BILANZ: Mister Stone, «Gier ist gut», der Spruch des Finanzhais Gordon Gekko aus Ihrem ersten «Wall Street»-Film von 1987, wurde zum geflügelten Wort. In Ihrem neusten Film kehrt Gekko zurück. Was hat sich für Sie in all den Jahren an der Wall Street verändert?
Oliver Stone: Die Freibeuter der achtziger Jahre wie Michael Milken, der damals wegen Insiderhandels verurteilte König der Ramschanleihen und eines der Vorbilder für die Figur Gordon Gekkos, sind mittlerweile verschwunden. Sie wurden ersetzt von den grossen Banken. Die Banken wurden vor der jüngsten Krise zu Piraten und Betrügern, obwohl sie auf der richtigen Seite des Gesetzes standen. Sie verkauften den Amerikanern Ramsch in Form von zweitklassigen Hypotheken. Niemand regulierte sie. Es gab zwar Aufsichtsbehörden, aber diese machten ihre Arbeit nicht. Es gab einen enormen Verfall von Moral und Anstand. Gekko dagegen brach das Gesetz. Er wurde beim Insiderhandel erwischt und ging ins Gefängnis. – Als er 2001 aus dem Gefängnis entlassen wird, macht jeder an der Wall Street krumme Geschäfte, und zwar ganz rechtmässig. Deswegen folgert Gekko: «Gier ist jetzt legal.»
Wie meinen Sie das?
In den achtziger Jahren gab es noch zwei Typen von Banken: Kreditinstitute und Investmentbanken. Ende der Neunziger fiel diese Trennung, und normale Banken konnten fortan die Geschäfte machen, die zuvor Investmentbanken vorbehalten waren. Die Finanzbranche wurde dereguliert. Leute wie Robert Rubin, der ehemalige Chef der Investmentbank Goldman Sachs und Finanzminister unter Bill Clinton, drückten das durch. Alan Greenspan, der damalige Notenbankchef, und auch andere argumentierten immer, dass sich die Märkte selbst regulieren würden. Aber das ist nicht geschehen.
Was passierte?
Die Banker wurden gieriger, weil sie so viel verdienen wollten wie Hedge-Fund-Manager, die 40 Millionen Dollar im Jahr machten. Ich glaube, die Banker verloren den Verstand. Statt langweilig ihre Geschäfte zu machen, beteiligten sie sich an Wetten, um mehr und mehr Geld zu verdienen. Nehmen Sie Rubin als Beispiel. Der ging zur Citigroup und kassierte 100 Millionen Dollar oder sogar mehr. Das war unverantwortlich.
Und die Investmentbanken?
Investmentbanken wie Goldman Sachs wurden durchtriebener. Mein Vater war Broker, und er arbeitete ausschliesslich für seine Kunden. Ich glaube, Goldman Sachs und Morgan Stanley verloren das Gespür dafür, für wen sie arbeiteten. Gekko sagt im Film: «Die sind wie Buchmacher. Die führen das Casino. Sie verdienen Geld auf dem Weg hinein und auf dem Weg hinaus.»
Im neuen Film wird die fiktive Investmentbank Keller Zabel vom skrupellosen Konkurrenten Churchill Schwartz übernommen. Churchill ist eine Bank, die gegen ihre Kunden auf eigene Rechnung wettet. Haben Sie sich da von den jüngsten Kontroversen um Goldman Sachs inspirieren lassen?
Eliot Spitzer …
… der als ehemaliger Generalstaatsanwalt von New York zum Sheriff der Wall Street wurde und später als Gouverneur über einen Sexskandal stolperte …
… und der bei Goldman Sachs ermittelte, hat uns schon früh auf die geschäftlichen Verbindungen von Goldman Sachs hingewiesen. Noch bevor es in den Zeitungen stand, erzählte Spitzer uns, dass Goldman Sachs gegen eigene Kunden auf fallende Preise gesetzt habe. Das war ein grossartiges Thema, das wir im Film nutzen konnten. «Schaut euch Goldman an», sagte Spitzer, «das ist das Reich des Bösen.» Die Händler bei Goldman Sachs waren die Ersten, die merkten, dass der Hypothekenmarkt nur noch Ramsch war. Das sind kluge und sehr arrogante Leute – also haben sie dagegen gewettet.
Wer waren die Vorbilder für die Hauptfiguren Ihres Films? Etwa für Bretton James, einen der führenden Partner von Churchill Schwartz?
Das sind Mischungen. Die Figur von Bretton James, einem arroganten Mistkerl, geht zum Teil auf Robert Rubin zurück. Er sieht gut aus, ist aalglatt und der König der Welt. Auch Jamie Dimon, der Vorstandschef von J.P. Morgan Chase, und Goldman-Sachs-Chef Lloyd Blankfein sind Teil dieser Mischung. Der alte Chef der fiktiven Investmentbank Keller Zabel, die der von J.P. Morgan übernommenen Bear Stearns ähnelt, geht zum Teil auf deren früheren Chef Jimmy Cayne zurück.
Sie klingen so, als ob Sie die Banken an der Wall Street und die Politiker in Washington für die grossen Bösewichte hielten. Im Film ist das nicht so klar. Gekko tritt zeitweise als geläuterter Sünder auf. Jake Moore, der mit Gekkos Tochter liierte junge Händler, will die Welt mit Anlagen in umweltfreundlichen Energien verbessern. Banker an der Wall Street spenden zudem Geld für wohltätige Zwecke. Kann man an der Wall Street überhaupt Gut und Böse unterscheiden?
Im ersten «Wall Street»-Film ging es um einen Mann, der seinen Vater und die Gewerkschaft für sein eigenes und für Gekkos Vorwärtskommen verrät. Im neuen Film ist die Geschichte etwas komplizierter. Jede Figur hat Zwischentöne, es ist nicht alles schwarz oder weiss. Gekko, den niemand bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis abholt, steht ausserhalb der Gesellschaft und will wieder im Finanzgeschäft mitspielen. Er ist zerrissen, weil er gleichzeitig eine Beziehung zu seiner Tochter aufbauen will. Jake Moore ist ein guter Typ, der will, dass alternative Energien Erfolg haben. Allerdings verbreitet er auch falsche Gerüchte, was illegal ist. Gerüchte spielen eine wichtige Rolle im Film, weil sie von der modernen Technologie so schnell verbreitet werden. Jeder in dieser Welt bewegt sich in einem Haifischbecken. Jeder verrät jeden. Dafür sorgt das Geld.
Sind die Dinge, verglichen mit früher, komplexer geworden?
Ich bin einfach älter geworden. Der erste Film war einfacher, weil es mein erster Versuch war, einen Film über Wirtschaft zu machen. Mein Vater fragte mich damals, warum es keine guten Filme über Wirtschaftsthemen gebe. Aber selbst der erste «Wall Street»-Film war komplex angesichts der geringen wirtschaftlichen Kenntnisse, welche die Leute damals hatten. Mittlerweile erhalten die Leute Wirtschaftsnachrichten rund um die Uhr.
Sie haben Eliot Spitzer als Recherchequelle genannt. Wer hat Ihnen die Wall Street sonst noch erklärt?
Wir haben sehr viele Leute getroffen. Hedge-Fund-Manager George Soros war hilfreich. Der Ökonom Nouriel Roubini, der die Krise vorhergesagt hatte, war grossartig. Aber wir haben auch mit normalen Wertpapierhändlern gesprochen.
Gordon Gekko mit seinen Hosenträgern und den gegelten Haaren motivierte viele dazu, in die Finanzbranche zu gehen. Wird der neue Film die gleiche Wirkung haben?
Ich weiss es nicht. Jedenfalls hatten wir das nicht vor. Ich versuchte einfach, eine Geschichte vor dem Hintergrund der Finanzbranche zu erzählen. Ich glaube, es war vor allem der Glanz der Wall Street, der die Leute anzog. Die wollten nicht unbedingt werden wie Gekko, ein Ganove, der am Ende des Films verhaftet wird. Niemand will ins Gefängnis. Aber es stimmt: Eine Menge Leute gingen wegen des Films an die Wall Street, und ich habe einige von ihnen getroffen, als ich den zweiten Film machte. Viele wurden übrigens sehr reich. Die Wall Street ist ein Mechanismus der Macht, ein Motor des Kapitalismus. Die Leute wurden von dieser Macht an die Wall Street gelockt und nicht deshalb, weil sie unbedingt böse Dinge tun wollten.
Sie zeigen wieder viel Reichtum. Banker fliegen mit dem Helikopter aufs Land. In teuren Clubs machen sich schöne Frauen an vermögende junge Händler ran.
Der Reichtum ist enorm. Aber ich habe das nicht so hochgespielt wie im ersten Film. Die achtziger Jahre waren eine neue Ära. Es gab damals erstmals Computer und ein neues Lebensgefühl. Ich bin in den fünfziger und sechziger Jahren gross geworden, als die Wall Street noch viel stärker ein Club weisser Männer war. In den achtziger Jahren wurde es zu einer neuen Welt mit Kindern, die schon als Zwanzigjährige Millionen von Dollars verdienten. Das war nicht mehr die Welt meines Vaters. Plötzlich sahnten Kids ohne Krawatte und Anzug über Nacht mit Arbitrage-Geschäften ab. Es ging zu wie im Casino. Wie Kokain war Geld zur neuen Droge geworden. Der Materialismus schien aber bis zum vergangenen Jahrzehnt abgeklungen zu sein. Es gibt jetzt jeden Monat neue Technologien, und wir sind davon überwältigt. Der Materialismus wird im Film nicht betont. Aber es gibt ihn, man akzeptiert ihn.
Aber an der Wall Street legt man immer noch sehr viel Wert auf Geld. Sonst hätte es im vergangenen Jahr nicht so hohe Bonuszahlungen bei den Banken gegeben.
Die Boni waren abscheulich. Ich war schockiert und eine Menge anderer Leute auch. Unglücklicherweise schien die Sache damit aber auf einen Kampf zwischen Wall Street und dem normalen Amerika reduziert zu werden. Das ist Quatsch. Denn das normale Amerika war – wie Gekko in seiner Rede sagt – genauso verantwortlich dafür, dem Mist Glauben geschenkt zu haben. Wenn du dir etwas nicht leisten kannst, es aber trotzdem kaufst, ist das doch dein verdammtes Problem.
Viele Ihrer Filme handeln von bahnbrechenden Ereignissen in der US-Geschichte, welche die Einstellung der Amerikaner auf Jahre verändert haben. Dazu gehört der Vietnamkrieg oder die Ermordung John F. Kennedys. Werden die Finanzkrise und die Rezession des Jahres 2008 die Haltung der Menschen auch verändern?
Man sollte es doch hoffen. Ich glaube, die Leute werden vorsichtig. Aber Amerikaner lieben Gratisangebote. Das hat mit dem Fernsehen zu tun, das ein grossartiges Instrument für Werbung ist und das man auch kostenlos sehen kann. Schon in den fünfziger Jahren waren es die Leute gewohnt, bei Unterhaltungsshows zum Beispiel eine Reise nach Hawaii geschenkt zu bekommen. Etwas gibt es immer umsonst, einen Toaster oder eine Kreditkarte. Deswegen war die Idee einer Ballon-Hypothek, bei der man nichts zahlen muss und theoretisch das Haus mit Gewinn weiterverkaufen kann, bevor irgendwann hohe Zinsen fällig werden, so verlockend.
Was hat Sie bei der Recherche am meisten überrascht?
Vieles war neu für mich, weil ich den Bezug zur Wall Street verloren hatte. Ich sprach mit jungen Wertpapierhändlern, die seit zwei, drei Jahren an der Wall Street arbeiteten, als die Krise kam. Zum ersten Mal in ihrem Leben sahen sie das Schiff sinken. Sie wollten Rat von ihren Vorgesetzten, aber die wussten auch nicht weiter. Es war wie auf der «Titanic». Diese jungen Leute lernten ihr Geschäft unter Feuer. Vom Börsenmakler Knight Trading in New Jersey lernten wir, dass man gar nicht mehr mit einer anderen Person handelt. Man handelt mittlerweile mit einem Computer.
Wie hat Sie die Finanzkrise bei Ihren persönlichen Anlagen getroffen?
Es hatte Auswirkungen auf jeden. Selbst wenn man Anlagen streute, wurde man getroffen. Zumindest wenn man sich nicht komplett aus dem Markt zurückgezogen hatte.
Und wie investieren Sie?
Ich bin ein komplett passiver, dummer Investor. Ich diversifiziere, aber ich kümmere mich nicht so sehr darum. Ich vertraue meinen Fondsmanagern.
Wirklich? Nach Ihrer Erfahrung an der Wall Street?
Was kann ich machen? Ich weiss im Vergleich zu den Fondsmanagern nichts.
Der Politfilmer
Der amerikanische Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Oliver Stone (64) ist dreimal mit dem Oscar ausgezeichnet worden. Seine Erfahrungen als Freiwilliger im Vietnamkrieg verarbeitete er im Film «Platoon». In der Zeit seiner Erfolge wurde Stone drogensüchtig, lebte ein wildes Partyleben und war am Ende nahezu bankrott. 1987 drehte er den Film «Wall Street», 2010 die Fortsetzung «Wall Street: Money Never Sleeps».