Die Börsen scheinen das tieftrübe Vorjahr abgehakt zu haben. Der Schweizer Leitindex SMI zum Beispiel ist 2022 um 17 Prozent eingebrochen. Seit Jahresbeginn geht es so gut wie überall wieder aufwärts – mit dem SMI um mehr als 5 Prozent, die US-Technologietitel haben gemäss dem Nasdaq-Index sogar um fast 13 Prozent zugelegt – nach einem Einbruch von 34 Prozent im Vorjahr. 

Auf den ersten Blick entspricht die Kursentwicklung dem generellen Stimmungswandel zur Wirtschaftsentwicklung. 2022 sah es so aus, als ob viele führende Wirtschaftsräume in eine tiefe Rezession fallen. In Europa machten sogar beinahe apokalyptische Szenarien einer kommenden Energiekrise die Runde. Seit dem Jahreswechsel ist davon nicht mehr die Rede. 

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Heisst das nun, dass die jüngste Börsenentwicklung nachhaltig ist und es so weitergeht? Auch wenn das niemand mit Sicherheit sagen kann, so spricht doch sehr viel dagegen. Bessere Aussichten sind noch keine guten Aussichten. Nach wie vor zeugen so gut wie alle Wirtschaftsindikatoren – ausser jenen zu den Arbeitsmärkten – von einer deutlichen Wirtschaftsabschwächung weltweit. 

Und noch wichtiger: Die Inflation bleibt überall ungemütlich hoch. Und das bedeutet vor allem, dass für keine der entscheidenden Notenbanken eine baldige Schubumkehr bei den Leitzinsen infrage kommt. An den Märkten kommt diese Botschaft erst langsam an. Noch lässt sich aus Kursdaten die Erwartung herauslesen, dass sowohl die US-Notenbank Fed wie auch die Europäische Zentralbank noch dieses Jahr die Zinsen wieder senken wird, auch wenn diese Erwartung sich jüngst vom Sommer in den Herbst verschoben hat. 

Sinkende Risikoprämien, sinkende Gewinnerwartungen

Die jüngsten Daten vor allem von der US-Konjunktur mit einem glühend heiss laufenden Arbeitsmarkt machen deutlich, dass sich die Notenbanken eine Zinswende so bald nicht leisten können. Die Anleihenmärkte haben immerhin reagiert: Die Renditen vor allem für zweijährige Staatsanleihen (aus denen das Zinsniveau für diese Frist abgeleitet wird) sind deutlich angestiegen.

Die Folge der steigenden Zinsen sind sinkende Risikoprämien auf Aktienanlagen. Die Risikoprämie ist die Differenz der Rendite von (riskanten) Aktienanlagen und (risikolosen) Staatsanleihen. Die Aktienrendite errechnet sich aus den erwarteten Gewinnen im Verhältnis zum Kurs der Aktien – sie entspricht also dem Kehrwert des Kurs-Gewinn-Verhältnisses. 

Gehen die Zinsen nicht wieder zurück, können nur höhere Gewinnerwartungen die Risikoprämie wieder auf ein Mass anheben, das die aktuellen Bewertungen rechtfertigt. Die einzige Alternative dazu sind sinkende Aktienkurse.

Und das ist das wahrscheinlichste Szenario, weil die Gewinne nach allgemeinen Schätzungen rückläufig sind. Bei einer anhaltenden Abschwächung der Wirtschaft oder einer Rezession ist das erst recht zu erwarten. 

Wenig spricht daher dafür, dass die jüngst positive Entwicklung an den Börsen mehr ist als eine sogenannte Bärenrally – ein zwischenzeitliches Aufbäumen in einer Phase sinkender Kurse. Davon geht auch die Mehrheit der professionellen Grossanleger aus, wie die jüngste Umfrage der Bank of America unter Fondsmanagern weltweit gezeigt hat. Sie dürften Recht bekommen. 

Die Kolumne «Freie Sicht»

In der Kolumne «Freie Sicht» schreiben neben Reiner Eichenberger, Professor für Finanz- und Wirtschaftspolitik an der Universität Freiburg, der Ökonom Klaus Wellershoff von Wellershoff & Partners sowie der «Handelszeitung»-Chefredaktor Markus Diem Meier. Die in den Kolumnen vertretenen Ansichten können von jenen der Redaktion abweichen.