Herr Klement, in den USA hat der S&P 500 seit den Börsentiefstand im zweiten Quartal wieder deutlich zugelegt. Verpasst der Grossteil der Anlegerinnen und Anleger da gerade etwas?
Joachim Klement: Ich glaube nicht. Ich halte die Entwicklung am US-Aktienmarkt nach wie vor für eine Bärenmarkt-Rallye. Der Markt konzentrierte sich zu Beginn des Börsenrückganges vor allem auf die Inflation und die Zinsanhebungen der US-Notenbank. Seit Juni dominieren die Rezessionsängste. Bloomberg prognostiziert aufgrund von Berechnungen von Ökonomen eine Rezessionswahrscheinlichkeit von 50 Prozent für die USA...
Eine klassische «Jein»-Einschätzung…
Es ist die perfekte «Jein»-Einschätzung und somit nicht wirklich hilfreich. Unsere Haltung ist relativ eindeutig: Wir erwarten eine Rezession in den USA mit einer Wahrscheinlichkeit von 95 Prozent. Es gibt naürlich immer überraschende Ereignisse, dass es besser läuft als erwartet. Deshalb vermeiden wir die Aussage von 100 Prozent. Die USA werden entweder im vierten Quartal in die Rezession rutschen oder im ersten Quartal 2023.
Weshalb?
Als Reaktion auf die Zinsanhebungen der Notenbanken. Die Inflation in den USA stammt von der Angebotsseite her, vor allem aus Russland und der Ukraine. Diesbezüglich haben die Notenbanken überreagiert. Denn Angebots-Schocks kann man nicht mit höheren Zinsen bekämpfen. Der höhere Benzinpreis erklärt sich aufgrund von Steuererhöhungen auf Mineralölprodukten.
Ich weiss nicht, ob dann höhere Hypothekenraten und höhere Kapitalzinsen helfen sollten, diese Inflation zu reduzieren. Im Augenblick sehen wir zwar relativ ordentliche ökonomische Daten. Wenn die Zinserhöhungen dann aber zu wirken beginnen, werden die USA in die Rezession rutschen. Die Anleger werden sich vermehrt darauf konzentrieren, wann die Rezession kommt und wie tief sie ausfallen wird. Das wird dazu führen, dass die Aktienmärkte nochmals nach unten gehen werden.
Können Sie das zeitlich etwas genauer prognostizieren?
Die durchschnittliche Erholung in einem Bären-Markt beträgt 5 bis 10 Prozent. Wir stehen jetzt bei 12 Prozent gemessen an den Juni-Tiefständen. Daher könnten die Märkte jeden Moment wieder zurückgehen. Ich sehe wirklich nicht mehr viel Luft nach oben. Der Rutsch nach unten könnte dann gegen den Jahreswechsel auslaufen.
Sie sehen insgesamt keine sanfte Landung der US-Wirtschaft?
Definitiv nicht. Es wäre das erste Mal seit 1913, dem Gründungsjahr der Federal Reserve, dass die US-Notenbank im Nachgang zu einem Energiepreis-Schock mit Zinsanhebungen eine sanfte Landung erreichen würde. Bei einem Energiepreis-Schock und Zinsanhebungen von mehr als 1 Prozent kam es in den USA noch jedes Mal zu einer Rezession. Die Fed war bereits zu weit hinter der Kurve, sie hat dann zu stark die Zinsen angehoben, jetzt muss man halt einfach durch die Rezession. Punkt.
Die Aktienmärkte in Europa haben sich in den letzten Wochen deutlich schlechter entwickelt als in den USA. Warum?
Europa ist viel direkter vom Ukraine-Krieg betroffen. Die europäische Wirtschaft hat zwei Probleme: Eine Energiekrise, die zu einer Abschwächung der Endnachfrage führt, insbesondere in Deutschland. Es besteht das Risiko, dass Wladimir Putin der EU das Gas abdreht. Was dazu führen würde, dass die Produktion in Deutschland und dem Rest von Zentraleuropa noch stärker einbrechen würde. Der zweite Effekt, der in Europa mehr zu tragen kommt als in den USA, ist die Abschwächung von Chinas Wirtschaft. Das führt dazu, dass die europäischen Exporteure einen Nachfragerückgang verzeichnen.
Wie hoch schätzen Sie die Gefahr einer verschärften Versorgungskrise in Europa im Winter?
Das hängt davon ab, in welchem Umfang Russland Gas liefert. Wenn Putin die 10 oder 20 Prozent der Gasmenge, welche derzeit durch die Pipline Nord Stream 1 fliesst, während des Winters weiter liefert, werden Deutschland und die EU über genügend Gas verfügen, um ohne Rationierungen und Sondermassnahmen durchzukommen.
Putin hat aber den Anreiz, das Gas ganz abzudrehen und als politischen Spielball zu benützen, um damit Konzessionen im Ukraine-Krieg und bei Sanktionen zu fordern. Sollte Putin das Gas ganz abdrehen, ist es gemäss unseren Schätzungen sehr unwahrscheinlich, dass Deutschland mit den prognostizierten Gasspeicher-Ständen durch den Winter kommt. Wahrscheinlich wird es dann zu Rationierungen kommen müssen.
In welchen Bereichen?
Das ist die grosse Frage. Es ist eine politische Entscheidung. Will man bei den privaten Haushalten das Gas rationieren oder bei der Industrie? Das erste kostet Wählerstimmen, das zweite kostet Jobs. Unser wahrscheinlichstes Szenario ist, dass Putin den Gashahn langsam zudreht und dass dann Deutschland und andere EU-Länder mit den bestehenden Gasspeichern durch den Winter kommen müssen.
Die Einschränkungen für die Unternehmen hätten auch Auswirkungen auf den Aktienmarkt, muss man annehmen.
Absolut. Wir haben dazu verschiedene Studien analysiert. Das deutsche Bruttoinlandprodukt würde bei einem Gasboykott bei einem derzeitigen Wachstum von 2 Prozent um etwa 3 Prozent fallen, in der EU um etwa 1 bis 1,5 Prozent. Das würde die EU in eine ziemlich heftige Rezession stürzen und die Aktienmärkte nach unten drücken.
Diese Aussichten sind ja einigermassen düster. Sollen Anleger aktienseitig überhaupt etwas machen?
Aktienseitig bieten sich defensive Titel an, die sich in einer Rezession am besten bewähren. Also klassische Lebensmittel-Aktien wie Nestlé, dann aber auch Pharma wie Novartis oder Roche. Traditionell bieten sich auch Versorgungsunternehmen an. Allerdings diskutieren immer mehr Länder eine Übergewinnsteuer für diese Unternehmen, Grossbritannien hat sie schon eingeführt. Versorgungsfirmen könnten also sehr schnell nicht mehr attraktiv sein, weil ihre Gewinne quasi konfisziert werden.
Als Versicherung gegenüber einem Putin-Gasboykott sehe ich vor allem Shell und BP. Die Unternehmen haben die grösste Sensitivität gegenüber steigenden Gaspreisen unter den europäischen Öl- und Gasunternehmen.
Andere Aktien sind zu meiden?
Es hört sich sehr kontraintuitiv an, aber auch Wachstumsaktien muss man beachten. Falls wir in eine Rezession rutschen und die Zentralbanken mit Zinsanhebungen aufhören, sehen wir tendenziell eine Outperformance bei diesem Typ Aktien. Ein erwartetes Gewinnwachstum von mehr als 20 Prozent in den nächsten zwölf Monaten und operativen Gewinnmargen von mehr als 10 Prozent sehen wir etwa beim Bankensoftwarehersteller Temenos oder bei SIG. Aus der Verpackungsindustrie haben wir auch den SIG-Konkurrenten Smurfit Kappa aus Irland auf der Liste, ebenso den italienischen Getränkehersteller Davide Campari.
Wie steht es um andere Anlageklassen mit «Safe-Haven»-Status, etwa Obligationen?
Obligationen werden wieder attraktiv, wenn die Zentralbanken mit Zinsanhebungen aufhören. Natürlich ist das Zinsniveau noch immer sehr tief.
Gold? Wird der Kurs endlich anziehen?
Gold hat seit Beginn der Pandemie enttäuscht. Der Preis hätte mit der Pandemie steigen müssen, ebenso bei der Unsicherheit um den Ukraine-Krieg und auch mit der hohen Inflation. Er tat es aber nicht. Der Goldpreis in Dollar steht nach wie vor auf dem gleichen Niveau wie vor zwei oder drei Jahren. Es spielt sicher auch der Wechselkurseffekt zwischen Franken und Dollar. Ich habe die Hoffnung aber aufgegeben, dass der Goldpreis noch grosse Sprünge macht nächster Zeit, auch in einer kommenden Rezession.
Eine krasse Enttäuschung ist auch der Bitcoin. Er hat sich nicht wie erhofft als abgekoppelte und unabhängige Vermögensklasse etabliert, er hat sich in der Baisse im zweiten Quartal sogar noch schlechter als viele risikobehaftete Tech-Aktien entwickelt. Sie als gelernter Physiker und Mathematiker interessiert dies sicher auch. Ihre Einschätzung?
Bitcoin und andere Kryptowährungen haben sich fast komplett im Raum aufgelöst und taugten nicht als Inflationsschutz oder Portfolio-Diversifikation. Die Cyberwährungen waren im wesentlichen nichts anderes als Tech-Aktien mit Hebel. Es gibt eine neue Studie, die aufzeigt, wieso das so war. Eine grosse Rolle spielten Stablecoins, die an den Dollar gekoppelt sind. Anleger sind aus Bitcoin und Ether tendenziell aus- und bei Tether und Stablecoins eingestiegen. Somit wurden neue Stablecoins geschaffen, was zur Folge hatte, dass die Nachfrage nach US-Dollar-Staatsanleihen und Unternehemnanleihen mit sehr kurzen Laufzeiten anstieg.
Der Effekt ist so gross, dass für 300 Millionen Dollar neu kreierte Stablecoins die Zinsen in den USA um 20 Basispunkte sinken würden. An den Märkten hat man die fallenden Zinsen beobachtet und diese als Rezessionssignal interpretiert, was zur Flucht aus Aktien und auch Kryptowährungen geführt hat. So sind die beiden Anlageklassen über den festverzinslichen Markt miteinander gekoppelt.