Der Umsatz belief sich 2011 auf 5,7 Milliarden Dollar. 2011 wurden 719 Werke für je über eine Million Dollar verkauft.