Kurz vor Mitternacht beginnt der Kampf gegen die Uhr. Auf dem Rollfeld reihen sich Flugzeuge ein und spucken zerbeulte Aluminiumcontainer und bunte Kunststoffsäcke aus. Sie bergen ein wertvolles Gut: Fracht und Korrespondenz der globalen, zeitoptimierten Wirtschaft. Eben noch haben die Arbeiter im fahlen Licht der Kantine Kaffee geschlürft und dabei so blass ausgeschaut, als könnten sie keinen Blumentopf heben. Nun wuchten sie Pakete auf Rampen und Rollbänder, sortieren mit Scannern Ladungen nach Region und Land, zirkeln Gabelstapler durch unendliche Kistenkolonnen. Das emsige Treiben hat System, doch es ist inmitten der kilometerlangen Förderbänder, die sich auf mehreren Ebenen verzweigen und verästeln, kaum zu erfassen.
Im Sammel- und Umschlagplatz des DHL Worldwide Express in Brüssel, dem laut Eigenwerbung grössten Sortierzentrum der Welt ausserhalb der USA, wuseln zwischen Geisterstunde und vier Uhr morgens 1100 Personen umher und fertigen 170 000 Sendungen im Gesamtgewicht von 800 Tonnen ab. Im Morgengrauen ist der Spuk vorbei: Die DHL-Flugzeuge schwärmen mit neuer Ladung in alle Welt aus, nach Bahrain, New York oder Nairobi, von wo aus die Sendungen nach 675 000 Zielorten in 227 Ländern fein verteilt werden. Für 0,2 Prozent der Lieferungen nützt die ausgeklügelte, computergestützte Organisation mit optischer Schrifterkennung freilich nichts - so viel wird rechnerisch fehlgeleitet.
DHL spediert alles, was in internationalen Geschäftsbeziehungen anfallen kann: Neben Dokumenten, Verträgen, Warenmustern oder Ersatzteilen auch Kängurus, Champagner, Oldtimer oder Blutkonserven. Das Motto «Zeit ist Geld» gilt für alle Güter. In den USA fliessen zehn Cents von jedem ausgegebenen Dollar in den Versand oder in die Lagerung von Waren. Weil dieser Anteil in Europa tiefer liegt, beschwören die Branchenexperten das Potenzial des europäischen Marktes. Die DHL-Verantwortlichen sprechen von einem «exponentiellen Wachstum der Transitversände in Europa». Die Gründe der Euphorie sind zahlreich: Der E-Commerce steckt diesseits des Atlantiks erst in den Anfängen, Unternehmen forcieren den Direktverkauf und produzieren verstärkt auf Nachfrage anstatt auf Halde, Zollschranken fallen. Da wird die Logistik zum Wettbewerbsfaktor.
Punkto Transparenz und Transaktionen steht der Logistikbranche eine ähnlich rasante Entwicklung wie den Finanzmärkten bevor. Waren können in Echtzeit übers Internet verfolgt werden - egal, in welchem Stadium der Produktion oder Distribution sie sich befinden. Gemäss einer Studie des Flugzeugherstellers Boeing wächst der internationale Expresskuriermarkt um jährlich 18 Prozent. Im Jahr 2015 soll er 37 Prozent des internationalen Luftfrachtaufkommens erreichen, 1995 waren es noch fünf Prozent. Konkurrenziert vom E-Mail-Verkehr, nimmt der Versand von Dokumenten ab, der Rückgang wird durch eine neue Paketschwemme jedoch mehr als wettgemacht.
Auch der Schweizer Kuriermarkt wächst zweistellig. Ohne grosses Zutun - als Werbung reichte in der Regel eine Broschüre mit Preisliste - stieg der Umsatz von DHL regelmässig um jährlich 15 bis 20 Prozent auf 123 Millionen Franken im Jahr 1997. Dann wurde es für den lange Zeit unangefochtenen Marktführer ungemütlich. Neben der Asienkrise drückte die forsch auftretende Konkurrenz. Ehedem zurückhaltende Anbieter wie die amerikanischen UPS und Fedex traten aggressiver auf, die holländische TNT schnappte DHL mit tiefen Preisen Kunden weg, darunter auch die Credit Suisse Group. Heute ist DHL zwar noch immer Marktführer, aber die Mitbewerber holen auf.
Das Gerangel um die Vorherrschaft läuft auf der ganzen Welt und zeichnet sich dadurch aus, dass jeder Anbieter von sich behauptet, der Grösste zu sein. Der eine nimmt dafür die geografische Abdeckung als Massstab (DHL), der andere den Umsatz (UPS), der dritte die Flotte (Fedex). Bitter für die Amerikaner: Im internationalen Verkehr spielen für einmal nicht sie die tragende Rolle, sondern die Europäer. Während Fedex und UPS den nordamerikanischen Markt unangefochten anführen, dominieren in den Wachstumsmärkten Europa und Asien DHL und TNT. Mit hohen Investitionen in Infrastruktur und Informationstechnologie versuchen die Strategen, Lücken im Netz zu schliessen. Fedex etwa hat den Betrieb in Europa 1992 eingestellt, baut ihn nun aber mit grossem Aufwand wieder auf.
Mit dem Preiskrieg haben sich die grossen vier Expresskurierdienste in die ungemütliche Lage steigender Volumen und sinkender Margen manövriert. Auf der Suche nach neuen Ertragsquellen schlagen sie zwei Richtungen ein. Erstens verbünden sie sich mit Logistikmultis und Postbetrieben. Denn Postunternehmen von Österreich über Frankreich bis England beginnen sich als Full-Service-Betriebe zu positionieren, die von der Postkarte bis zum Autopneu alles befördern. «Die Trennung zwischen Post, Fracht und Spedition verschwindet zusehends», sagt TNT-Sprecher Marc Hasler. Mit einer Beteiligung von 25 Prozent an DHL hat sich die Deutsche Post in eine gute Stellung gebracht; DHL wickelt für die Deutsche Post schon heute den Expressbriefversand ab. Als eine der wenigen lässt die Schweizer Post eine Auslandstrategie auch nicht in Umrissen erkennen. Sie spannt zwar mit TNT und Fedex im Postkurierservice EMS zusammen, doch in der sich neu formierenden Branche wird dieser Dienst bereits totgesagt.
Zweitens nehmen sich die Kurierdienste nach der Korrespondenz auch der gesamten Logistik ihrer Kunden an. «Je mehr wir in die Geschäftsprozesse unserer Kunden involviert sind, desto weniger können wir sie verlieren», sagt DHL-Schweiz-Chef Chris Muntwyler. DHL-Mitarbeiter übernehmen im Auftrag der Kunden, mit denen sie online verbunden sind, Lagerhaltung, Montage, Reparaturen, Produktkontrollen, Rechnungsstellung oder Expressversand der Produkte. Für den Autohersteller Saab etwa besorgt DHL den weltweiten Lieferdienst für Ersatzschlüssel. Für Unternehmen wie ABB, Ericsson, Hewlett-Packard, Silicon Graphics oder Roche Diagnostics wickelt DHL die ganze Logistik ab. DHL-Chef Robert Kuijpers verspricht die Auslieferung von Ersatzteilen innerhalb von vier Stunden in den wichtigsten Städten Europas.
DHL spediert alles, was in internationalen Geschäftsbeziehungen anfällt - fast alles. Drogen, Sprengstoff oder Geld stehen auf dem Index. Arbeit gibt es auch sonst genug: Bis zum Jahr 2005, schätzen die DHL-Verantwortlichen, dürfte allein das im Brüsseler Speditionszentrum Nacht für Nacht umgeschlagene Gewicht von derzeit 800 auf 2000 Tonnen steigen.