BILANZ: Herr Spiesshofer, wussten Sie im Juli 1991, dass Sie eines Tages ABB-Chef werden würden?
Ulrich Spiesshofer: Absolut nicht. Das war der Zeitpunkt, zu dem ich meine Dissertation einreichte.

Sie doktorierten über das Thema «Karrieren von Ingenieuren im Topmanagement von europäischen Industrieunternehmen». 
Es sieht so aus, als hätten Sie damals schon zielstrebig auf Ihre heutige Position hingearbeitet.
Ich habe ja sowohl ein technisches als auch ein betriebswirtschaftliches Studium gemacht. Aber es stimmt, ich konnte viele Ergebnisse dieser Untersuchung während meiner Karriere gut brauchen: etwa nicht zu viele Sachen parallel zu machen, nicht zu viele Veränderungsdimensionen gleichzeitig anzupacken etc. So entwickle ich auch meine Mitarbeiter. Aber wo ich dann eines Tages landen würde, war damals natürlich völlig offen.

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Sie haben in Ihrer Arbeit untersucht, welchen Einfluss verschiedene Faktoren auf die Wahrscheinlichkeit ausüben, als 
Ingenieur im Topmanagement zu landen. Eine vorgängige Beraterkarriere war nicht dabei. Wie sehr hat die Ihnen geholfen?
In meiner Beraterzeit konnte ich völlig unterschiedliche Unternehmen sehen, völlig unterschiedliche Branchen und völlig unterschiedliche Fragestellungen. Das hilft ungemein, eine breite selbstkritische Perspektive aufzubauen. Es hilft auch sehr, manchmal querzudenken und sich zu fragen: Das funktioniert in einer Branche, wieso nicht auch in einer anderen? Ich konnte in den verschiedensten Ländern rund um die Welt arbeiten. Dadurch ging für mich als Schwaben die Welt auf. Man bekommt ein Fingerspitzengefühl für unterschiedliche Kulturen, das hilft in einem globalen Unternehmen wie ABB.

Die Kehrseite: Sie haben erst drei Jahre operative Erfahrung. Extrem wenig für einen CEO.
Das kann man unterschiedlich anschauen: Als Berater hatte ich sehr viele operative Themen. Zudem hatte ich vierzehn Jahre lang Ergebnisverantwortung. Und ich bin der Einzige in der ABB-Konzernleitung, der mal ein Servicegeschäft ausgebaut und geführt hat – Beratung ist ja nichts anderes. In meiner Zeit als Partner bei Roland Berger hatte ich mein eigenes Vermögen in die Firma investiert und dadurch volle unternehmerische Verantwortung. Und in meiner Zeit als ABB-Strategiechef habe ich den Konzerneinkauf mit einem Volumen von fünfzehn Milliarden aufgebaut.

Früher war die Nationalitätenfrage in der Führungsspitze der ABB extrem wichtig. Jetzt hat der Konzern eine deutsche Doppelspitze. Hat die Frage an Bedeutung verloren?
Grundsätzlich zählt bei uns die Leistung. Ich ging vor siebzehn Jahren weg aus Deutschland, seit zwölf Jahren lebe ich in 
der Schweiz. Im Herzen bin ich Schweizer.

Die Amtszeit von Präsident Hubertus von Grünberg endet in eineinhalb Jahren. Könnte danach vielleicht sogar ein Amerikaner das Präsidium übernehmen?
Dazu müssen Sie das Board fragen. Aber ich bin in den letzten acht Jahren bei ABB mit allen Präsidenten und CEOs gut ausgekommen. Ich gehe davon aus, dass das auch mit dem nächsten Präsidenten so sein wird.

Können Sie jetzt, gegen Ende der Amtszeit des Präsidenten, überhaupt noch weit reichende strategische Entscheide fällen?
Über den Zeitpunkt des Amtszeitendes des Präsidenten wird das Board zu gegebener Zeit sprechen. Wir hatten aber letzte Woche eine mehrtägige Verwaltungsratssitzung in Polen. Da haben wir die Agenda für die nächsten Jahre diskutiert. Es gibt keinerlei Restriktionen. Das Spielfeld ist offen.

Wie würden Sie Ihren Führungsstil beschreiben?
Ich glaube, dass ich partizipativ und kollaborativ führe.

Sie haben den Ruf, manchmal auch anders zu führen: eher laut und rustikal, bisweilen sogar arrogant.
Die Wahrnehmung anderer möchte ich nicht kommentieren. Ich arbeite mit vielen langjährigen Mitarbeitern wie Finanzchef Eric Elzvik sehr gut zusammen und erhalte ein anderes Feedback. Ich führe stark von der Front aus, sitze also nicht nur im Hauptquartier und beobachte. Ich bin sehr viel bei Kunden und sehr viel mit Teams in Workshops. Ich habe den Anspruch, mit meinen Teams Ziele zu definieren und diese konsequent umzusetzen. Aber es ist mir auch sehr wichtig, für meine Leute da zu sein, wenn es Probleme gibt. Es ist okay, wenn jemand abends müde nach Hause geht, solange er ein Lächeln im Gesicht hat.

Wo wollen Sie als CEO Zeichen setzen?
In drei Gebieten: erstens Wachstum, durch Innovationen, durch Expansion in neue Geschäftsfelder wie Elektromobilität oder das Solargeschäft, durch bessere Marktausschöpfung, was uns in der Robotik bereits hervorragend gelungen ist. Wir wollen in jedem Bereich, in dem wir aktiv sind, die Nummer eins oder zwei sein. Zweitens eine engere Zusammenarbeit zwischen den Geschäftsbereichen, um für den Kunden Mehrwert zu schaffen. Und drittens eine sehr zielgerichtete Umsetzung der Prozesse. Unter meinem Vorgänger Joe Hogan haben wir krisenbedingt ein sehr stringentes Kostenmanagement aufgesetzt. Das läuft hervorragend, da werden wir das Momentum halten.

Joe Hogan hat für mehr als zehn Milliarden Dollar Firmen gekauft; bevor es an die Knochenarbeit der Integration ging, hat er sich aus dem Staub gemacht.
Das ist nicht so. Die erste Phase der Knochenarbeit hat er stark vorgelebt. Er hat regelmässig bei den gekauften Firmen vorbeigeschaut, das Management in den Divisionen unterstützt und einen grossen Wertbeitrag geleistet. An diese Arbeit werden 
wir anknüpfen.

Was heisst das konkret? Stülpen Sie einfach die ABB-Mentalität über die neuen Firmen?
Bei einer Integration hat man unterschiedliche Möglichkeiten.Die eine ist, zu sagen: So wie ABB läuft, muss alles andere auch laufen. Wir haben uns für eine Alternative entschieden. Wir gehen rein und verstehen das gekaufte Unternehmen erst mal. Baldor etwa ist ein sehr gutes Unternehmen mit eigenen Charakteristiken. Wenn wir das sofort «ABBisiert» hätten, hätten wir die Firma kaputt gemacht. Jetzt bestellen wir wie auf einer Speisekarte: Das gehen wir an bei der Integration, darauf verzichten wir, und hier lernen wir von der übernommenen Firma. Das Prinzip ist das Beste beider Welten: Wer macht es besser?

Die Akquisitionen sind schwerpunktmässig in den USA passiert. Was bedeutet das kulturell für den Konzern?
In der Vergangenheit war unser Gravitationszentrum eher in Europa und Asien. Heute sind wir kulturell ausbalancierter. Das ist gut so, denn die USA sind der grösste Industriemarkt der Welt. Dass der auch kulturell und personell im Topmanagement besser repräsentiert ist, ist begrüssenswert.

Der VR hat für die erfolgreiche Integration einen Extrabonus ausgesetzt. Warum? Gekaufte Firmen zu integrieren, gehört doch zum normalen Jobprofil eines Konzernleitungsmitglieds.
Das Ziel des Bonus ist es, die Konzernleitung zu Höchstleistungen bei der Integration zu motivieren.

Entschuldigen Sie, aber reicht Ihr normales Salär nicht, um Sie zu motivieren? Letztes Jahr hat der ABB-Chef 10,2 Millionen Franken bekommen.
Über das Thema Kompensation müssen Sie mit dem Verwaltungsrat sprechen, ich kann Ihnen nur etwas über die Zielsetzung des Bonus sagen. Bei einer Integration laufen Sie unter Vollleistung. Das richtig hinzubekommen, erfordert Höchsteinsatz. In der kritischen Phase von Baldor etwa war ich alle zwei Wochen in Arkansas. Und das Risikoprofil einer Milliardenakquisition ist enorm. Deshalb hat der VR beschlossen, die Performance mit einem Extrabonus zu honorieren.

Sind trotz der anstehenden Integration weitere Übernahmen ein Thema? ABB hat sieben Milliarden Dollar in der Kriegskasse.
Ja, natürlich! Übernahmen waren in den letzten Jahren ein Thema, sie werden auch in Zukunft ein Thema sein. Wir werden nach wie vor Lücken im Angebot durch Akquisitionen füllen.

Wo sehen Sie dabei die Schwerpunkte?
In der Automationssparte kann ABB in Zukunft noch viel mehr machen. Auch auf der Serviceseite sollten wir uns verstärken. Und das dritte Thema ist die Software.

Wie wichtig ist der Standort Schweiz für ABB heute noch?
Die Rahmenbedingungen hier waren bisher insgesamt attraktiv. Deshalb haben wir nach wie vor ein hohes Engagement bei Forschung und Entwicklung in Höchsttechnologie. Das würden wir gerne beibehalten. ABB hat in der Schweiz eine langjährige Geschichte, und das Ziel wäre, in der Schweiz auch eine langjährige Zukunft zu haben.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang die 1:12-Initiative?
Ich habe eine institutionelle und eine persönliche Meinung. Die Schweiz hat es wirklich geschafft, in den letzten Dekaden eine tolles Wertversprechen zu geben an Unternehmen, Mitarbeiter und Investoren. Unsere Topentwickler werden hier hoch bezahlt und liefern einen für uns kritischen Wertbeitrag. Ich wäre sehr traurig, wenn 1:12 das erschweren oder verunmöglichen sollte. Das ist meine persönliche Meinung.

Und die institutionelle?
Wir lehnen die 1:12-Initiative ab. Wir sind überzeugt, dass sie schwere negative Auswirkungen auf die Wettbewerbsfähigkeit der Schweizer Wirtschaft hat. An jedem Arbeitsplatz, den wir in Forschung und Entwicklung hier schaffen, hängt ein Arbeitsplatz in der Fertigung mit dran, ein Arbeitsplatz bei einem Zulieferer etc. Wenn wir die hoch bezahlten Stellen hier nicht mehr halten könnten, hätte das auch Auswirkungen auf viele andere Arbeitsplätze.

Was würde eine Annahme für ABB bedeuten?
Ich würde mir extreme Sorgen machen, wie ich die Schlagkraft der ABB erhalten sollte. Unsere Wettbewerbsfähigkeit würde leiden hinsichtlich der hoch qualifizierten Mitarbeiter, die wir brauchen, um im globalen Wettbewerb zu bestehen. In unserem Technologiebereich sind die Innovationsraten sehr hoch, und Schweizer Produkte kann man einfach nicht über den Preis verkaufen. Da machen wir uns wirklich Sorgen, nicht nur, was die Konzernleitung angeht. Die Konzernleitung in grossen Konzernen kann man verlagern.

Ist das ein Thema bei ABB?
Es gibt jede Menge Optionen. Als verantwortungsvoller Unternehmer muss man auf jedes Szenario eingestellt sein.

Und was würde es für Sie persönlich bedeuten? Sie haben als Spartenchef letztes Jahr 4,5 Millionen verdient, nun dürften es wie bei Ihrem Vorgänger um die 10 Millionen sein.
Zunächst: Die ABB wird mich wegen dieses Themas nicht verlieren. Ich werde weiterhin für ABB tätig sein. Aber ich bin hier nicht das Wichtigste. Das Wichtigste wäre, die Spitzenmannschaft zu erhalten. Das wäre meine wichtigste Aufgabe.

Und wie soll das gelingen?
Darüber reden wir, wenn es so weit ist. Jetzt konzentrieren wir uns darauf, das abzuwenden. Hoffentlich geht es gut. Wenn nicht, werden wir entsprechende Aktionen kommunizieren.

Vom Beraterpult auf den Chefsessel: Ulrich Spiesshofer (49) ist seit 15. September 2013 CEO des Industrieriesen ABB mit 40 Milliarden Dollar Umsatz und 150 000 Mitarbeitenden. Der gebürtige Schwabe arbeitete 15 Jahre lang als Berater, zunächst bei A.T. Kearney, später bei Roland Berger. 2005 wechselte er als Strategiechef zu ABB, ab 2010 leitete er die Automationssparte. Der Vater zweier Söhne ist leidenschaftlicher Skifahrer und Segler, er spielt Klarinette, Saxofon und Akkordeon.