Er steht immer noch auf seinem Sockel, schützend über einen armen Knaben gebeugt. Aber die reichen Kids, die auf dem Rasengeviert um sein Denkmal an der Bahnhofstrasse lagern, kennen kaum noch seinen Namen: Johann Heinrich Pestalozzi, 1746 – 1827. Die Schüler kauen Big Macs von McDonald’s oder Snacks von Sam’s Pizza-Land nebenan, dröhnen sich mit Hip-Hop von Musik Hug voll, zählen ihr Geld für das Outfit von H & M. Der Pädagoge auf seinem Sockel, käme er in dieses Konsumparadies zurück, verstünde wohl die Welt nicht mehr.
Weniger fremd würde sich der aus einer Emigratenfamilie stammende Pestalozzi in den Zürcher Schulen fühlen. Auch angesichts der Fremden, die in manchen Klassen die gebürtigen Schweizer zur krassen Minderheit machen, halten sich die Lehrkräfte pflichtschuldig an die Weisheit des grossen Volksbildners, die Schule müsse Kopf, Herz und Hand gleichermassen ansprechen und sämtliche Kinder gleich behandeln. Und vor allem unterrichten sie zumeist noch wie im 19. Jahrhundert: Allein steht der Lehrer vor seiner Klasse und trichtert ihr das Wissen ein – die Welt von gestern, ordentlich in Lektionen aufgeteilt und in Lehrpläne eingefüllt.
Spätestens seit ihnen die Pisa-Studie ein schlechtes Zeugnis ausstellte, wissen die Schweizer, dass ihre Schulen für die Zukunft nicht genügen. Unter den 32 europäischen Ländern, die sich am Vergleich beteiligten, lagen die einheimischen Schülerinnen und Schüler zwar im Rechnen auf dem 7., im Lesen aber auf dem 17. und in den Naturwissenschaften gar auf dem 18. Platz. Und bei den drei Kantonen, in denen die Tests stattfanden, fiel Zürich in allen Fächern hinter St. Gallen und Bern zurück.
Dabei leisten sich die Zürcher – und mit ihnen die Schweizer, für die sie materiell die Massstäbe setzen – das teuerste Bildungssystem der Welt: Ein Volksschullehrer verdient in Zürich mit 73900 Franken netto mehr als doppelt so viel wie sein Kollege in Helsinki; die finnischen Schüler schnitten allerdings in der Pisa-Studie klar am besten ab. Dass in der Schweiz für den höchsten finanziellen Aufwand höchst mittelmässige intellektuelle Leistungen herausschauen, lässt sich zwar mit dem grossen Anteil ausländischer Schüler in der Volksschule begründen. Der Global Competitiveness Report des World Economic Forum (WEF) zeigt aber auf, dass das Heimatland von BBC, Sulzer oder Hoffmann-La Roche auch bei der höheren Bildung abrutscht: Beim Anteil an Naturwissenschaftlern und Ingenieuren liegt es noch auf Platz 13. Die Bildung sei der einzige Rohstoff des Binnenlandes, betonen die Politiker in Sonntagsreden: Verzehrt es nur noch die Zinsen seines wichtigsten Kapitals?
Das fragte sich auch der seit kurzem nicht mehr amtierende Zürcher Regierungsrat Ernst Buschor, als er vor acht Jahren als Erziehungsdirektor antrat. «Unsere nicht professionell kontrollierte ‹Lektionenschule› der als Einzelkämpfer agierenden Lehrkräfte ist nicht in der Lage, die neuen vielfältigen Ansprüche unserer Gesellschaft wirksam zu erfüllen», stellte er fest. Und: «Das Ausmass der Globalisierung wird nicht in Zürich entschieden.» Als Professor suchte er darauf methodisch für jedes der Probleme eine Lösung – zumindest nach einer ungestümen Einarbeitungszeit: Anfangs scheiterte er mit seinem ambitiösen «Schulprojekt 21», mit Englisch und Computereinsatz ab der ersten Primarschulklasse, dessen Vorbild ihn in Kalifornien begeistert hatte. Dass der Erziehungsdirektor auch von Schweizer Kindern unbändigen Leistungswillen und Wissenshunger wie in Amerika erwarte, meinte ein scharfer Kritiker, Kantonsrat und Reallehrer Hanspeter Amstutz, lasse ihn nur den Kopf schütteln.
Danach aber trimmte Ernst Buschor das Zürcher Bildungswesen für die Zukunft fit. Er setzte das Frühenglisch durch, ab 2005 werden alle Ostschweizer Kantone in der dritten Klasse damit beginnen. Er kämpfte dafür, die angeblich nicht von Aussenstehenden beurteilbare Leistung der Lehrkräfte objektiv zu werten. Und er führte geleitete Schulen ein, die ihren Auftrag selbstverantwortlich erfüllen – das Erfolgsrezept der Finnen. 180 Schulen arbeiten gegenwärtig im Kanton mit diesem Modell; kaum eine trauert vergangenen Zeiten nach. Als Ernst Buschor allerdings diese wie andere Reformen Ende 2002 im Volksschulgesetz mit zwölf Teilprojekten absichern wollte, erlitt er seine einzige Niederlage: Mit einer Nein-Mehrheit von 52 Prozent schickte das Zürcher Volk den abtretenden Erziehungsdirektor enttäuscht in die politische Pensionierung. Bekommen die Schulen des Kantons Zürich wieder, was sich viele Lehrkräfte sehnlich wünschen – Ruhe und Zeit?
In der Universität zumindest bleibt, was Ernst Buschor durchgesetzt hat: «Vom ersten Moment an wussten wir, dass ein Kulturwandel begonnen hatte», sagt Rektor Hans Weder. Der Erziehungsdirektor setzte auch an der Hochschule auf Selbstorganisation; die unter seinem Vorgänger Alfred Gilgen allmächtige Verwaltung verstand er noch als Gehirn eines gigantischen Forschungslabors. Diese Bewegung brauchte die Universität dringend, denn sie leidet mit ihren 22400 Studierenden bei 343 Professuren am Massenbetrieb. Die geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen mit ihren überfüllten Seminarien lieferten denn auch in den letzten Jahren kaum herausragende Leistungen: Die beiden international bekannten Bestsellerautoren, Germanist Peter von Matt und Familientherapeut Jürg Willi, geniessen die Emeritierung; nur wenige können sich, mit massgeschneiderten Angeboten für den Markt der Aufmerksamkeit, so in Szene setzen wie die Anglistin Elisabeth Bronfen oder der Soziologe und Skandalforscher Kurt Imhof. Die überlaufene Philosophische Fakultät bildet denn auch vor allem den Nachwuchs für Mittelschulen, Medien und Kommunikation sowie für eine eher fragwürdige Spezialität Zürichs, die weltrekordverdächtige Dichte von 2700 Psychopraxen.
Zur wahren Weltspitze zählt die Universität Zürich nur, wo sie mit der benachbarten ETH und der Wirtschaft zusammenarbeitet. So im Swiss Banking Institute, das mit den Grossbanken und der Swiss Re zusammen das RiskLab betreibt und wo Professorin Rajna Gibson den Think Tank for Finance aufbaut. Und so vor allem in der Medizin, die sich nicht nur im Zentrum für Neurowissenschaften dicht mit der ETH vernetzt – «eine unschlagbare Kombination», wie eine internationale Expertengruppe letztes Jahr lobte. Aus dieser Fakultät kam denn auch 1996 mit Rolf Zinkernagel der erste Nobelpreisträger der Universität Zürich seit einem halben Jahrhundert.
Denn die ETH versteht sich, zusammen mit MIT und Caltech, den berühmten Schulen von Massachusetts und Kalifornien, als eine der drei besten technischen Hochschulen der Welt. Und sie kämpft um diese Stellung mit allen Mitteln, vor allem finanziellen. Für 120 Millionen Franken, auch von Sponsoren aus der Wirtschaft, will sie auf dem Hönggerberg die Science City bauen: Bis 2007 sollen dort 10000 Studierende auf dem Campusgelände rund um die Uhr leben und arbeiten, also im E-Learning-Zentrum lernen und im E-Science-Labor mit Forschern in allen Zeitzonen zusammenspannen. Und noch mehr Wissenschaftler sollen ihre Arbeit in der Wirtschaft auswerten: In den letzten zehn Jahren wuchsen 120 Firmen aus der ETH heraus und brachten Zürich auf verschiedenen Gebieten eine Spitzenstellung ein.
In der Wissenschaft kommt es aber nicht auf das Geld, sondern mindestens so sehr auch auf den Geist an: Bringen denn die Mehrausgaben, die die Hochschulen vom Staat fordern, tatsächlich mehr Erkenntnisse hervor? «High Science ist ohne aufwändige Experimentiereinrichtungen nicht denkbar», sagt ETH-Präsident Olaf Kübler. «Es ist uns erst kürzlich gelungen, einen der weltweit vielversprechendsten jungen Chemiker vom MIT nach Zürich zu holen. Den Ausschlag für seinen Wechsel gaben das inspirierende intellektuelle Umfeld an der ETH, die erstklassige Infrastruktur sowie die personellen Ressourcen – und eine Kontinuität bei den Mitteln.»
Dank diesen Standortvorteilen vermag Zürich die hellsten Köpfe aus aller Welt anzuziehen, auch an jene Orte, wo privat Wissen produziert wird. Im Forschungslabor der IBM in Rüschlikon etwa, das in den Achtzigerjahren gleich zweimal hintereinander Nobelpreise errang und Innovationen wie Local Area Network oder Smart Cards hervorbrachte. Im Center for Global Dialogue der Swiss Re, ebenfalls in Rüschlikon. Oder auch in der Graduate School of Business Administration in Horgen: Die Kaderschmiede zählt gemäss «Financial Times» zu den zehn besten Managementschulen der Welt.
So mögen Ausländer zwar bei internationalen Vergleichen den Durchschnitt drücken. Aber sie sorgen auch dafür, dass die Schweizer Jugend selbst bei schwachen schulischen Leistungen – zumindest vorläufig – weiter im Wohlstand lebt.
Markus Schär
ständiger Mitarbeiter der BILANZ und freier Journalist in Weinfelden TG, hat 2002 das Sachbuch «O Thurgau – Ein Kantonsführer für Fortgeschrittene» herausgegeben.
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