Für viele Anleger sind strukturierte Produkte heute nur noch «Giftmüll». Unter diesem Begriff kamen die Papiere in die Schlagzeilen – als einer der Auslöser für die Finanzkrise. Und dass beim Kollaps der amerikanischen Investmenbank Lehman Brothers viele Besitzer von strukturierten Produkten ihren Einsatz verloren, festigte die negative Meinung unter den Privatanlegern. Also Hände weg vom toxischen Müll!
Die Banken sehen das natürlich anders: Strukturierte Produkte böten den Zugang zu Anlageklassen und -themen, die sonst Privatanlegern nicht zugänglich wären, etwa Rohstoffe wie Mais, Zucker oder Orangensaft. Zudem ermöglichten sie eine Risikosteuerung: Wer mehr Risiken eingehen möchte, kauft beispielsweise Hebelprodukte – wer weniger riskant anlegen will, investiert in Kapitalschutzprodukte. Zudem lasse sich mittels strukturierter Produkte in jedem Marktumfeld Geld verdienen: bei fallenden Kursen, bei steigenden sowieso und sogar bei seitwärts tendierendem Markt. Den Spielarten seien fast keine Grenzen gesetzt, argumentieren die Banken. Und die Schweizer Börse beschreibt strukturierte Produkte folgendermassen: «Innovative Anlageprodukte versetzen Sie als Investor in die Lage, von nahezu jeder beliebigen Kursentwicklung eines bestimmten Basiswertes zu profitieren.»
Also was jetzt: «Giftmüll» oder «innovative Anlageprodukte»? – So viel vorweg: Die strukturierten Produkte, die Anleger an der Börse oder direkt von einer Bank kaufen können, haben wenig bis nichts mit den Milliardenverlusten der UBS und anderer Banken zu tun. Das waren strukturierte Finanzpapiere anderer Art.
Der Untergang von Lehman Brothers bedeutete aber einen harten Einschnitt für die Branche. Lehman hatte 83 strukturierte Produkte an der Schweizer Börse kotiert. Obschon 46 davon sogenannte Kapitalschutzprodukte waren, ist das Kapital zum Grossteil weg. 650 Millionen Franken betrug das Emissionsvolumen der börsenkotierten Lehman-Produkte. Allerdings hat Lehman Brothers wahrscheinlich zusätzlich eine unbekannte Anzahl Produkte bei Kunden ausstehend, die nicht an der Börse kotiert waren, sondern over the counter (OTC) gehandelt wurden. Gemäss den Erfahrungen des Schweizerischen Verbandes für Strukturierte Produkte (SVSP) ist das Volumen der OTC-Produkte rund fünfmal so hoch wie das der börsenkotierten. Der Schaden, den der Lehman-Konkurs hierzulande im Bereich der strukturierten Produkte angerichtet hat, ist also enorm. Den Anlegern wurde erstmals richtig bewusst, dass strukturierte Produkte Schuldverschreibungen einer Bank sind. Geht die Bank in Konkurs, ist das Geld weg.
Aus dieser schmerzlichen Erfahrung haben die Anleger ihre Lehren gezogen: «Die Emittentensicherheit spielt heute eine viel grössere Rolle bei der Kaufentscheidung», sagt Eric Wasescha, Geschäftsführer des SVSP. Wer heute strukturierte Produkte kauft, tut dies eher bei einer inländischen Bank mit hoher Bonität, also mit tiefer Konkurswahrscheinlichkeit. Das zeigt sich in den Marktanteilsveränderungen. Besonders die Zürcher Kantonalbank (ZKB) und die Bank Vontobel konnten ihre Marktanteile deutlich erhöhen. «Auch die Basler Kantonalbank und die Rabobank erleben dank höchster Bonität, einem AAA-Rating, eine stärkere Nachfrage», sagt Christian König, Dozent am Swiss Derivative Institute und Leiter Produktmanagement bei Derivative Partners.
Zu den Verlierern zählen vor allem ausländische Institute, insbesondere die Deutsche Bank, die sich teilweise aus der Schweiz zurückgezogen hat (siehe Grafik auf Seite 83). Georg von Wattenwyl, Derivateexperte bei der Bank Vontobel, weist darauf hin, dass der Marktanteilsverlust der Deutschen Bank auch darauf zurückzuführen sei, dass sie vor allem Hebelprodukte im Verkaufsprogramm führe. Diese risikoreichen Produkte seien in Baissen schon immer weniger gefragt gewesen. Tatsächlich ist die Deutsche Bank nach der BSI und der Credit Suisse am drittstärksten auf Hebelprodukte ausgerichtet. 93 Prozent aller strukturierten Produkte der Deutschen Bank sind Hebelprodukte – beim derzeitigen Marktführer Vontobel sind es 83, bei der ZKB 79 Prozent.
Ebenfalls zu den Marktanteilsverlierern gehören die amerikanischen Banken Goldman Sachs, Merrill Lynch und Citibank. Die Anleger haben sich im Zuge der Unsicherheit rund um Lehman und die gesamte US-Bankbranche von ihnen abgewandt.
Der Lehman-Konkurs hat jedoch nicht nur zu Verhaltensänderungen bei den Investoren geführt, sondern auch bei den Anbietern. Um das Konkursproblem in den Griff zu bekommen, wird an der Schweizer Börse am 28. September ein neues Marktsegment für pfandgesicherte strukturierte Produkte lanciert. Diese ermöglichen es Anlegern, im Fall eines Konkurses der emittierenden Bank auf ein Pfand zurückzugreifen. Erste pfandgesicherte strukturierte Produkte werden die Bank Vontobel und die EFG Financial Products emittieren.
Die Konkursabsicherung ist aber nicht gratis, sondern kostet gemäss Wasescha 0,15 bis 0,5 Prozent pro Jahr. Wer diese Absicherungskosten nicht tragen will, sollte die Bonität der Emittenten im Auge behalten. Sie wird auf der Website des SVSP (www.svsp-verband.ch) veröffentlicht und wöchentlich aktualisiert. Allerdings sind die Ratings mit Vorsicht zu geniessen. Lehman Brothers hatte bis unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit noch eine relativ gute Bonität (Single-A-Rating).
Die Branche hat zudem die oft bemängelte Transparenz der strukturierten Produkte verbessert: einerseits mit Ausbildungsangeboten für Anleger, andererseits mit erweiterter Information über die Risiken der verschiedenen Produktkategorien. Denn diese wurden oft unterschätzt, insbesondere bei Barrier Reverse Convertibles. Sie waren bei Anlegern wegen der hohen Coupons – Zinszahlungen von über 20 Prozent – schon vor der Baisse sehr beliebt. Dazu bieten sie einen bedingten Kapitalschutz, das heisst, dass der Schutz erst dann entfällt, wenn der Basiswert beispielsweise um 40 Prozent nachgibt. Die Möglichkeit solcher Kurseinbrüche haben die Anleger indes unterschätzt und mit vermeintlich sicheren Produkten viel Geld verloren. Das hat dem Image der Branche nicht gutgetan.
Um das Problem zu entschärfen, wurde die Kennzahl Value at Risk eingeführt. Sie gibt Anlegern Auskunft darüber, wie viel Geld die Anleger mit einem bestimmten Produkt verlieren können. Alle Produkte werden in sechs Risikokategorien eingeteilt – die Kategorie sechs ist die riskanteste. Die Risikokennzahl ist unter www.svsp-verband.ch/riskrating_de ersichtlich.
Was weiterhin nicht transparent ist, sind die Vertriebsentschädigungen. Damit bezahlen Emittenten die Verkäufer von strukturierten Produkten. Eric Wasescha sagt dazu: «Die Vertriebsentschädigungen sind unterschiedlich hoch, je nachdem, über welchen Vermögensverwalter die Produkte verkauft werden.»
Als Faustregel sollten Anleger mit Vertriebskosten von rund 0,5 bis 1 Prozent pro Jahr rechnen, die im Preis eingerechnet sind. Neben den Vertriebskosten kommen noch Kosten für die Konstruktion der Produkte, das Marketing und die Organisation des Börsenhandels dazu. «Geschätzte ein bis zwei Prozent pro Jahr dürfte das im Schnitt insgesamt ausmachen», so Wasescha. Ob sich das nicht nur für die Banken, sondern auch für die Anleger lohnt? Das kommt darauf an, ob Anleger das richtige Produkt zur richtigen Zeit haben.
Zum Beispiel sind Call- und Put-Warrants in stark steigenden bzw. fallenden Märkten die richtige Wahl. Geht der Markt aber seitwärts oder nur schwach aufwärts bzw. abwärts, dann sind es die falschen Anlageinstrumente. Calls und Puts verlieren über die Zeit an Wert. Sie sind ja eine Wette darauf, dass der Kurs einer Aktie oder eines anderen börsengehandelten Instruments innerhalb einer bestimmten Zeitspanne einen bestimmten Wert über- oder unterschreitet. Je näher das Ablaufdatum des Warrants, desto unwahrscheinlicher wird es, dass die Wette noch aufgeht. Verändert sich der Kurs des Basiswerts nicht, dann verliert der Warrant also über die Zeit an Wert.
Es gibt aber auch strukturierte Produkte mit Hebel, die keinen Zeitwert verlieren, etwa Minifutures und Knock-out-Produkte. Sie sind darum besser für schwach steigende oder fallende Märkte geeignet, wobei sie andere Probleme in sich bergen. Wenn der Kurs von Basiswerten (beispielsweise Aktien) in die falsche, vom Anleger nicht erwartete Richtung geht, dann verfallen sie beim Erreichen eines bestimmten Kurses (dem Knock-out) wertlos. Zudem entsteht bei Minifutures ein unangenehmes Phänomen: Setzen Anleger mit einem Minifuture auf steigende Kurse, dann sinkt der Hebel des Produkts umso mehr, je höher der Basiswert steigt. Sinkt der Basiswert, steigt der Hebel. Diese Produkte beschleunigen also für Anleger das Geldverlieren und verlangsamen das Geldverdienen.
Die oben beschriebenen Hebelprodukte sind die meistgekauften strukturierten Produkte. Attraktiver für Privatanleger wären aber oft Renditeoptimierungsprodukte. Sie sind als Paket von meist zwei Transaktionen zu verstehen: einerseits dem Kauf eines Basiswerts, beispielsweise einer Aktie, und andererseits dem Schreiben oder dem Leerverkauf einer Option. Mit Hilfe des Verkaufspreises der Option wird die Rendite des Basiswerts optimiert, indem er zum Beispiel als Puffer eingesetzt wird, der Verluste im Basiswert absorbiert, etwa bei Diskontzertifikaten (siehe Box links). Wer sich also überlegt, Nestlé-Aktien zu kaufen, kann diese entweder einfach kaufen oder das Renditeoptimierungsprodukt auf Nestlé-Aktien. Mit Letzterem hat er einen Absicherungspuffer gegen Kursverluste und profitiert bis zu einem gewissen Grad gleichzeitig von Kursgewinnen der Nestlé-Aktie.
Natürlich könnten Privatanleger die beiden Transaktionen, die einem Renditeoptimierungsprodukt zugrunde liegen, auch selber vornehmen. Allerdings ist das Schreiben einer Option für Privatanleger nicht so einfach. Welcher Investor weiss schon, wie er einen Leerverkauf organisiert, also eine Option verkauft, die er gar nicht besitzt? Mit dem Kauf eines Renditeoptimierungsprodukts können Anleger dieses Problem einfach der emittierenden Bank überlassen.
Wenn die Bank Pakete schnürt
Strukturierte Produkte sind oftmals Kombinationen aus Basistiteln wie Aktien oder Obligationen und Optionen. Aus den einzelnen Bausteinen wird ein Paket geschnürt und als Wertpapier verkauft. Zu den strukturierten Produkten zählen die risikoreichen Hebelprodukte, solche mit Kapitalschutz, Renditeoptimierungsprodukte und Partizipationsprodukte. Rechtlich sind es Schuldverschreibungen einer Bank. Das heisst: Im Fall eines Konkurses der Bank ist das Geld der Anleger meist weg.