Weshalb verliert die UBS Kunden, obwohl sie einen wertorientierten Anlagestil pflegt, der den Bedürfnissen der Anleger nach langfristiger Wertsteigerung und Erhaltung des Kapitals eigentlich Rechnung tragen sollte? Und warum wird Warren Buffett, Amerikas Vorzeigeinvestor Nummer eins, auch in diesem Jahr im Vergleich zum Index eine unterdurchschnittliche Performance ausweisen müssen?
Die Value-Investoren hatten es in den letzten vier Jahren nicht einfach. Langfristige Studien zeigen zwar deutlich: Wer auf der Suche nach Substanzperlen die richtigen auswählt, kann den Gesamtmarkt locker schlagen. Und in den letzten 35 Jahren blieb die Performance von Titeln, deren wahrer Wert von den Anlegern verkannt wird, jedes Jahr im Durchschnitt um 4,5 Prozentpunkte hinter den Wachstumsaktien zurück (siehe den Kasten «Gegensatz: Value- und Growth-Stil im Vergleich»). Doch seit die Börsen boomen, fällt es den wertorientierten Investoren schwerer, ihren langfristig erfolgreichen Ansatz zu verkaufen.
Genau mit diesem Problem kämpft die UBS-Tochter UBS Brinson, die für die gesamte Anlagestrategie der Bank verantwortlich ist. Gary Brinson und sein Team bleiben mit ihrem wertorientierten Ansatz sowohl bei vielen Aktienmandaten als auch in den gemischten Portefeuilles unter der Messlatte. Für die UBS erweist es sich jetzt als Nachteil, dass sie die aus Chicago gesteuerte Strategie auf die Gesamtbank übertragen hat. Betroffen von der ungenügenden Performance sind nämlich nicht nur viele Mandate von Grossanlegern, sondern auch jene von Kunden im Privatebanking und von Fondsanlegern.
Und die zeigen sich in euphorischen, von zukunftsgerichteten Unternehmen geprägten Börsenphasen nicht sehr geduldig. Pensionskassenmanager sind ihren Versicherten jedes Jahr einen möglichst guten Renditeausweis schuldig. Fondsmanager müssen jährlich zu Performancewettbewerben antreten. Und Fondsanleger wer-den durch ebendiese Wettbewerbe zur kritischen Beobachtung der Anbieter angeregt. Wer da als Fondsmanager während Jahren schlecht abschneidet, muss sich Fragen gefallen lassen, und das, obwohl die Vergangenheit zeigt, dass sowohl Wachstums- als auch Substanzaktien an den Märkten historisch ihre dominierenden Phasen haben (siehe Grafik «Alles zu seiner Zeit»). Das ebenfalls auf den wertorientierten Ansatz spezialisierte US-Fondshaus Templeton hat errechnet, dass der wertorientierte dem wachstumsorientierten Ansatz in den letzten 20 Jahren in 14 Jahresperioden überlegen war.
Doch heute sind vor allem Aktien gefragt, die den Anlegern künftig stark steigende Gewinne versprechen, Wachstumstitel eben. Viele junge Hightech-, Internet- und E-Commerce-Titel sind längst höher bewertet als die Aktien von gestandenen Unternehmen. Die Investoren stören sich nicht an der Tatsache, dass viele der Highflyer noch keinen einzigen Franken Gewinn erwirtschaften. Sie setzen auf die technologische Revolution und projizieren den heutigen Boom in die Zukunft. Und dabei gehen sie automatisch davon aus, dass sich diese Revolution auf unternehmerischer Ebene dereinst in gigantischen Gewinnen niederschlägt.
Diese Titel werden in der Gunst der Anleger bleiben. «Weltweit spricht der Trend langfristig für Wachstumsaktien», sagt Bernhard Tschanz, Leiter Aktienanalyse bei der Credit Suisse Private Banking. Die gewaltigen Investitionen in die Informationstechnologie begünstigten die Hightech-Unternehmen zunehmend auch in Europa, ist Tschanz überzeugt. Angesichts der hohen Bewertungen und der unsicheren Zinsentwicklung in den nächsten Monaten lässt er derzeit allerdings Vorsicht walten. Doch diese Vorsicht gilt auch bei vielen traditionellen Value-Aktien. «Sie entstammen oft Branchen, etwa der produzierenden Industrie und dem Finanzbereich, deren traditionelles Geschäft sich in fortgeschrittenen Reifephasen befindet.»
Value-investoren packen ihre aufgabe anders an. Sie sind typische Fundamentalanalysten, sitzen keinem Trend auf und lassen sich schon gar nicht vom Gefühl leiten. Vielmehr studieren sie in mühseliger Kleinarbeit die Bilanzen und Erfolgsrechnungen. Kommen sie nach dieser eingehenden so genannten Bottom-up-Analyse zum Schluss, eine Aktie sei im Vergleich zum inneren Wert des Unternehmens an der Börse unterbewertet, suchen sie die Gründe für diese Unterbewertung:
Solche Aktien weisen tiefe Kurs-Gewinn-Verhältnisse und tiefe Preis-Buchwert-Relationen auf. Der typische Value-Investor muss dann entscheiden, ob eine reelle Chance besteht, dass diese Unterbewertung dereinst vom Markt nach oben korrigiert werden könnte, beispielsweise weil das Management ausgewechselt oder die Informationspolitik verbessert wird. «Wenn wir davon ausgehen können, dass die Unterbewertung temporärer Natur ist, erwägen wir einen Kauf», sagt Georg von Wyss, Partner bei der auf die Verwaltung des Classic-Global-Equity-Fonds spezialisierten Braun, von Wyss & Müller AG in Zürich. So hat von Wyss beispielsweise Richemont-Aktien gekauft, als sie noch auf kaum einer Empfehlungsliste figurierten. Von Wyss hatte damals unter anderem auf eine bevorstehende transparentere Struktur und Informationspolitik des Mischkonzerns (Luxusgüter, Tabak, Pay-TV) gesetzt – und recht erhalten.
Als die Aktien der CS Group im Crash letzten Herbst von 380 Franken sukzessive auf 138 Franken absackten, schlug die Stunde der Zürcher Schnäppchenjäger. Von Wyss und seine Kollegen hatten für die CS Group, die wie viele andere Schweizer Aktien auf der ständigen Überwachungsliste figuriert, einen fairen Wert von rund 300 Franken errechnet. Dass die Aktie damals mit 138 Franken gerade mal den Wert der Vermögensverwaltungsaktivitäten der CS Group widerspiegelte, empfanden die Fondsmanager als deutliches Signal für eine krasse Überreaktion der Anleger in der damaligen Krise. «Auf diesem Kurs-niveau erhielten die Investoren den Wert der Credit Suisse First Boston und der Winterthur-Versicherungen gratis dazu», sagt Thomas Braun. Auch hier hat sich die Unterbewertung mittlerweile in eine faire Bewertung verwandelt (siehe nachfolgende Grafik «Unterschiedliche Bewertung im Zeitablauf»).
Nicht immer finden die Aktien aller-dings so schnell auf das faire Niveau zurück. «Wir müssen uns oft Jahre gedulden, bis die Titel anziehen», sagt von Wyss. Ein Value-Manager ist ein früher Käufer und schwimmt damit meist gegen den Strom. «Deshalb kaufen wir nicht einfach Aktien, die tief bewertet sind. Wir wollen möglichst sicher sein, dass der innere Wert des Unternehmens dank geeigneten Massnahmen des Managements mit der Zeit steigt.» Ist dies nicht der Fall, bleiben die Value-Manager oft jahrelang auf Titeln sitzen, die sich keinen Franken nach oben bewegen, und geraten damit in die von den Value-Anlegern gefürchtete Value-Falle. Hat ein Management nämlich keine überzeugende Strategie, kann die Aktie an der Börse noch so billig sein, die Chancen auf eine Kurssteigerung sind gering. Typische so genannte Value-Traps sind für von Wyss die Aktien von Dätwyler und Bobst. «Die beiden Titel sind zwar billig, aber Dätwyler betreibt als Hauptziel vor allem Beschäftigungspolitik im Kanton Uri, und Bobst hat eine ausgesprochen schlechte Kapitalrendite», erklärt von Wyss die für einen aktiven Stockpicker typischen Überlegungen.
Gefallen findet von Wyss derzeit an den Aktien des Tabak- und Konsumgüterkonzerns Philip Morris, dessen Titel unter den ständigen Gerichtsverhandlungen mit Rauchern leiden. Auch die Schweizer Privatbanken Vontobel und Sarasin seien attraktiv, da sie die gleichen Wachstumsraten aufwiesen wie die Pharmatitel, aber nur halb so teuer bewertet seien. Und von SIG erwartet von Wyss eine Abkehr von der Konglomeratsstruktur, was als Katalysator für Kurssteigerungen wirken könnte.
Die UBS-Tochter Warburg Dillon Read hat mit einem ihrer jüngsten Produkte im Vergleich zum aktiven Stockpicking einen ganz anderen, rein mechanischen Weg gewählt. Die Londoner Derivatspezialisten kreiierten den Europe Value 20 Index. In diesem Index sind die 20 am Kurs-Gewinn-Verhältnis gemessen billigsten europäischen Bluechips aus dem Dow Jones Stoxx Index vertreten. Alle drei Monate wird der Index den neusten Marktentwicklungen angepasst. Im Index sind auffallend viele Finanzinstitute vertreten. Auch die Autohersteller DaimlerChrysler, Volkswagen und Renault gehören, gemessen am Kurs-Gewinn-Verhältnis, seit Monaten zu den im Europe Value 20 Index vertretenen Kellerkindern an den europäischen Aktienmärkten.
Wie gross die Chancen auf Kurssteigerungen auch mit solchen Titeln sind, zeigt die historische Analyse. Warburg Dillon Read hat den von ihr gebildeten Index bis März 1993 zurückgerechnet. Und siehe da: Auch ohne eingehende Analyse haben die billigsten Value-Aktien den Gesamtmarkt geschlagen. Während der Europe Value 20 Index in den letzten gut sechseinhalb Jahren pro Jahr rund 23,3 Prozent zulegte, kam der als Grundlage dienende Dow Jones Stoxx nur auf eine Performance von 17,2 Prozent. Die Anleger können seit Oktober an der Börse auf diesen Index lautende Zertifikate kaufen.
Für viele Value-Investoren ist deshalb klar: Langfristig zählt nur Value. «Ein wertorientierter, langfristig denkender Anleger sollte sich nicht zum Markttiming hinreissen lassen», sagt Georg von Wyss. Doch was, wenn der Geduldsfaden reisst und eine Anlage in die Börsenhighflyer lohnender erscheint? Und wenn die Erkenntnis reift, dass die jungen, boomenden Industrien im traditionell wertorientierten Ansatz keinen Platz finden? Ein überzeugter Value-Investor lässt sich nicht zu Prognosen hinreissen und wechselt schon gar nicht nach wenigen Jahren die Strategie. Schliesslich hat für ihn unter dem Strich in der Vergangenheit immer mehr herausgeschaut.
Doch das gros der investoren folgt lieber einem Trend. Und sie tendieren dazu, die Vergangenheit überzubewerten. Nur Aktien von gut gehenden Unternehmen steigen, und das muss wohl in Zukunft so bleiben, lautet ein viel gehörtes Argument. Doch in diesem Punkt haben sich wohl auch gestandene Managementgurus schon die Augen gerieben. Als Tom Peters Anfang der Achtzigerjahre seinen Bestseller «In Search of Excellence» publizierte, lag der Wälzer auf den Nachttischen der Manager dieser Welt. Jeder wollte so gut sein wie die Firmenchefs der besten US-Unternehmen, die Peters nach sechs Kriterien gekürt hatte. Doch eine spätere Untersuchung zeigte, dass die besten Unternehmen in den fünf Jahren nach Peters Analyse an der Börse weit schlechter abschnitten als die 39 schlechtesten US-Firmen. Die Spezialisten nennen dieses seit Jahrzehnten zu beobachtende Phänomen «mean reversion». Die Guten werden schlechter und die Schlechten besser. Und so gesehen, sollten über lange Sicht eigentlich die meisten Aktionäre auf ihre Rechnung kommen, sofern sie nicht dauernd die Strategie wechseln.