Im Taxi in Hongkong kann es passieren, dass der Fahrer in einer Kurve über sein Mobiltelefon schnell einen Accumulator kauft, ein riskantes Anlageprodukt, das im besten Fall seinen Lebensstandard deutlich verbessert. Von solch einer Episode weiss Christian Reuss zu berichten, Chef von Scoach, der Börse für strukturierte Produkte in der Schweiz. «Asien ist eher ein Zockermarkt», sagt er. Ein grosser noch dazu: Gemessen am Börsenumsatz, sind die Märkte in Hongkong und Korea rund zehn Mal bedeutender als der Schweizer oder der deutsche Markt.

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Wird allerdings die Produktvielfalt zur Messgrösse, ist der deutsche Markt mit rund 800 000 verschiedenen strukturierten Produkten der grösste, vor der Schweiz mit rund 40 000. In Hongkong sind es dagegen nur 6400 Produkte, in Korea etwa 9300.

Dass die asiatischen Märkte mit deutlich weniger Produkten viel höhere Börsenumsätze ausweisen, erklärt sich dadurch, dass die Zocker in Asien in hoher Frequenz kaufen und verkaufen. Mit den dort beliebten Hochrisikoprodukten werden innert Tagen grosse Beträge gewonnen oder verloren. Die Anleger müssen also schnell reagieren. Auch weil in Asien gerne Produkte mit sehr kurzen Laufzeiten gehandelt werden: «Drei Monate sind dort schon lange», sagt Esther Thoma, Spezialistin für strukturierte Produkte bei der UBS. Dagegen sind in der Schweiz und in Deutschland Laufzeiten von über einem Jahr alltäglich.

Die meisten Menschen in Asien haben weniger zu verlieren als in Europa. «Die Veränderung im Lebensstandard durch etwas Gewinn an der Börse kann in Asien deutlich spürbar sein», sagt Reuss. «Dagegen ist die Schweiz ein Volk von Erben und mehr auf die Bewahrung von Vermögen als auf Vermehrung ausgerichtet», sagt Georg von Wattenwyl, Vertriebschef für strukturierte Produkte bei der Bank Vontobel.

Ein Accumulator, mit dem sich der Einsatz im besten Fall innert weniger Monate verdoppeln lässt, wird in der Schweiz gar nicht angeboten. Denn im schlimmsten Fall ist damit innert kurzer Zeit mehr als der gesamte Einsatz verloren. Und das kommt so: Der Anleger verpflichtet sich, jeden Tag eine bestimmte Aktie zu einem im Voraus bestimmten Preis zu kaufen. Solange der Börsenkurs über diesem Preis bleibt, gibt es jeden Tag einen Gewinn. Fällt die Aktie allerdings unter diesen Preis, dann resultieren jeden Tag Verluste, bis zum Laufzeitende des Produktes. Das kann so weit gehen, dass die Anleger sogar weiteres Kapital einschiessen müssen.

I kill you later. In der besten Börsenphase, vor dem Jahr 2007, wurden in Asien mit Accumulators Vermögen verdient. In der Baisse danach wurden sie wieder vernichtet. Die in Hongkong ansässige Pacific City Bank musste im Jahr 2008 vor einem Verlust von zwei Milliarden Dollar warnen, weil unautorisierte Käufe von Accumulators in der Bank entdeckt worden waren. Und die UBS wurde damals in Hongkong von einem Klienten wegen solcher Accumulators verklagt, mit denen er rund 25 Millionen US-Dollar verloren hatte. In der Baissephase erhielten die Accumulators in Hongkong darum den Spitznamen «I kill you later».

Heute gibt es neben Accumulators auch Decumulators, die jeden Tag Gewinne bringen, wenn die Aktienmärkte fallen. Wenn sie allerdings wieder steigen, dann dürfte «I kill you later» auch für sie gelten. Das Dumme ist ja, dass die Anleger ihre Produkte oft zum falschen Zeitpunkt kaufen: Die höchsten Umsätze mit Accumulators wurden in Hongkong 2007 erzielt, kurz bevor die Märkte einbrachen und die Accumulators zu Killerprodukten mutierten. Das Gleiche droht mit den Decumulators, wenn auch bei deutlich geringeren Umsätzen als im Jahr 2007 mit den Accumulators.

Schweizer Anleger können jetzt den Kopf schütteln über die mitunter verlustreichen Risikogeschäfte der Asiaten. Aber auch hierzulande stehen Anlagefettnäpfchen bereit. Zum Beispiel Barrier Reverse Convertibles. Diese sind bei weitem nicht so riskant wie Accumulators, meist sogar sicherer als Aktien. Aber so sicher, wie Anleger oft glauben, sind sie eben auch nicht.

Barrier Reverse Convertibles bieten, was Investoren auf der Tiefzinsinsel Schweiz so sehnsüchtig vermissen. Während es auf dem Sparkonto meist nicht einmal ein halbes Prozent Zinsen gibt und für Schweizer Staatsanleihen auch nur knapp ein Prozent, bieten Reverse Convertibles teilweise zweistellige Zinssätze, Coupons genannt. Die hohen Coupons sind dermassen verlockend, dass Barrier Reverse Convertibles mitunter die beliebtesten strukturierten Produkte in der Schweiz sind. Viele Anleger sind von den hohen Zinsen so hingerissen, dass sie die Risiken ausblenden.

«Ich nehme ein Aktienrisiko und erhalte dafür eine extra Rendite.» So bringt Reuss die Funktionsweise der Reverse Convertibles kurz und knapp auf den Punkt. Der Zins ist bei den Produkten zwar garantiert, aber nicht, dass die ganze Anlagesumme zurückgezahlt wird. Den vollen Betrag erhalten Anleger nur zurück, wenn die dem Produkt unterliegenden Aktien einen bestimmten Schwellenwert, die Barriere, nicht unterschreiten. Dieser liegt zwar häufig 20 Prozent oder mehr unter dem Kurs der Aktie zum Kaufzeitunkt der Barrier Reverse Convertibles. Das scheint relativ sicher. Aber in der Baisse passiert, was die Anleger oft ausblenden: Sie erhalten die gebeutelte Aktie ins Depot geliefert, die dann viel weniger wert ist, als für den Reverse Convertible bezahlt wurde. In Börsenbaissen passiert das in der Schweiz tausendfach.

Zum Beispiel jetzt. In den Monaten Juli und August wurden über 2700 Barrier Reverse Convertibles «ausgeknockt», wie das im Fachjargon genannt wird. Die Kundenberater der Banken waren tagelang damit beschäftigt, ihren Kunden zu erklären, warum ihnen eine Aktie ins Depot geliefert wird, deren Wert unter dem liegt, was sie für ihre Reverse Convertibles bezahlt haben. Dazu kommt, dass die Reverse Convertibles oft im dümmsten Moment den grössten Absatz finden, wie die Accumulators in Hongkong. Sie werden gekauft, wenn die Börse schon einige Zeit in der Hausse ist und die Kurse stark gestiegen sind. Dann schätzen Anleger die Wahrscheinlichkeit gering ein, dass Aktien abrupt einbrechen könnten.

In der Baisse finden die Reverse Convertibles dagegen weniger Absatz, weil den Anlegern der Schock von abrupten Kurseinbrüchen noch frisch im Gedächtnis sitzt. Allerdings wäre der Zeitpunkt für den Kauf dann meist besser. Nicht nur, weil die Wahrscheinlichkeit von weiteren starken Kurseinbrüchen gesunken ist. Sondern auch, weil die Reverse Convertibles dann günstiger zu haben sind. Die Coupons sind in der Baisse meist höher und die Knock-out-Barrieren tiefer als in der Hausse.

Obwohl Anleger in Asien und in der Schweiz mit strukturieren Produkten auf die Nase gefallen sind, heisst das nicht, dass sie Teufelswerk sind. Anleger müssen allerdings deren Funktionsweise verstehen und die Gefahren kennen, bevor sie kaufen.

Teufelszeug mit Potenzial. Mit dem nötigen Verständnis kann man auch risikoreiche Produkte kaufen. «In Asien haben die meisten Anleger eine bestimmte Quote im Depot für risikoreiche Produkte reserviert», sagt David Mandiya von der australischen Macquarie Bank, die in Asien stark präsent ist. Das dürften auch Schweizer öfter tun. Der Finanzprofessor Klaus Spremann hat in seiner Vorlesung an der Universität St. Gallen den Studenten sogar den Tipp gegeben, für kleine Beträge Hebelprodukte zu kaufen, mit denen der Einsatz im besten Fall vervielfacht werden kann. In jungen Jahren sei das empfehlenswert, im Alter eher nicht. Denn die Studenten könnten mit ihrem späteren Lebenseinkommen allfällige kleine Verluste noch lange ausgleichen.

Mindestens ein Student an der Universität St. Gallen schaffte es mit Hebelprodukten noch während der Studienzeit zum Millionär. Allerdings verpasste er es, mit wachsendem Vermögen seine Anlagestrategie anzupassen, von Vermehrung auf Bewahrung umzustellen. Er blieb bei den risikoreichen Produkten und verlor sein gesamtes Vermögen in der Internet-Bubble wieder. Und dazu viel Geld der Verwandtschaft, die dem begabten jungen Händler ihr Kapital zur Verwaltung anvertraut hatte.

Trotzdem: Richtig eingesetzt und verstanden, können risikoreiche Produkte als kleine Quote im Depot sinnvoll sein. Von Produkten mit Nachschusspflicht wie den Accumulators ist Privatanlegern hingegen grundsätzlich abzuraten.

Heldenverehrung. Schweizer Taxifahrer interessiert das Thema strukturierte Produkte nicht. Im Unterschied zu ihren Kollegen in Hongkong handeln sie kaum damit, schon gar nicht über das Mobil-
telefon. «In Asien werden neue Medien im Börsenhandel öfter eingesetzt, dort sind sie den Europäern voraus», sagt Thoma. Dass in Hongkong auch Taxifahrer mit Hochrisikoprodukten handeln, hängt damit zusammen, dass der Aktienmarkt enorme Boomphasen erlebt hat. Von 2002 bis 2007 verdreifachten sich die Aktien im Schnitt. Wer in dieser Zeit mit Hochrisikoprodukten auf steigende Kurse setzte, ist damit reich geworden. Der Handel mit strukturierten Produkten ist in dieser Zeit in Asien in der breiten Bevölkerung populär geworden. Die Banken machten viel Publikumswerbung: «Es fuhren doppelstöckige Busse mit den Konterfeis der Vertriebschefs durch Hongkong. Die waren so populär, dass sie auch zu Night Talks im Fernsehen eingeladen wurden», sagt Reuss. Die Chinesin Cheril Lee war damals bei der französischen Bank Société Générale verantwortlich für die Geschäftsentwicklung in Asien. Sie wurde von Investoren in Hongkong als «Goddess of Warrants with the Midas touch» verehrt und auch in den Medien so dargestellt.

Eine vergleichbare Bekanntheit und Beliebtheit in der breiten Bevölkerung haben strukturierte Produkte und ihre Vertriebschefs in Europa nie erreicht – auch nicht solch blumige Verehrungen.

In der Schweiz sind strukturierte Produkte in der breiten Bevölkerung kaum ein Thema. Wer sie kauft, hat meist schon ein erhebliches Vermögen auf der Seite. Die Klientel kauft ihre strukturierten Produkte meistens nicht einmal selber, sondern überlässt das einem unabhängigen Vermögensverwalter oder einem Bankberater. «Schweizer holen gerne eine Zweitmeinung ein und ziehen deshalb vor einem Kauf mindestens einen Berater bei», sagt Thoma.

Das unterscheidet die Schweizer auch von den Deutschen, die ihre strukturierten Produkte eher selber kaufen. Als Selbstentscheider sparen die Deutschen die Beratungskosten. In diesem Punkt sind sich Asiaten und Deutsche ähnlich. Deutsche kaufen allerdings nicht unbedingt Hochrisikoprodukte wie die Asiaten. Sie sind auch nicht so gierig auf Zinsen wie die Schweizer, sondern eher auf Discounts aus. Das bieten sogenannte Diskontzertifikate, wie sie in Deutschland heissen (in der Schweiz: Discount-Zertifikate). Gemäss Daten von Cfinancials werden in Deutschland etwa sechs Mal mehr Diskontzertifikate gekauft als Reverse Convertibles. In der Schweiz ist es genau umgekehrt.

Diskontzertifikate ermöglichen es, eine Aktie unter ihrem aktuellen Börsenkurs zu erwerben. Dafür geben die Anleger einen Teil des Kurspotenzials der Aktie auf, die dem Produkt unterliegt.

Diskontzertifikate und Reverse Convertibles sind vor allem dazu geeignet, in Seitwärtsmärkten eine Rendite zu erwirtschaften. Sie zählen zu den Renditeoptimierungs-Produkten, wie die Kategorie im Fachjargon genannt wird. Deren Vorteile verkaufen sich in der Schweiz besser in Form von Zinsen und in Deutschland in Form von Discounts. Dies ist gewiss Ausdruck eines Mentalitätsunterschiedes. Allerdings haben die Diskontzertifikate unter steuerlicher Betrachtung geldwerte Vorteile auf ihrer Seite. Die Discounts müssen bei Produkten mit Laufzeiten von weniger als einem Jahr nicht versteuert werden. Bei den Coupons der Reverse Convertibles ist der Steuervogt dagegen immer beteiligt. Unter diesem Aspekt sollten Schweizer von den deutschen Anlegern lernen und ihre Vorliebe für Zinsen dem Steuervorteil der Diskontzertifikate unterordnen.

Zudem dürften strukturierte Produkte in der breiten Schweizer Bevölkerung bekannter sein als in Asien. Denn sie bieten auch für weniger vermögende Bevölkerungsschichten etwas. Allerdings geht das in Zukunft hoffentlich nicht so weit, dass der Taxifahrer in der Kurve nebenbei noch ein strukturiertes Produkt kauft.

 

Der 
Zocker

Der Asiate ist oft ein kleiner Anleger, der mit wenig Einsatz sehr schnell sehr viel Gewinn erzielen will.

Typisches Produkt: Risikoreiche Accumulators, Knock-out-Warrants. Mit diesen Produkten können enorme Gewinne erzielt werden – und massive Verluste.

Verhalten: Kauft die Produkte selber über moderne Kommunikationsinstrumente.

Tummelfeld: Riesige Umsätze an der Börse Hongkong (534 Millarden Dollar pro Jahr) und Korea (369 Milliarden Dollar). Deutlich kleinere Produktauswahl als in Deutschland und der Schweiz.

 

Zinslipicker

Der Schweizer will sein Vermögen bewahren; er scheut das Risiko, will aber doch hohe Zinsen.

Typisches Produkt: Reverse Convertibles. Sie bieten hohe Zinsen, aber es gibt auch hohe Verluste, wenn die Märkte stark einbrechen.

Verhalten: Kauft die Produkte häufig über einen Vermögensverwalter. Fast nie kauft er ohne Beratung.

Tummelfeld: Grosse Produktauswahl, rund 40 000 verschiedene strukturierte Produkte. Der Umsatz an der Börse in der Schweiz (40 Milliarden Franken) ist 
aber deutlich tiefer als 
in Asien.

 

Pfennigfuchser

Der Deutsche will beim Kauf strukturierter Produkte Rabatt – und auch in Seitwärtsmärkten Gewinne erzielen.

Typisches Produkt: Discount-Zertifikate. Sie ermöglichen den Kauf einer Aktie unter dem aktuellen Kurs. Der Preis: ein Teil des Renditepotenzials.

Verhalten: Kauft eher selber, meist über Internet oder Telefon.

Tummelfeld: Grösste 
Produktauswahl von allen Märkten, rund 800 000 verschiedene strukturierte Produkte. Börsenumsatz: 50 Milliarden Euro (2010).