New York im Dezember. Die Zeit der Abrechnung ist gekommen. Im Namen von Millionen frustrierter Anleger schüttet die «New York Times» Hohn und Spott über der Wall Street aus. «Wir, eure Kunden», feixt das Blatt, «sagen euch: Ginge es nach uns, wärt ihr allesamt gefeuert!» Auf der Abschussliste steht niemand Geringerer als die Crème de la Crème der amerikanischen Analystengilde, darunter Mary Meeker von Morgan Stanley («The Queen of Internet»), Henry Blodget von Merrill Lynch («The God of E-Commerce») und last, but not least Abbey Joseph Cohen von Goldman Sachs («The Legend»).
Etwa zur selben Zeit im Studio des deutschen Börsensenders N-TV. Moderator Bernd Heller guckt grimmig. Soeben wurde überraschend das Millionendebakel des Medienunternehmens EM.TV bekannt, die Aktie befindet sich im freien Fall. Moderatorin und Buchautorin Carola Ferstl («Geld tut Frauen richtig gut») kann es kaum fassen. Bis vor kurzem war die EM.TV-Aktie noch der Liebling aller Finanzanalysten. «Warum hat das keiner gesehen?», will Ferstl wissen. Heller, zynisch: «Analyst – das Unwort des Jahres 2000?»
Aber ja doch! Kaum eine Berufsgruppe hat im letzten Jahr ärger danebengehauen und dabei mehr Schaden angerichtet als diese Mischung aus Finanzmathematikern und Aktienpromotoren. Als die Börsen noch im Internetfieber schwelgten, war den Zahlenakrobaten kein Titel zu teuer. Selbst als die Technologieaktien schon in Schwindel erregenden Höhen schwebten, setzten die Zahlenfantasten noch eins drauf, indem sie die Gewinnerwartungen ein bisschen höher schraubten. Damit rutschte die Price-Earnings-Ratio – sie zeigt an, wievielmal der prognostizierte Gewinn je Aktie im aktuellen Kurs enthalten ist – automatisch nach unten, und die Aktie erschien günstiger. Wenn der Internetwinzling gar keinen Gewinn erzielte, brachten die brillanten Nummernboys flugs neue Bewertungsmethoden ins Spiel, wie etwa den Umsatzmultiplikator oder die abdiskontierten (künftigen) Cashflows.
Da viele Anleger mit diesem «irrwitzigen Zeugs» (Templeton-Fondsmanager Mark Mobius) nicht viel anzufangen wussten, flogen die Banken ihre besten Verkäufer aus den USA ein. Das wirkte jeweils Wunder. Als der New- Yorker CS-Staranalyst Michael J. Mauboussin im vergangenen Januar im Zürcher Hotel Savoy seine Promoshow über Telekom-, Medien- und Technologieaktien (TMT) mit dem monetären Schlachtruf «Go where the money goes!» abgeschlossen hatte, spendeten über hundert Banker, Vermögensverwalter, Fondsmanager und Finanzjournalisten tosenden Applaus. Von den «Analysten, jung und hungrig» schwärmte auch Walter Meier. Der Chef der Beteiligungsgesellschaft BT&T brauchte nichts dringender, um seine riskante Techno-Wette den Pensionskassenmanagern schmackhaft zu machen (siehe auch den Artikel auf Seite 42).
Erst als der Boom im Frühling ein jähes Ende fand und die Kurse im Herbst allen Prognosen zum Trotz erneut zu einer steilen Talfahrt ansetzten, trat auch die geschockte Verkaufsbrut den Rückzug an. Statt des kaltschnäuzigen Cyberbullen Mauboussin («Wer braucht schon die Fabriken einer General Electric oder einer Coca-Cola, wenn er einen so tollen und teuren Namen wie Amazon.com oder AOL trägt?») trat in Zürich nun der umsichtige Cyberbär Frederick W. Moran aufs Parkett. Der Banker des Brokerhauses Jefferies (Lieblingswort: «Rezession»), der so aussieht, als könnte er problemlos auch im Modelbusiness eine steile Karriere machen, verkündete nur mehr Unheilvolles. Amerika stehe am Rande einer Rezession, die TMT drohten im Schuldenberg zu versinken, und nur die wenigsten würden – wenn überhaupt – die nächsten zwei Jahre überstehen, verhiess der Banker («Hände weg von TMT!»).
In den Analyseabteilungen tobte fortan der Kampf um das schnellste Downgrading. Sandte ein Unternehmen eine Gewinnwarnung aus, wurde gleich die ganze Branche auf «verkaufen» gesetzt. «Zuerst haben wir den Markt gepusht bis zum Gehtnichtmehr, jetzt reden wir ihn runter», gibt ein Betroffener zu, inkognito wie die meisten seiner Kollegen («sonst gibt es Probleme»). Doch wie immer waren wieder mal alle viel zu spät dran, denn die Kurse waren schon im Keller gelandet.
Doch diesmal scheinen die Daueroptimisten ein bisschen zu weit gegangen zu sein. Mit faulen Tipps wie für die Softwarefirma Miracle, die unter anderem von der CS noch im März 2000 mit Kursziel 1000 Franken als «strong buy» empfohlen wurde, und für das Internetkonstrukt Distefora, auf das die Zürcher Kantonalbank (Werbeslogan: «Aggressives Market-Making») beim Höchstkurs von 1000 Franken noch eine Kaufoption (Bezugspreis 1500 Franken!) verkaufte, haben es die Banken bei ihren Kunden gründlich verscherzt. Statt Lob hagelt es Beschwerden.
«Trotz hohen Boni ist hier niemand so recht glücklich», seufzt ein Senior-Analyst der Credit Suisse. «Wir sind eben immer die Dummen und halten überall den Kopf hin», meint sein Kollege von Darier Hentsch ernüchtert. «An den Sitzungen werden wir jetzt regelmässig zur Schnecke gemacht», erzählt ein Kumpel von Lombard Odier. Überall grassiert die Angst vor einer neuerlichen Schlappe. «Ein Kollege wurde kürzlich von seinem Boss angeschnauzt, warum er Distefora eigentlich immer noch auf ‹kaufen› habe», erzählt ein Insider der Bank Pictet. «Dabei», moniert Urs Ramseier, Analyst von Lombard Odier, «schreiben wir ja eigentlich gar nicht für Kleinanleger, sondern nur für institutionelle Kunden.»
Also alles nur ein dummes Missverständnis? Mitnichten. Nicht nur sind Analysten und ihre Empfehlungen heutzutage in den Massenmedien allgegenwärtig. Paradoxerweise betrachten auch ausgerechnet die institutionellen Kunden das heitere Kursraten mit kritischen Augen. «Unseriös» und «zu wenig kritisch» seien die Analysten, «mut- und disziplinlos» und «wie Lämmer dem Trend hinterherlaufend», nörgeln Fondsmanager. Für Peter Lehner ist die Analyse nichts anderes als «ein verkapptes Marketinginstrument». Der erfahrene Fondsmanager (SaraSelect) und ehemalige Pensionskassenchef der Stadt Zürich wirft jeden Tag bis zu einem Dutzend Firmenstudien ungelesen in den Müll («Wer soll das alles lesen?»). Seinem Kollegen Franz Winkler von der Accuro Asset Management (verwaltete Vermögen von 500 Millionen Franken), ehemals Portfoliomanager der Schweizerischen Elektrizitätswerke (PKE), dienen die Tipps der Aktienpromotoren höchstens noch als Kontraindikatoren: «Was soll ich mit Studien, die mir empfehlen, auf dem Höchst einzusteigen und auf dem Tiefst zu verkaufen?» Und Adrian Peter, dem Manager des Vontobel Small Cap Fund Switzerland (660 Millionen Franken Vermögen), liefern Firmenstudien «lediglich Ideen»: «Ob sie stimmen, prüfen wir selber nach.»
Doch nicht immer sind Analysten dafür verantwortlich, wenn die Anleger steil fallenden Aktienkursen nachweinen. So beweisen Beispiele wie EM.TV und Infomatec, wo die deutsche Bundesanwaltschaft wegen Betrugs und Insiderhandels ermittelt, dass ein CEO im Nadelstreifenanzug nicht immer der topseriöse Geschäftsmann ist, für den er sich ausgibt.
Harmlos, aber dennoch äusserst kurswirksam ist die Masche vieler Finanzchefs, bei den Prognosen ein bisschen zu übertreiben, sei es, weil sie die Motivation ihrer Angestellten steigern wollen oder weil sie eigentlich auch nicht genau wissen, wie stark der Umsatz im nächsten und übernächsten Jahr wachsen wird. «Diese Firmen», so Peter, «wollen sich oft ein gutes Image schaffen und stecken ihre Ziele hoch, damit sie als Wachstumsfirmen gelten.» Als der Vontobel-Fondsmanager, der früher selber Analyst war, regelmässig Präsentationen von Technologiefirmen besuchte, fiel ihm auf, «dass die Analysten ihre Investmentstory einzig und allein um die Aussagen des Managements herum bauten». Dass die zumeist blutjungen Bonsai-Gurus oft keine eigene Meinung hätten, empfindet er persönlich als schlecht, führt dies zu einem gewissen Teil aber auf die wachsende Konkurrenz unter den Investmenthäusern zurück. «Es herrscht ein mörderischer Zeitdruck, und ausserdem musst du schauen, dass du Volumen generierst.»
Viele Firmenmanager wissen um diesen Druck und nutzen ihn geschickt für ihre Zwecke aus. «Analysten sind Spielbälle des Managements of Expectation. Ein gewiefter Finanzchef kann ihnen die Erwartungen diktieren. Er kann sagen, wir erwarten im nächsten Jahr 30 Millionen Franken Umsatz, sie schreiben es. Er kann aber auch sagen, wir erwarten 40 Millionen Franken, und sie schreiben es. Sie investieren wenig Hirn, aber sie haben auch wenig Zeit», so das vernichtende Urteil eines Managers einer mittlerweile konkursiten Schweizer Softwarefirma. Gegen die Willkür des Managements hilft oft nur hartnäckiges Bohren. «Erst nachdem ich mehrmals nachgefragt hatte, gestand mir der Boss einer Logistikfirma, dass er in einem Wachstumsbereich, von dem er mir eine Stunde lang vorgeschwärmt hatte, noch keinen einzigen Kunden habe», ärgert sich ein Senior-Analyst.
Doch diese Kritik kratzt viele Analysten wenig. Sie sehen sich mehr als Aktienverkäufer denn als Analytiker. «Volumen ist das A und O des Geschäfts», meint einer. Nur wer ständig umstuft, generiert Volumen und kassiert Extra-Boni. Und das rasante Monopoly («Aktien kaufen», «Aktien halten», «Aktien verkaufen») schenkt kräftig ein. Bei der Credit Suisse Group beispielsweise haben sich die Dienstleistungs- und Kommissionserträge seit 1996 glatt auf 10,5 Milliarden Franken verdoppelt. Der Handel und Verkauf von Wertpapieren, die Abwicklung von Fusionen und Akquisitionen und die Platzierung neuer Firmen an der Börse machten bei der CS 1999 bereits 38 Prozent der Gesamterträge aus, bei der UBS waren es sogar 43 Prozent. Dass diese grundverschiedenen Geschäfte zwar Hand in Hand gehen, zuweilen aber zu Interessenkonflikten führen, ist allgemein bekannt. Ist eine Bank beispielsweise an einer Finanztransaktion, etwa einem Börsengang oder einem Firmenkredit, beteiligt und verkauft gleichzeitig die Aktien dieses Unternehmens, hat sie ein Problem. Es dürfen zumindest von ihrer Seite her keine negativen Bemerkungen über diesen Kunden kommen, damit der Deal nicht gefährdet wird. In einer solchen Situation kann es schon einmal vorkommen, dass ein Vorgesetzter einem negativ gestimmten Analysten unterschwellig zu verstehen gibt, dass er sich seine kritischen Kommentare gefälligst zu verkneifen habe. «Der Chef kommt zum Beispiel ganz zufällig vorbei und fragt dich beiläufig, warum du denn so negativ seist. Das sei doch ein gutes Unternehmen», erzählt ein Betroffener hinter vorgehaltener Hand. Zwar beteuern die Banken, dass es zwischen den einzelnen Abteilungen so genannte Chinese Walls, virtuelle Mauern, gebe, die jeden Kontakt zwischen der Analyse- und der Fusions- oder der IPO-Abteilung verunmögliche. In der Branche glaubt aber niemand daran, dass das Gemäuer auch wirklich so dicht ist wie behauptet (siehe Interview «Viele Analysten werden überflüssig» auf Seite 105).
Wer die ganze Wahrheit wissen wolle, so der Einwand der Analysten, müsse halt anrufen. Im persönlichen Gespräch, räumen sie ein, seien sie frei, über ihre Eindrücke zu sprechen. «Weil wir nur selten Verkaufsempfehlungen haben, kann ‹halten› unter anderem auch ‹verkaufen› bedeuten. Am Telefon kann ich sagen, was es genau heisst», sagt CSFB-Konsumanalyst Robin Seydoux. Vielfach bekommen Analysten Probleme, wenn sie eine Aktie in einer Studie explizit zum Verkaufen oder Reduzieren empfehlen. Urs Ramseier von Lombard Odier beispielsweise wurde plötzlich nicht mehr zu den beliebten Eins-zu-eins-Meetings mit dem Management eingeladen, nachdem er die Aktie einer grossen Versicherungsanstalt auf «reduzieren» gesetzt hatte. Manchmal fühlen sich die Bosse nur durch eine bestimmte Formulierung verletzt. «Sagt man dem Management, man habe das Rating aus Bewertungsgründen reduziert, so akzeptieren sie das. Sagt man ihnen dagegen, es gebe andere Gründe, etwa mangelhafte Strategie oder mürbe Finanzen, werden sie sauer», erzählt ein Insider.
Erzwungener Daueroptimismus und verletzte Eitelkeiten sind Sachzwänge, denen sich ein Analyst nur schwer entziehen kann. Kein Wunder, ist die Fluktuation in dieser Branche ausgesprochen hoch. Quasi zur Rettung eines ganzen Berufsstandes fordern Finanzexperten deshalb die sofortige Abspaltung der Analyse in eine bankunabhängige Firma. «Dann könnte ich nämlich selbst bestimmen, welche Studien ich künftig haben will und welche nicht», sagt Franz Winkler. Der Asset-Manager wäre sogar bereit, für gute Firmenstudien zu bezahlen, anstatt diese mit seinen Kommissionen quer zu subventionieren. «Dann», so Winkler, «würde sich die Spreu sehr schnell vom Weizen trennen, denn nur wer einen guten Job macht, kann überleben.»
Etwa zur selben Zeit im Studio des deutschen Börsensenders N-TV. Moderator Bernd Heller guckt grimmig. Soeben wurde überraschend das Millionendebakel des Medienunternehmens EM.TV bekannt, die Aktie befindet sich im freien Fall. Moderatorin und Buchautorin Carola Ferstl («Geld tut Frauen richtig gut») kann es kaum fassen. Bis vor kurzem war die EM.TV-Aktie noch der Liebling aller Finanzanalysten. «Warum hat das keiner gesehen?», will Ferstl wissen. Heller, zynisch: «Analyst – das Unwort des Jahres 2000?»
Aber ja doch! Kaum eine Berufsgruppe hat im letzten Jahr ärger danebengehauen und dabei mehr Schaden angerichtet als diese Mischung aus Finanzmathematikern und Aktienpromotoren. Als die Börsen noch im Internetfieber schwelgten, war den Zahlenakrobaten kein Titel zu teuer. Selbst als die Technologieaktien schon in Schwindel erregenden Höhen schwebten, setzten die Zahlenfantasten noch eins drauf, indem sie die Gewinnerwartungen ein bisschen höher schraubten. Damit rutschte die Price-Earnings-Ratio – sie zeigt an, wievielmal der prognostizierte Gewinn je Aktie im aktuellen Kurs enthalten ist – automatisch nach unten, und die Aktie erschien günstiger. Wenn der Internetwinzling gar keinen Gewinn erzielte, brachten die brillanten Nummernboys flugs neue Bewertungsmethoden ins Spiel, wie etwa den Umsatzmultiplikator oder die abdiskontierten (künftigen) Cashflows.
Da viele Anleger mit diesem «irrwitzigen Zeugs» (Templeton-Fondsmanager Mark Mobius) nicht viel anzufangen wussten, flogen die Banken ihre besten Verkäufer aus den USA ein. Das wirkte jeweils Wunder. Als der New- Yorker CS-Staranalyst Michael J. Mauboussin im vergangenen Januar im Zürcher Hotel Savoy seine Promoshow über Telekom-, Medien- und Technologieaktien (TMT) mit dem monetären Schlachtruf «Go where the money goes!» abgeschlossen hatte, spendeten über hundert Banker, Vermögensverwalter, Fondsmanager und Finanzjournalisten tosenden Applaus. Von den «Analysten, jung und hungrig» schwärmte auch Walter Meier. Der Chef der Beteiligungsgesellschaft BT&T brauchte nichts dringender, um seine riskante Techno-Wette den Pensionskassenmanagern schmackhaft zu machen (siehe auch den Artikel auf Seite 42).
Erst als der Boom im Frühling ein jähes Ende fand und die Kurse im Herbst allen Prognosen zum Trotz erneut zu einer steilen Talfahrt ansetzten, trat auch die geschockte Verkaufsbrut den Rückzug an. Statt des kaltschnäuzigen Cyberbullen Mauboussin («Wer braucht schon die Fabriken einer General Electric oder einer Coca-Cola, wenn er einen so tollen und teuren Namen wie Amazon.com oder AOL trägt?») trat in Zürich nun der umsichtige Cyberbär Frederick W. Moran aufs Parkett. Der Banker des Brokerhauses Jefferies (Lieblingswort: «Rezession»), der so aussieht, als könnte er problemlos auch im Modelbusiness eine steile Karriere machen, verkündete nur mehr Unheilvolles. Amerika stehe am Rande einer Rezession, die TMT drohten im Schuldenberg zu versinken, und nur die wenigsten würden – wenn überhaupt – die nächsten zwei Jahre überstehen, verhiess der Banker («Hände weg von TMT!»).
In den Analyseabteilungen tobte fortan der Kampf um das schnellste Downgrading. Sandte ein Unternehmen eine Gewinnwarnung aus, wurde gleich die ganze Branche auf «verkaufen» gesetzt. «Zuerst haben wir den Markt gepusht bis zum Gehtnichtmehr, jetzt reden wir ihn runter», gibt ein Betroffener zu, inkognito wie die meisten seiner Kollegen («sonst gibt es Probleme»). Doch wie immer waren wieder mal alle viel zu spät dran, denn die Kurse waren schon im Keller gelandet.
- «Buy high, sell low» («kaufe hoch, verkaufe tief») bei Merrill Lynch: Als die Papiere des Netzwerkherstellers Cisco auf 68 Dollar anzogen, empfahl der Broker «strong buy» («kaufe, was es auch koste»); als sie bei 37 Dollar notierten, schwächte er auf «accumulate» («tröpfchenweise kaufen») ab.
- Beim Preis von 60 Euro empfahl das vierköpfige Median-Team von UBS Warburg die EM.TV-Aktie mit Kursziel 80 Euro zum «strong buy»; als die Titel auf 7 Euro gefallen waren, senkte UBS Warburg das Kursziel auf 8.90 Euro und empfahl «halten», was so viel wie verkaufen heisst. Die Credit Suisse (CS), die bei 60 Euro nochmals zum Einstieg riet («in Poleposition für Kursziel 90 Euro»), mag die Firma nach dem Crash überhaupt nicht mehr kommentieren. «Situation zu verfahren, seriöse Prognose kaum mehr möglich», tönt es bei der CS.
- Einen Tag nachdem die Aktien der Internetfirma Intershop nach einer Gewinnwarnung um 70 Prozent eingebrochen waren, senkte UBS Warburg von «strong buy» auf «hold» («halten»), eine versteckte Verkaufsempfehlung. Merrill Lynch senkte von «neutral» auf «verkaufen». Als Intershop um 100 Euro herum notierten, empfahl Merrill noch «kaufen». Erst als die Aktie von 100 auf 50 Euro eingebrochen war, wurde auf «neutral» gesenkt.
- Als die Papiere des Textilverkäufers Vögele nach einer Gewinnwarnung um 30 Prozent einbrachen, empfahl Lombard Odier «reduzieren». Vorher war Vögele noch ein «Kauf».
- Ende August 2000 riet Dresdner Kleinwort Benson beim Preis von 152 Franken zum Einstieg bei der Softwarefirma Miracle. Wenige Monate später gab das Unternehmen die Einstellung des Betriebs bekannt, der Kurs brach zusammen. Jetzt erst empfahl die Dresdner «verkaufen».
Doch diesmal scheinen die Daueroptimisten ein bisschen zu weit gegangen zu sein. Mit faulen Tipps wie für die Softwarefirma Miracle, die unter anderem von der CS noch im März 2000 mit Kursziel 1000 Franken als «strong buy» empfohlen wurde, und für das Internetkonstrukt Distefora, auf das die Zürcher Kantonalbank (Werbeslogan: «Aggressives Market-Making») beim Höchstkurs von 1000 Franken noch eine Kaufoption (Bezugspreis 1500 Franken!) verkaufte, haben es die Banken bei ihren Kunden gründlich verscherzt. Statt Lob hagelt es Beschwerden.
«Trotz hohen Boni ist hier niemand so recht glücklich», seufzt ein Senior-Analyst der Credit Suisse. «Wir sind eben immer die Dummen und halten überall den Kopf hin», meint sein Kollege von Darier Hentsch ernüchtert. «An den Sitzungen werden wir jetzt regelmässig zur Schnecke gemacht», erzählt ein Kumpel von Lombard Odier. Überall grassiert die Angst vor einer neuerlichen Schlappe. «Ein Kollege wurde kürzlich von seinem Boss angeschnauzt, warum er Distefora eigentlich immer noch auf ‹kaufen› habe», erzählt ein Insider der Bank Pictet. «Dabei», moniert Urs Ramseier, Analyst von Lombard Odier, «schreiben wir ja eigentlich gar nicht für Kleinanleger, sondern nur für institutionelle Kunden.»
Also alles nur ein dummes Missverständnis? Mitnichten. Nicht nur sind Analysten und ihre Empfehlungen heutzutage in den Massenmedien allgegenwärtig. Paradoxerweise betrachten auch ausgerechnet die institutionellen Kunden das heitere Kursraten mit kritischen Augen. «Unseriös» und «zu wenig kritisch» seien die Analysten, «mut- und disziplinlos» und «wie Lämmer dem Trend hinterherlaufend», nörgeln Fondsmanager. Für Peter Lehner ist die Analyse nichts anderes als «ein verkapptes Marketinginstrument». Der erfahrene Fondsmanager (SaraSelect) und ehemalige Pensionskassenchef der Stadt Zürich wirft jeden Tag bis zu einem Dutzend Firmenstudien ungelesen in den Müll («Wer soll das alles lesen?»). Seinem Kollegen Franz Winkler von der Accuro Asset Management (verwaltete Vermögen von 500 Millionen Franken), ehemals Portfoliomanager der Schweizerischen Elektrizitätswerke (PKE), dienen die Tipps der Aktienpromotoren höchstens noch als Kontraindikatoren: «Was soll ich mit Studien, die mir empfehlen, auf dem Höchst einzusteigen und auf dem Tiefst zu verkaufen?» Und Adrian Peter, dem Manager des Vontobel Small Cap Fund Switzerland (660 Millionen Franken Vermögen), liefern Firmenstudien «lediglich Ideen»: «Ob sie stimmen, prüfen wir selber nach.»
Doch nicht immer sind Analysten dafür verantwortlich, wenn die Anleger steil fallenden Aktienkursen nachweinen. So beweisen Beispiele wie EM.TV und Infomatec, wo die deutsche Bundesanwaltschaft wegen Betrugs und Insiderhandels ermittelt, dass ein CEO im Nadelstreifenanzug nicht immer der topseriöse Geschäftsmann ist, für den er sich ausgibt.
Harmlos, aber dennoch äusserst kurswirksam ist die Masche vieler Finanzchefs, bei den Prognosen ein bisschen zu übertreiben, sei es, weil sie die Motivation ihrer Angestellten steigern wollen oder weil sie eigentlich auch nicht genau wissen, wie stark der Umsatz im nächsten und übernächsten Jahr wachsen wird. «Diese Firmen», so Peter, «wollen sich oft ein gutes Image schaffen und stecken ihre Ziele hoch, damit sie als Wachstumsfirmen gelten.» Als der Vontobel-Fondsmanager, der früher selber Analyst war, regelmässig Präsentationen von Technologiefirmen besuchte, fiel ihm auf, «dass die Analysten ihre Investmentstory einzig und allein um die Aussagen des Managements herum bauten». Dass die zumeist blutjungen Bonsai-Gurus oft keine eigene Meinung hätten, empfindet er persönlich als schlecht, führt dies zu einem gewissen Teil aber auf die wachsende Konkurrenz unter den Investmenthäusern zurück. «Es herrscht ein mörderischer Zeitdruck, und ausserdem musst du schauen, dass du Volumen generierst.»
Viele Firmenmanager wissen um diesen Druck und nutzen ihn geschickt für ihre Zwecke aus. «Analysten sind Spielbälle des Managements of Expectation. Ein gewiefter Finanzchef kann ihnen die Erwartungen diktieren. Er kann sagen, wir erwarten im nächsten Jahr 30 Millionen Franken Umsatz, sie schreiben es. Er kann aber auch sagen, wir erwarten 40 Millionen Franken, und sie schreiben es. Sie investieren wenig Hirn, aber sie haben auch wenig Zeit», so das vernichtende Urteil eines Managers einer mittlerweile konkursiten Schweizer Softwarefirma. Gegen die Willkür des Managements hilft oft nur hartnäckiges Bohren. «Erst nachdem ich mehrmals nachgefragt hatte, gestand mir der Boss einer Logistikfirma, dass er in einem Wachstumsbereich, von dem er mir eine Stunde lang vorgeschwärmt hatte, noch keinen einzigen Kunden habe», ärgert sich ein Senior-Analyst.
Doch diese Kritik kratzt viele Analysten wenig. Sie sehen sich mehr als Aktienverkäufer denn als Analytiker. «Volumen ist das A und O des Geschäfts», meint einer. Nur wer ständig umstuft, generiert Volumen und kassiert Extra-Boni. Und das rasante Monopoly («Aktien kaufen», «Aktien halten», «Aktien verkaufen») schenkt kräftig ein. Bei der Credit Suisse Group beispielsweise haben sich die Dienstleistungs- und Kommissionserträge seit 1996 glatt auf 10,5 Milliarden Franken verdoppelt. Der Handel und Verkauf von Wertpapieren, die Abwicklung von Fusionen und Akquisitionen und die Platzierung neuer Firmen an der Börse machten bei der CS 1999 bereits 38 Prozent der Gesamterträge aus, bei der UBS waren es sogar 43 Prozent. Dass diese grundverschiedenen Geschäfte zwar Hand in Hand gehen, zuweilen aber zu Interessenkonflikten führen, ist allgemein bekannt. Ist eine Bank beispielsweise an einer Finanztransaktion, etwa einem Börsengang oder einem Firmenkredit, beteiligt und verkauft gleichzeitig die Aktien dieses Unternehmens, hat sie ein Problem. Es dürfen zumindest von ihrer Seite her keine negativen Bemerkungen über diesen Kunden kommen, damit der Deal nicht gefährdet wird. In einer solchen Situation kann es schon einmal vorkommen, dass ein Vorgesetzter einem negativ gestimmten Analysten unterschwellig zu verstehen gibt, dass er sich seine kritischen Kommentare gefälligst zu verkneifen habe. «Der Chef kommt zum Beispiel ganz zufällig vorbei und fragt dich beiläufig, warum du denn so negativ seist. Das sei doch ein gutes Unternehmen», erzählt ein Betroffener hinter vorgehaltener Hand. Zwar beteuern die Banken, dass es zwischen den einzelnen Abteilungen so genannte Chinese Walls, virtuelle Mauern, gebe, die jeden Kontakt zwischen der Analyse- und der Fusions- oder der IPO-Abteilung verunmögliche. In der Branche glaubt aber niemand daran, dass das Gemäuer auch wirklich so dicht ist wie behauptet (siehe Interview «Viele Analysten werden überflüssig» auf Seite 105).
Wer die ganze Wahrheit wissen wolle, so der Einwand der Analysten, müsse halt anrufen. Im persönlichen Gespräch, räumen sie ein, seien sie frei, über ihre Eindrücke zu sprechen. «Weil wir nur selten Verkaufsempfehlungen haben, kann ‹halten› unter anderem auch ‹verkaufen› bedeuten. Am Telefon kann ich sagen, was es genau heisst», sagt CSFB-Konsumanalyst Robin Seydoux. Vielfach bekommen Analysten Probleme, wenn sie eine Aktie in einer Studie explizit zum Verkaufen oder Reduzieren empfehlen. Urs Ramseier von Lombard Odier beispielsweise wurde plötzlich nicht mehr zu den beliebten Eins-zu-eins-Meetings mit dem Management eingeladen, nachdem er die Aktie einer grossen Versicherungsanstalt auf «reduzieren» gesetzt hatte. Manchmal fühlen sich die Bosse nur durch eine bestimmte Formulierung verletzt. «Sagt man dem Management, man habe das Rating aus Bewertungsgründen reduziert, so akzeptieren sie das. Sagt man ihnen dagegen, es gebe andere Gründe, etwa mangelhafte Strategie oder mürbe Finanzen, werden sie sauer», erzählt ein Insider.
Erzwungener Daueroptimismus und verletzte Eitelkeiten sind Sachzwänge, denen sich ein Analyst nur schwer entziehen kann. Kein Wunder, ist die Fluktuation in dieser Branche ausgesprochen hoch. Quasi zur Rettung eines ganzen Berufsstandes fordern Finanzexperten deshalb die sofortige Abspaltung der Analyse in eine bankunabhängige Firma. «Dann könnte ich nämlich selbst bestimmen, welche Studien ich künftig haben will und welche nicht», sagt Franz Winkler. Der Asset-Manager wäre sogar bereit, für gute Firmenstudien zu bezahlen, anstatt diese mit seinen Kommissionen quer zu subventionieren. «Dann», so Winkler, «würde sich die Spreu sehr schnell vom Weizen trennen, denn nur wer einen guten Job macht, kann überleben.»
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