Seit zwölf Jahren wird Brasilien von der sozialdemokratischen Arbeiterpartei regiert. Die wirtschaftliche Bilanz von Lula da Silva (2003 bis 2011) und Dilma Rousseff (seit 2011) kann sich sehen lassen – zumindest auf den ersten Blick. Nie zuvor waren weniger Menschen von Armut betroffen als heute und nie zuvor trat das Land international derart selbstbewusst auf wie unter Lula und Dilma. Und dies ist erst der Anfang: Als Ausrichter der Fussball-WM 2014 und der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro steht die sechstgrösste Volkswirtschaft in den nächsten Jahren gleich zweifach im Zentrum des internationalen Interesses.

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Brasilien ist wirtschaftlich zum Global Player geworden. Präsidentin Dilma Rousseff ist trotzdem nicht unumstritten. Nach Jahrzehnten der Misswirtschaft und Korruption haben sich viele Brasilianer von der Politik abgewandt. Im Gespräch mit Einheimischen hört man immer wieder Aussagen wie «die Politiker sind alle gleich» oder «Dilma wird nur wiedergewählt, wenn wir Weltmeister werden».

Anhaltende Proteste

Dass sich Dilma ihrer Wiederwahl nicht sicher sein kann, erscheint vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Kennzahlen beinahe paradox. Die Proteste am Confed Cup 2013, die sich im Kern gegen die Verschleuderung staatlicher Gelder für Sportveranstaltungen richteten, legten unerwartete Bruchlinien offen. An der Eröffnungsfeier wurde die Präsidentin gnadenlos ausgepfiffen und auf den Strassen vor den Stadien kam es zu den grössten Unruhen seit dem Ende der Militärdiktatur in den 1980er-Jahren. Auf einem geringeren Level gehen diese Proteste bis heute weiter.

«Der Mittelstand ist unzufrieden», erklärt der brasilianische Journalist Alexander Thoele, der seit zwölf Jahren in der Schweiz lebt. «Die Lebenskosten in Brasilien sind sehr hoch und anders als die armen Bevölkerungsschichten in den Favelas, kann der Mittelstand nicht von den Sozialprogrammen der Regierung profitieren.»

Der Unmut in Teilen der Bevölkerung hat demnach wirtschaftliche Gründe. Der Wachstumserfolg könnte sich für die Arbeiterpartei sogar als Eigentor erweisen, weil viele Einwohner Brasiliens (zu) wenig vom Wirtschaftswunder profitieren konnten. Denn es ist klar: Mit dem Essen kommt der Appetit. Obwohl die absolute bittere Armut stark zurückgegangen ist, bleiben Einkommen und Vermögen in Brasilien höchst ungleich verteilt. Da zudem seit 2011 nicht mehr das gleiche Wachstum zu verzeichnen ist wie noch in den Lula-Jahren, mehren sich die Stimmen der Unzufriedenen (siehe Grafik unten).

WM für was?

Angesichts des wirtschaftlichen Aufstiegs sind auch die sozialen Fortschritte für viele Brasilianer zu gering. Zu den grössten Problemen gehören die Kriminalität, die schlechten und unterfinanzierten staatlichen Schulen und das ineffiziente Gesundheitswesen. Ein Slogan der WM-Gegner lautet deshalb:«Pra que copa? Sem saúde, sem segurança, sem educação, pra enganar o povo?» («WM für was? Ohne Gesundheit, ohne Sicherheit, ohne Bildung, nur um das Volk zu täuschen?»)

«Brasilien hat nie richtig in die Infrastruktur investiert», bestätigt Alexander Thoele. Die Stagnation seit 2011 könne nicht einfach mit äusseren Einflüssen abgetan werden. «Es lohnt sich nicht mehr, in Brasilien zu produzieren», so Thoele. Die Folge sei eine Gesellschaft, die auf Pump lebe, in Erwartung einer glorreichen Zukunft.

Die brasilianische Wirtschaft sei richtiggehend eingebrochen, schreibt auch die englische «Financial Times». Und die durch die Anti-WM-Proteste geschwächte Präsidentin Dilma könnte durch einen Korruptionsskandal beim Ölkonzern Petrobras und die drohende Energieknappheit weiter an Boden verlieren, vermutet die Londoner Wirtschaftszeitung.

Abwahl unwahrscheinlich

Dass Dilma aber im Herbst tatsächlich abgewählt wird, glaubt Alexander Thoele nicht. Sie werde in den armen Bevölkerungsschichten als legitime Nachfolgerin von Lula empfunden, der wegen seiner Sozialprogramme immer noch extrem populär sei. «Die Leute in den Favelas verbinden alles Gute mit Lula».

Sukurs erhält die ehemalige Guerilla-Kämpferin Dilma aber nicht nur von den Armen, sondern auch von eher unerwarteter Seite. Fernando Honorato, Chefökonom bei der Vermögensverwaltung (BRAM) der brasilianischen Grossbank Bradesco, sieht die Präsidentin zu Recht in der Poleposition für die Wiederwahl. «Es waren zwölf sehr gute Jahre für Brasilien», sagt der Analyst. «Unabhängig von der politischen Position, muss man die grossen Fortschritte anerkennen.»

Die Arbeitslosigkeit sei noch nie so niedrig gewesen wie heute und Millionen Brasilianer hätten seit 2003 den Aufstieg in den Mittelstand geschafft. Natürlich gäbe es noch viel zu tun, doch die Probleme seien nicht der Regierung anzulasten. «Dass die Wirtschaft in den letzten drei Jahren an Schwung eingebüsst hat, liegt vor allem an den veränderten globalen Rahmenbedingungen», sagt Honorato.

Wird die WM zur Nagelprobe?

Dass das Abschneiden von Brasilien an der WM eine grosse Rolle spielen wird, erwartet der Ökonom nicht. So gross sei der Einfluss des Fussballs selbst in Brasilien nicht, sagt Fernando Honorato. «Schliesslich wurde Lula nach der miserablen WM 2006 glänzend wiedergewählt.» Für Fernando Honorato ist klar, dass die Wirtschaft bei den Wahlen im Herbst eine zentrale Rolle spielen wird.

Um Brasilien auf den richtigen Weg (und mehr Wachstum) zurück zu führen, seien aber nur kleine Anpassungen nötig. In erster Linie brauche es Privatisierungen, denn das Wachstum müsse künftig vermehrt über Investitionen statt über den Konsum generiert werden.

Alexander Thoele vermutet dagegen, dass die WM durchaus einen Einfluss auf die Wahlen im Herbst haben könnte. «Die Politiker sagen zwar alle, dass es keinen Zusammenhang gibt, doch sie unterschätzen den psychologischen Faktor.» Die Identifikation mit der Seleção, der Nationalmannschaft, sei viel grösser als beispielsweise in der Schweiz. «Wenn Brasilien Weltmeister wird, würde dies Dilma zweifellos helfen», so Thoele, «die ganzen Probleme wären vergessen, zumindest für eine gewisse Zeit.» Die Fussballbegeisterung habe indes auch eine Kehrseite. «Wenn die Seleção schlecht abschneidet, könnten die teuren Stadien zu Symbolen einer gescheiterten Regierung werden.»

Attraktiver Standort für Investoren

Auch für die Schweiz ist Brasilien inzwischen mehr als ein Fussball-Land. Bei seinem dreitägigen Besuch im April warb Bundesrat Johann Schneider-Ammann für ein Freihandelsabkommen mit dem südamerikanischen Wirtschaftsmotor. Kein Wunder: Rund 300 Schweizer Unternehmen mit über 1000 Betrieben sind in Brasilien etabliert. Diese schaffen 106'000 Arbeitsplätze. Brasilien ist mit Abstand der wichtigste Handelspartner der Schweiz in Lateinamerika.

Mit Direktinvestitionen von 4,3 Milliarden Dollar im Jahr 2012 gehörte die Schweiz zu den wichtigsten Investoren (4. Rang). In den letzten zehn Jahren hat Brasilien sein Ranking bei Auslandinvestitionen stark verbessert und dabei auch traditionelle Investitionsziele wie Frankreich, Grossbritannien, Deutschland und Japan überholt. Das Land erhält inzwischen 4,4 Prozent der weltweiten Auslandinvestitionen.

Brasilien sei weiterhin ein attraktiver Standort für ausländische Investoren, schreibt das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) in seinem Länderbericht. «Die Ergebnisse in Brasilien haben sicherlich stark dazu beigetragen, eine neue internationale Realität zu schaffen.» Im Jahr 2012 flossen erstmals mehr Direktinvestitionen in Entwicklungs- und Schwellenländer als in die Industriestaaten.

Thomas Foerst, der Leiter des Swiss Business Hub in Brasilien, sieht das Land als wichtiger Handelspartner, als Exportmarkt ebenso wie als Ziel von Investitionen. «Dies trotz aller Eintrittshürden und Herausforderungen», so Foerst. Nach seiner Einschätzung würde ein Freihandelsabkommen der Schweizer Exportwirtschaft deshalb grossen Nutzen bringen.

Banken auf Expansionskurs

Ein weiterer Indikator für die neue Rolle Brasiliens in der Welt ist die zunehmende Internationalisierung von brasilianischen Unternehmen. Viele der führenden Firmen des südamerikanischen Landes sind auch in der Schweiz präsent. Das bekannteste Beispiel ist hierzulande die Übernahme der Schweizer Bank Sarasin durch die brasilianische Safra-Gruppe im Jahr 2012.

Und das Seco sieht ein grosses Potenzial zur Ansiedlung weiterer brasilianischer Firmen in der Schweiz. So will beispielsweise die brasilianischen Grossbank Bradesco ihre Fonds künftig auch in der Schweiz registrieren. Und die Banco Itaú, die grösste Bank der gesamten südlichen Hemisphäre, hat bereits seit 2010 eine Niederlassung in Zürich.

Für die Schweiz als Türöffner in Europa sprechen die niedrigen Steuern, die gute Infrastruktur und gut ausgebildete Arbeitskräfte. Dass brasilianische Unternehmen aber überhaupt nach Europa und Asien expandieren, zeigt das zunehmende Gewicht des Landes in der Weltwirtschaft.

Bedenklich und bezeichnend für die Situation Brasiliens ist für Journalist Alexander Thoele der Umstand, dass ausgerechnet der Bankensektor am stärksten internationalisiert wird. «Hier zeigt sich wieder die schlechte Situation der brasilianischen Industrie.» Ohne adäquate Infrastruktur und Bildung bliebe offenbar nur der Verkauf von Finanzprodukten. Dass damit die Probleme im Inland nicht gelöst werden könnten, sei offensichtlich.

Eines ist aber klar: Das Potenzial Brasiliens ist riesig, sowohl im Fussball, als auch in der Wirtschaft. Die Frage ist in beiden Fällen nur, ob das Land in der Lage ist, dieses Potenzial im Jahr 2014 auch auszuschöpfen.