BILANZ: Wie beurteilt der bekannteste Kolumnist Amerikas die ersten 120 Tage von Präsident Obama?

Thomas Friedman: Es war ein ziemlich guter Start. Präsident Obama übernahm das Amt de facto ja nicht am 20.  Januar 2009, sondern schon am 5.  November letzten Jahres, denn George Bush hatte sich zurückgezogen. Obama hat den Zusammenbruch des Wirtschaftssystems verhindert, und das ist eine grosse Leistung, denn die Gefahr war real. Die Aktie unseres grössten Finanzkonzerns, Citibank, war billiger als die Benützung eines Citibank-Geldautomaten: Für die Gebühr von 2.50 Dollar gab es zweieinhalb Aktien. Obama hat zudem grosse Debatten zur Energieversorgung und zum Gesundheitssystem angestossen. Insgesamt gebe ich ihm sehr gute Noten, wie die Mehrheit der Amerikaner. Die Zustimmungsraten liegen bei 70 Prozent.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Ökonomen kritisieren aber, dass Obama die Sanierung des US-Bankensystems viel zu langsam vorantreibe. Wiederholt Amerika den Fehler Japans, das die Banken in den achtziger Jahren ebenfalls nicht entschieden genug sanierte und deshalb eine Dekade der Stagnation erlebte?

Es kann sein, dass wir den Fehler Japans wiederholen, wenn auch unabsichtlich. Die bisherigen Massnahmen zur Sanierung des US-Bankensystems entspringen drei Notwendigkeiten. Erstens: Ein Systemzusammenbruch musste verhindert werden. Zweitens: Der Kongress hat klar gesagt, dass er keinen Heller mehr geben würde für die Bankenrettung. Und drittens: Grossbanken wie die Citibank oder die Bank of America sollten auf keinen Fall verstaatlicht werden. Denn wer soll die Banken später zurückkaufen? Und zudem finden Sie keinen Banker, der für 249  000 Dollar im Jahr arbeitet – und wenn er dann bei einem Picknick eine Geburttagstorte isst, fotografiert ihn jemand und stellt das Bild ins Internet mit dem Satz: Hier arbeiten Ihre Steuergelder.

Finanzminister Tim Geithner und Obamas oberster Wirtschaftsberater, Lawrence Summers, haben sich intensiv mit der japanischen Gefahr beschäftigt und die zögerliche Sanierung des Bankensystems als grössten Fehler bezeichnet. Sind sie jetzt selbst zu langsam?

Sie sind nicht zu langsam, sie sitzen einfach zwischen den genannten Faktoren fest.

Wie schätzen Sie die Stresstests der amerikanischen Banken ein? Besteht nicht die Gefahr, dass die US-Regierung die Situation beschönigt und dann komplett an Vertrauen verliert, wenn es noch mal bergab geht?

Die Banken benötigen laut diesen Tests immerhin 75 Milliarden Dollar an neuem Kapital. Das ist viel.

Laut Internationalem Währungsfonds beläuft sich der gesamte Bedarf an Abschreibungen auf mehr als 4000 Milliarden Dollar. Davon ist nicht einmal die Hälfte erfolgt. Da klafft eine grosse Lücke.

Ich habe mit einigen Hedge-Fund-Managern geredet, die mir in der Vergangenheit meist zutreffende Prognosen gegeben haben. Sie sagen, dass diese Tests ziemlich genau seien. Aber natürlich behauptet niemand, dass die Banken gesund sind.

Wo liegt jetzt das Hauptproblem?

Bei den Konsumentenschulden, etwa durch Kreditkarten, und bei den Geschäftsimmobilien. Die Menschen geben viel weniger aus, dadurch sind beispielsweise die Shopping Malls weniger ausgelastet. Dieser Spiralprozess kommt jetzt erst in Gang.

Sollte die Regierung nicht klar sagen, wie schlimm es wirklich steht?

Das könnte sie, aber es wäre gefährlich, denn die Leute kauften dann nichts mehr, sie gingen nicht mehr aus, und dadurch würde sich das Problem verschärfen. Die Entscheidungsträger hoffen, dass sie die Banken langsam wieder aufpäppeln können. Das soll Vertrauen schaffen, dann kommt das Retailgeschäft zurück, und so werden wir langsam aus der Krise kommen und japanische Verhältnisse vermeiden.

Das Prinzip Hoffnung also.

Es ist Obamas grosse Wette. Er hat eine Wirtschaft übernommen, die vergleichbar ist mit einem Körper voller Krebstumore. Seine Handlungen lassen sich mit einer Chemotherapie vergleichen: Die Tumore schrumpfen, doch sie sterben nicht. Und es wird mehr Chemotherapie brauchen, damit sie nicht wieder wuchern.

Wie viel braucht es noch?

Wir alle wissen, dass wir ein weiteres Konjunkturprogramm benötigen. Wenn es mehr als eine Billion Dollar kostet, ist im Kongress die Hölle los. Bei den letzten Debatten war auffällig, wie viele Kongressabgeordnete sich damit gebrüstet haben: «Ich habe gegen das Bankensanierungsprogramm gestimmt.» Sie denken, dass sie damit Wahlen gewinnen.

Ein weiteres Konjunkturprogramm würde den schon gigantischen Schuldenberg noch weiter erhöhen. Lässt er sich überhaupt jemals abbauen?

Wenn ich Präsident wäre, würde ich dafür sorgen, dass jeder ausländische Student, der gerade seinen Abschluss macht, zusammen mit seinem Diplom eine Arbeitsgenehmigung bekäme. Dann würde ich ein Rekrutierungsteam nach Indien und China schicken und dort verkünden: Wir kaufen die besten Köpfe der Welt und holen sie nach Amerika. Kommt ins Silicon Valley! Wir können uns nicht mit Krediten aus dieser Krise retten, wir können uns nicht mit Konjukturprogrammen retten, wir können uns auch nicht mit Verstaatlichungen retten. Wir können uns nur mit Innovationen aus dieser Krise retten.

Wie viel Geld aus dem bereits verabschiedeten Konjunkturprogramm geht in Innovationen?

Überraschend viel, wenn man bedenkt, dass das Programm vom Kongress konzipiert wurde. Aber ich würde noch viel mehr machen, denn das ist der einzige Ausweg.

Sie kämpfen dafür, dass die Gelder vor allem in grüne Innovationen fliessen, die sogenannten Energietechnologien.

Wir geben sehr viel Geld für Energietechnologien aus, Rekordbeträge, und das ist auch ein Verdienst von Obama. Aber das reicht nicht. Wir brauchen ein klares Preissignal. Wenn wir keine Preiserhöhungen haben, die jeden Konsumenten beeinflussen, ist das so, als ob Sie jeder Hemdenfabrik in Amerika sagten, sie solle nur die Grösse Small herstellen, den Amerikanern aber nicht sagten, dass sie abnehmen müssen. Dann verkaufen Sie nicht viele Hemden der Grösse Small. Wir sagen unseren Autobauern in Detroit, dass sie saubere Autos bauen sollen, aber wenn wir von einer Benzinsteuer reden, dann heisst es: Nein, das ist ausgeschlossen. Warum fahren die Europäer kleinere Autos – weil die Menschen kleiner sind? Ich glaube nicht. Die Konsumenten hier haben sich an den hohen Benzinpreis gewöhnt.

Ein Preissignal bedeuten noch mehr Regulierung.

Ich bin für Regulierung, wenn sie die Innovation fördert. Wir brauchen eine Energiesteuer, und das ist mein Kritikpunkt an Obama. Er weiss, dass wir eine Abgassteuer brauchen, aber er sagt es nur schüchtern, nicht wirklich laut.

Der Benzinpreis ist eben die heiligste Kuh Amerikas. Mit einer Abgassteuer würde seine Popularität dramatisch sinken.

Das stimmt, aber wir müssen es trotzdem machen. Und wenn Obama den Amerikanern ins Auge schauen und ihnen sagen würde: Das ist ein Transformationsmoment, der Schlüssel liegt bei der Energietechnologie, und dazu braucht es eine Abgassteuer; dann wären die Amerikaner meiner Meinung nach bereit, diese Argumente zu prüfen. Sie wollen nur drei Dinge wissen: Habt ihr einen wirklichen Plan? Funktioniert er? Und: Ist er fair, das heisst gerecht in dem Sinne, dass nicht nur ein kleiner Teil der Bevölkerung dafür bezahlen muss?

Aber wenn die USA den Benzinpreis verdreifachten, brächen die US-Haushalte in der jetzigen Krise endgültig ein.

Mein Vorschlag wäre, dass wir im Gegenzug die Einkommenssteuer um den gleichen Betrag senkten, sodass die Gesamtrechnung für den einzelnen Haushalt neutral wäre.

Wenn Amerika nicht auf die grüne Revolution setze, so behaupten Sie, machten es die Chinesen.

Ich glaube, das China in fünf Jahren grün wird, und das nicht etwa, weil die Menschen dort Al Gores Film gesehen haben. Sie können dann nicht mehr atmen, nicht mehr trinken, es wird Todesfälle geben, und dann werden sie aus Notwendigkeit grün werden. Und es gibt eine Sache, die wir über Notwendigkeit wissen: Sie ist die Mutter aller Erfindungen. Dann wird in China alles grün werden. Grüne Autos, grüne Toaster, grüne Mikrowellen, grüne Kühlschränke. Und dann sage ich meinen amerikanischen Landsleuten: Das Spiel ist aus. Ihr werdet nicht nur euer Spielzeug aus China kaufen, sondern auch euer Auto, eure Autobatterie, eure Kühlschränke, alles. Das habe ich vor kurzem auch dem stellvertretenden chinesischen Aussenminister gesagt. Er hat geantwortet: «Tom, du bist zu optimistisch.»

Zumindest lässt sich in China eine derartige Revolution einfacher durchsetzen als in den westlichen Demokratien.

Mein Wunschtraum ist: Wir sind China für einen Tag, aber nicht für zwei. Unser System ist so blockiert, dass wir die grossen Probleme nicht lösen können.

In Ihrem Buch «Die Welt ist flach» haben Sie beschrieben, wie heute erstmals in der Geschichte Menschen rund um den Globus im Wettbewerb stehen. Fühlen Sie sich durch die globale Dimension der Krise bestätigt?

Ich lag falsch, das muss ich ehrlich zugeben. Die Welt ist noch viel flacher, als ich dachte. Wer wusste, dass Island ein Hedge Fund mit Gletschern war? Wer wusste, dass 120 britische Polizeidienststellen Bankgeschäfte mit Island machten, weil die Welt so flach war, dass sie eine um fünf Prozentpunkte höhere Marge nach Island lockte?

Gefährdet die Krise die Globalisierung?

Die Krise hat bisher noch nicht die Art von Protektionismus und geopolitischen Unruhen hervorgerufen, welche die Grosse Depression gross gemacht hat. Natürlich kann sich das in den nächsten Monaten noch ändern. Wir werden aber sicher nicht den Punkt erreichen, an dem wir sagen, die Globalisierung sei vorbei. Ich bin ein technologischer Determinist: Wir haben heute eine gigantische Vernetzung zu sehr tiefen Preisen und erreichen damit so viele Leute, dass es sehr, sehr schwierig sein wird, die Globalisierung wieder rückgängig zu machen.

Sie arbeiten seit 30 Jahren für die «New York Times». Die amerikanische Zeitungsindustrie steckt in einem Überlebenskampf. Wie ernst ist die Lage?

Es geht uns schlecht, das ist unbestritten. Wir mussten bei der «New York Times» einen Kredit von 250 Millionen Dollar von einem mexikanischen Milliardär annehmen, zu 14 Prozent Zinsen, und das als Zeitung, die an der Wall Street zu Hause ist. Das macht Angst. Anfang des Jahres wurde mir zum ersten Mal mitgeteilt, dass ich keine Lohnerhöhung bekäme. Dann hat man mir gesagt, dass mein Lohn um fünf Prozent gekürzt werde, dafür bekäme ich zehn Tage Urlaub. Auch das habe ich akzeptiert.

Wie lange wird die «New York Times» noch existieren?

Es wird noch sehr lange eine «New York Times» geben, da bin ich mir sicher, denn wenn die anderen Zeitungen sterben, wird die Nachfrage nach hochwertigen Nachrichten vom Marktführer steigen. Ob sie aus toten Bäumen oder in Bits und Bytes produziert wird, kann ich nicht sagen.

Wie kann sie Geld verdienen?

Wir haben den Fehler gemacht, im Internet alles gratis anzubieten. Wir werden uns wohl in Richtung «Wall Street Journal» bewegen, das sich seine Online-Inhalte bezahlen lässt. Wir haben jeden Tag mehr Nutzer, mit 20 Millionen Lesern sind wir mit grossem Abstand die grösste Zeitungs-Website der Welt. Ich als Kolumnist lebe im goldenen Zeitalter, ich habe Leser in jedem Winkel der Welt. Und dann gibt es eine Lohnkürzung. Das ist verrückt.

Warum bloggen Sie nicht einfach unter eigenem Namen?

Die beste Kombination ist ein wirklich guter Reporter oder Kolumnist mit einer wirklich starken Marke. Ich will Tom Friedman von der «New York Times» sein. In diesem Zusammenspiel liegt eine Kraft, die viel stärker ist als ich. Nicht ich bin der Star, sondern die Zeitung.

Thomas Friedman (56) arbeitet als Kolumnist bei der «New York Times». Seine Artikel erscheinen weltweit in mehr als 100 Zeitungen. Der dreifache Pulitzer-Preis-Träger hat mit seinem Weltbestseller «The World is flat» das erfolgreichste Sachbuch über die Globalisierung geschrieben. In seinem Folgewerk «Hot, flat, and crowded» fordert er einen ökologischen Umbau der Weltwirtschaft.