Der Efficiency Club an der Fortunagasse im Herzen Zürichs. Gerade hat Yanis Varoufakis vor ausgewählten Gästen gesprochen, der grosse Auftritt ist für den Abend im «Dolder» geplant. Mit einem Glas Weisswein kommt er ins Hinterzimmer. Entschiedener Blick, leichtes Lächeln. Er tourt über den Kontinent, mal in politischer Mission, mal als gefragter Redner mit fünfstelliger Gage. Die Coolness verliert er nur, wenn es um den Niedergang der Linken geht. Er will nichts weniger als sie retten.

Wer ist der beste Politiker in Europa?
Yanis Varoufakis*: Wir haben einen grossen Mangel an guten Führern in Europa. Aber wenn Sie mir die Pistole an den Kopf halten, dann sage ich: Emmanuel Macron. Erstens: Er ist ein Freund. Und zweitens: Er versteht die wahren Herausforderungen, vor denen Europa steht. Doch leider glaube ich nicht, dass er sie lösen kann.

Welches sind die wahren Herausforderungen?
Macron versteht, dass der Fokus auf die Wettbewerbsfähigkeit das Problem ist. Wettbewerbsfähigkeit ist ein Nullsummenspiel. Meine Wettbewerbsfähigkeit wird gemessen an deiner - wenn meine steigt, sinkt deine. Das funktioniert nicht. Die grosse Herausforderung ist die Produktivität. Sie ist kein Nullsummenspiel. Du kannst produktiver werden - und ich auch. Aber darauf wurde nicht genug Gewicht gelegt. Das versteht Macron. Das ist die erste Erkenntnis.

Und die zweite?
Um die Produktivität zu erhöhen, brauchen wir Investitionen. Das grosse Problem in Europa ist, dass wir das tiefste Niveau von Investitionen in Prozent des Bruttoinlandprodukts haben seit 1950. Selbst im erfolgreichen Deutschland haben wir eine rekordhohe Sparquote. Das ist absurd. Emmanuel versteht das.

Er will den Arbeitsmarkt reformieren und die Steuern senken. Das ist doch genau das, was Frankreich und andere südeuropäische Länder jetzt brauchen.
Nein, es ist ein grosser Fehler.

Warum?
Wenn das Hauptproblem die Investitionen sind, Macron aber mit den Arbeitsmarktreformen beginnt, werden nur feste Arbeitsplätze durch temporäre ersetzt. Ohne Investitionen entstehen keine guten Jobs. Es käme zu einer «Uberisierung» des Arbeitsmarktes.

Wo sollen denn die Investitionen herkommen? Frankreich ist stark verschuldet und verstösst gegen die Maastricht-Kriterien von drei Prozent.
Es stimmt, die französische Regierung kann aufgrund des Defizits nicht mehr ausgeben. Aber es gäbe eine andere Lösung.

Welche?
Wir sollten die Regierungschefs an einen Tisch bekommen, um der Europäischen Investitionsbank (EIB) grünes Licht für einen Green New Deal zu geben, ein grosses Investmentprogramm für den Klimaschutz. Die EIB könnte massiv Anleihen ausgeben, wir bräuchten keine Steuererhöhungen, und die privaten Investoren würden das lieben. Wenn die Europäische Zentralbank diese Bonds auch noch kaufen würde, wären sie noch attraktiver - sie gingen weg wie warme Semmeln. Wenn wir das machten, könnten wir gleichzeitig Reformen haben und gute Jobs schaffen.

Klingt nicht sehr realistisch.
Wir wollen diesen New Deal mit unserer europaweiten Bewegung Democracy in Europe Movement 2025 (Di-EM 25) herbeiführen. Es kann nur über eine populäre Bewegung gelingen. Das Parteienestablishment ist dazu nicht fähig, es ist zu sehr verstrickt in enge Beziehungen und Machtspielchen.

Sie setzen auf den Druck der Strasse?
Nein, nicht auf Druck von der Strasse, aber auf öffentlichen Diskurs und die veröffentlichte Meinung. Nur dadurch bewegen sich Politiker und Bürokraten.

Aber unabhängig von Ihrer Bewegung: Ihre Analyse stimmt doch nicht. Es gibt viele Beispiele von Ländern mit flexiblem Arbeitsmarkt, guten Jobs und tiefer Arbeitslosenquote - zum Beispiel die Schweiz.
Die Schweiz ist nur erfolgreich, weil sie einzigartig ist. Wenn alle täten, was die Schweiz macht, wäre sie nicht erfolgreich.

Klingt sehr simpel. Auch in Deutschland waren die Arbeitsmarktreformen erfolgreich - sie gelten als Vorbild für Macron.
Ja, die Arbeitsmarktreformen dort wirkten. Aber der damalige Kanzler Gerhard Schröder führte sie mit steigenden Investitionen ein, die grosse Nachfrage kam damals aus den USA. Und Deutschland griff zu Reformen, als die anderen Länder in Europa nichts machten. Das Land erhöhte seine Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten von Frankreich und Italien. Wenn Deutschland heute Hartz IV einführen würde, würden die Reformen nicht wirken, weil die Investitionen zu tief sind.

Haben Sie mit Macron nach seiner Wahl geredet?
Nein. Aber vor der Wahl, als ich einen Artikel für «Le Monde» über ihn schrieb und dazu mit ihm sprach. Ich halte ihn für einen persönlichen Freund. Ich lernte ihn 2015 kennen. Er war der einzige Minister, den ich traf, der ernsthaft versuchte, mich in der Euro-Gruppe der Finanzminister zu unterstützen. Leider war er nicht Finanz-, sondern Wirtschaftsminister und konnte mir deshalb in den Verhandlungen nicht helfen. Aber in dem «Le Monde»-Artikel schrieb ich auch: Emmanuel, ich unterstütze dich mit aller Energie, um Marine Le Pen zu schlagen. Aber mit der gleichen Energie werde ich dich am nächsten Tag bekämpfen.

Die Linke ist in katastrophalem Zustand. Sie ist in der westlichen Welt fast nirgends mehr am Regieren, ihre einstige Kernklientel wählt wie in Frankreich oder den USA die Populisten.
Ja, es ist ein totales Desaster für die Linke.

Warum?
Aus zwei Gründen. Der Hauptgrund war die Sowjetunion. Im Namen der Linken verübten Stalin und sein System Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Da greifen Sie aber tief in die Mottenkiste. Der aktuelle Einbruch lässt sich doch nicht damit erklären.
Warten Sie. Das Herz der Linken war immer der Kommunismus. Das Lager der Sozialdemokratie hat sich zwar von den Kommunisten entfernt, aber es hatte immer das kommunistische Ideal als Anker. Die Idee war stets: Profit ist nicht alles, man kümmert sich umeinander - Kooperation gegen Kompetition. Das gehörte zu Willy Brandt, später zu Gerhard Schröder und Tony Blair. Ohne das definierte die Linke nichts. Doch nachdem die Kommunisten Teil eines bösen Reichs geworden waren, musste sich die Linke immer entschuldigen - wie die Christen für die Inquisition und die Kreuzzüge. Davon hat sie sich nie erholt.

Das ist immer noch ziemlich weit weg.
Die zweite Etappe war dann: Die Sozialdemokraten liessen sich vom Finanzsystem vereinnahmen. Das war Tony Blairs Deal mit der Londoner City: Wir deregulieren, und ihr gebt uns einen Teil der Profite, um das Gesundheitssystem zu finanzieren. Auch die Sozialisten in Griechenland, Spanien, Frankreich und Portugal wurden in dieses Spiel mit dem Finanzsystem hineingezogen. Man wurde zu dessen Komplizen. Und als 2008 die Finanzkrise das System niederbrannte, hatte die Linke keine moralische Autorität mehr. Davon hat sie sich bisher nicht erholt.

Was wäre die Alternative gewesen?
Unter dem deutschen Kanzler Willy Brandt war die Sozialdemokratie erfolgreich, weil sie als erfolgreiche Vermittlerin zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Industrie und Gewerkschaften auftrat. Diese Rolle des Schiedsrichters ist die richtige.

Darauf setzen jetzt die neuen Linken, auch wenn es eher ältere Männer sind: Jeremy Corbyn in England, Jean-Luc Mélenchon in Frankreich, Bernie Sanders in den USA, auch Martin Schulz in Deutschland.
Ja, aber wenn die Pferde weg sind, nützt es nichts mehr, wenn der Stallwart die Türen schliesst.

Corbyn war bei den jüngsten Wahlen überraschend erfolgreich. Gibt es jetzt einen soften Brexit?
Ich war in Grossbritannien vor der Brexit-Abstimmung unterwegs und habe hart dagegen gekämpft, obwohl mich sicher niemand einen Lakaien von Brüssel nennen kann. Es gibt viele schlimme Sachen in der EU, aber das ist kein Grund zum Gehen, sondern zum Bleiben und Bessermachen.

Sie waren auch nie für einen Austritt Griechenlands.
Nein, das bin ich bis heute nicht. Ich glaube daran, die EU herauszufordern und sie mit ihren Problemen zu konfrontieren. Ich will sie nicht zerstören.

Was kann die brutal geschwächte Theresa May jetzt tun?
Es wird hässlich werden. In weniger als zwei Jahren eine Scheidung und ein neues Handelsabkommen auszuhandeln, ist unmöglich. Zudem: Der schlimmste Albtraum von Brüssel ist ein Abkommen, das beiden nützt. Brüssel will die Briten bestrafen.

Was bleibt dann?
Grossbritannien sollte eine EFTA-Mitgliedschaft beantragen, wie Norwegen. Das würde den Status quo für sechs, sieben Jahre konservieren. Und dann sollte das Land auf einen minimalistischen Brexit setzen.

Das Europa-Lager hat mit Macron Aufwind.
Seine Wahl verhinderte die sofortige Zerstörung des Euro. Wenn Le Pen gewonnen hätte, wäre es zu einer noch nie da gewesenen Kapitalflucht gekommen. Die Europäische Zentralbank hätte Kapitalmarktkontrollen einführen müssen, und das wäre das Ende der Währungsunion gewesen. Macron hat dem Euro mehr Zeit gegeben. Aber die Krise ist noch nicht vorbei.

Die Märkte haben auf Optimismus umgeschaltet.
Das ist eine Dummheit. Ich kann die Erleichterung verstehen, ich war auch erleichtert. Aber wer da eine nachhaltige Stabilisierung hineinliest, macht einen Fehler.

Warum?
Zum Beispiel wegen Italien. Es kann nicht in der Eurozone bleiben.

Es wird immer durchgefüttert werden.
Nur eine Partei unterstützt wirklich die Eurozone, jene des Ex-Premiers Matteo Renzi, und sie teilt sich gerade. Es gab eine massive Kapitalflucht in den letzten 18 Monaten, 300 Milliarden Euro sind nach Luxemburg und Frankfurt abgeflossen.

Die hatte Griechenland auch.
Italiens Wirtschaft ist sieben Mal so gross, das lässt sich nicht vergleichen. Aber es stimmt: Europa ist reich genug, um dieses Spiel sehr lange zu verlängern. Es ist unmöglich zu sagen, wann die EU zusammenbricht, ob in zwei oder dreissig Jahren. Alles, was ich sagen kann, ist: Wenn wir so weitermachen, ist das nicht nachhaltig.

Bisher stützt der Italiener Mario Draghi mit seinen gigantischen Anleihenkäufen sein Heimatland. Sein Mandat läuft in zwei Jahren aus, Deutschland portiert bereits den Bundesbank-Chef Jens Weidmann als möglichen Nachfolger. Wird er kommen?
Das würde mich sehr überraschen. Wenn das deutsche Austeritätsdenken die Oberhand gewänne und mit Weidmann ein Jünger davon oberster europäischer Währungshüter würde, würden mehrere Länder aus der Eurozone ausscheiden.

Aber die Deutschen profitieren doch vom schwachen Euro.
Ja, aber sagen Sie das mal der Bundesbank. Sie hat die Eurozone in der heutigen Form nie akzeptiert. Ihre Idee war immer eine Union der Überschussländer. Vielleicht noch mit Frankreich, aber sicher nicht mit Portugal, Griechenland oder Italien.

Emmanuel Macron steuert in die gegensätzliche Richtung - mit einer Form von Eurobonds will er ein engeres Europa mit einer Vergemeinschaftung der Schulden.
Ich habe Sympathie für die deutsche Abneigung gegen Eurobonds. Eine gemeinschaftliche Schuldenlast braucht eine gemeinschaftliche Entscheidungsfindung. Dazu braucht es ein handlungsfähiges Parlament, nicht ein Feigenblatt wie das Europäische Parlament. In Aachen, Stuttgart oder München würde nur die rechte AfD profitieren, wenn die Eurobonds kämen. Deshalb brauchen wir erst eine Stabilisierung, wir brauchen neuen Optimismus. Und das können wir über den New Deal schaffen, den ich vorschlage. Wir sollten Anleihen schaffen in Höhe von 35 Prozent des Bruttoinlandprodukts der Eurozone. Das wäre gigantisch.

Kehren Sie in die griechische Regierung zurück?
Ich denke jetzt paneuropäisch, aber wir sind mit Di-EM 25 auch in Griechenland aktiv. Wir wollen bis Ende Sommer entscheiden, ob wir hier als Partei antreten. Wir haben die gleiche Diskussion in vielen europäischen Ländern.

Auch in der Schweiz?
Ja, wir haben 200 registrierte Mitglieder in Zürich und 300 in Genf.

Und halten Sie noch Vorlesungen?
Ich besetze einen der weltweit ältesten Lehrstühle für Ökonomie, er stammt aus dem Jahr 1838. Wenn ich ihn aufgäbe, könnte die Regierung ihn wegen des Sparprogramms nicht neu besetzen. Deshalb halte ich noch von Zeit zu Zeit eine Vorlesung. Aber Geld bekomme ich dafür nicht.

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*Motorrad, Lederjacke, Hemd über der Hose: In seinen nur sieben Monaten als griechischer Finanzminister 2015 schaffte es Yanis Varoufakis, sich europaweit ein Rebellenimage aufzubauen. Der Wirtschaftsprofessor von der linken Syriza-Partei widersetzte sich dem Sparkurs der Nordländer, trat dann aber im Streit mit seinen Finanzminister-Kollegen zurück. 2016 gründete er die paneuropäische Bewegung Di-EM 25 (Democracy in Europe Movement 2025). Seine Haltung beschrieb ein Analyst als «John Maynard Keynes mit einem Hauch Karl Marx». Der 56-Jährige lebt in Athen.