Schon mancher Tourist staunte über die seltsame Mischung von Opulenz und Puritanismus, die den Zürcher Paradeplatz prägt. Schaut er nach Westen, zeigt sich das graue Gesicht des Kapitalismus: Finster erheben sich die Fassaden der Grossbanken UBS und Credit Suisse. Dreht er gegen Norden, leuchten Blumen aus Schaufenstern, glitzern Diamanten und Uhren. Wahre Sinnesfreude bietet aber erst der Blick gegen Osten: Bunte Naschereien, pyramidenförmig auf Silbertabletts arrangiert, reizen Augen und Gaumen, und süsse Düfte kitzeln die Nase. Die Confiserie Sprüngli, 163 Jahre alt, verströmt das Aroma des Überflusses über der Zwinglistadt.
Die Wirkung ist freilich rein äusserlich – für die betuchte Klientel, die von New York, vom Zürichberg und von den umliegenden Banken ins Geschäft drängt. Wer das Haus statt durch die Ladentür vom Seiteneingang her betritt, um die Stufen zu den Büros hochzusteigen, gelangt in eine andere Welt: Im hinteren Teil des Gebäudes am Paradeplatz, Drehscheibe des internationalen Business, scheint die Moderne spurlos vorbeigerauscht zu sein. Das Treppenhaus ist steinig und kahl, der Lift ein Vorkriegsmodell, die Türen sind massiv und dunkel. Ein Haus auf Diät. Nach guter alter Zürcher Art zelebrieren die Sprünglis Einfachheit. Daran haben auch die beiden Neffen von Patron Richard Sprüngli nichts geändert, die das Geschäft seit Frühling 1994 operativ führen. Wiewohl tschechischen Ursprungs, machen sie keine Anstalten, mit den Traditionen zu brechen. Dabei wurden sie auserwählt, das Haus mit Weltruf für die Zukunft zu rüsten.
Hinter den Türen steht schweres Mobiliar auf Spannteppichen. Milan Prenosil, 37-jähriger Marketingleiter, hat das Büro übernommen, in dem früher Onkel Richard wirkte. Man sitzt nicht auf Corbusier-Sesseln, sondern auf einem eingebauten rostfarbenen Canapé. Im Kanon mit Bruder Tomas, 34-jähriger Produktionschef, spricht Milan von Historie, von Wertvorstellungen und Beständigkeit. Im Gegensatz zu vielen Altersgenossen, die im Parterre Patisserie kaufen, ist für sie «Stetigkeit ein Challenge». Mit sanftem Druck wurden sie auf die Prinzenrolle vorbereitet. Obschon Richard Spr üngli kinderlos blieb, sollte das Unternehmen in Familienhand bleiben. Als Neffen von Richard Sprünglis zweiter Ehefrau Katja gehören sie trotz wenig Dienstjahren zum Inventar. Kaum waren die Buben mit Vater und Mutter, beides Ärzte, von Prag nach Zürich gezogen, begannen sie, das Schlaraffenland Sprüngli zu durchstreifen. «Lieblich» und «sympathisch» fanden sie das Zuckerzeug schon damals, diese Luxemburgerli, Truffes und Pralinés. «Ich hätte nie in einer Metzgerei arbeiten können», meint Tomas Prenosil.
Während er sich erst nach der Ausbildung zum Einstieg ins Geschäft entschloss, aspirierte Milan schon in der Jugend auf eine Führungsposition. Als sie vor sechs Jahren, nach dem Jusstudium und einem zweijährigen Praktikum im Betrieb, in die Geschäftsleitung vorstiessen und sich Richard Sprüngli aufs Verwaltungsratspräsidium zurückzog, wurde reihum die Frage gestellt: Welche Wirkung würden die Jungen entfalten? Fünf Jahre nach Dienstantritt können sie eine süsse Bilanz vorlegen. Das Geschäft hat sichtbar an Dynamik gewonnen. Im laufenden Jahr wird mit 460 Vollarbeitskräften ein Umsatz von 60 Millionen Franken erzielt. Die Zuwachsraten der letzten Jahre betragen real zwischen vier und fünf Prozent, kein schlechtes Resultat angesichts des gesättigten Marktes. Der Quadratmeterumsatz in den Läden beträgt 57000 Franken pro Jahr. Ertragszahlen sind noch geheimer als die Luxemburgerli-Rezeptur, doch Kenner der Verhältnisse beteuern, der Zuckerguss sei dick.
Richard Sprüngli kann zufrieden sein. Mit der Berufung der Neffen konnte er nicht nur die Nachfolge regeln, sondern auch Einfluss bewahren. Ohne den 84-jährigen Verwaltungsratspräsidenten wird kein wichtiger Entscheid gefällt. Aus Steuergründen hat er einen Teil seiner Aktien der Familie abgetreten, hält aber nach wie vor hundert Prozent der Stimmen. Der umtriebige Patron, der das Geschäft 1956 in fünfter Generation übernommen hatte, besucht täglich die Läden und markiert auch zwei- bis dreimal pro Woche frühmorgens im Produktionsbetrieb in Dietikon Präsenz. Er spricht Kredite, redet bei Umbauten mit, und er testet auch die diversen Teemixturen, die alljährlich neu definiert werden.
Die ganze engere Verwandtschaft mischt im 163-jährigen Traditionshaus mit. Katja Sprüngli schaut fast täglich im Laden und im Restaurant zum Rechten, und Milans Ehefrau Sasha, gelernte Innenarchitektin, lenkte den Umbau des Restaurants am Paradeplatz und gestaltet im Atelier in Dietikon Verpackungen. Eine Tante von Richard hat den identitätsstiftenden Sprüngli-Schriftzug entworfen. Den Brüdern Prenosil gefällt er, weil er «Handwerk, Präzision und Qualität» ausdrückt.
Bei allem Traditionsbewusstsein ist es ihnen gelungen, alte Strukturen aufzubrechen. «Ich habe die ersten zwei Jahre lang nur zugeschaut und zugehört», sagt Produktionschef Tomas Prenosil, «weil ich von den anderen lernen wollte. Heute kann man mir nicht viel vormachen.» Die Geschäftsleitung, die sie sich mit Finanzchef Werner Glauser teilen, funktioniert nach dem Rotationsprinzip: Jedes halbe Jahr wechselt der Vorsitz. Der autoritäre Führungsstil ist einem kooperativen gewichen, in der Chefetage wird wieder diskutiert. «Wir streben den Konsens an», betont Prenosil, «bei uns hat es keinen Platz für Eitelkeiten.»
Das kommt vielleicht noch, wenn es um den besten Platz in der Ahnengalerie geht. Bislang bestellt jeder sein Territorium: Milan, der forschere der beiden, macht in Zürich Marketing, Tomas, der zurückhaltendere, verantwortet die Produktion in Dietikon. Ganz nach Art des Patrons bewegt er sich in weissem Schutzmantel und Haube durch die Maxibackstube, wo seit 1961 produziert wird. Er kennt viele Angestellte beim Namen, schäkert hier ein bisschen und bringt dort eine Anregung an.
Obschon der Betrieb derzeit mit Millionenaufwand modernisiert, erweitert und auf SAP umgerüstet wird, läuft er auf Hochtouren. An Weihnachten wird ein Drittel des Cashflows erwirtschaftet. «1999 ist ein Schoggijahr», sagt Prenosil, der auch schon magere Zeiten erlebt hat. Als fürchteten die Kunden im neuen Jahrtausend Frugalität, ist Kalorienhaltiges wie Pariser Konfekt oder Truffestorten derzeit besonders gefragt. Im Oktober lag der Ausstoss in der Confiserie 30 Prozent über dem Vorjahreswert, im November nochmals 40 Prozent höher. Besonders das Firmenkundengeschäft, das seit kurzem forciert betrieben wird, wächst berauschend. Für eine Grossbank, die ihren Privatebanking-Kunden offenbar die schmalen Renditen versüssen will, wurden Tausende von Pralinésboxen angefertigt. Auf den Blechen zirkulieren Praliné mit bekannten Logos, Kakaobutter-Schriftzüge des grössten Zementherstellers und des grössten Rückversicherers der Schweiz.
Der Versand verzeichnet zweistellige Zuwachsraten. Jährlich werden direkt ab Dietikon rund 50 000 Pakete verschickt, die Hälfte davon an Weihnachten. Der Expresskurierdienst FedEx garantiert dafür, dass die delikate Fracht innerhalb von 24 Stunden irgendwo in den USA ankommt und innerhalb von 36 Stunden in Asien. In Dubai führt Sprüngli seit einem halben Jahr einen Showroom, um das Versandgeschäft mit den Arabern anzukurbeln.
Die Backstube in Dietikon ist zwar klein, aber doch so gross, dass 95 Prozent der Erzeugnisse selbst hergestellt werden können. Die Sprünglis verstehen sich als Gewerbler. Durchschnittlich 160 Mitarbeiter verarbeiten jährlich unter anderem 300 Tonnen Milchprodukte, 160 Tonnen Couverture, 65 Tonnen Eier und 10 000 Liter Spirituosen zu süssen und salzigen Gaumenkitzeln. Die Erzeugnisse tragen nicht nur das Etikett handgemacht, sie sind es auch. Pralinés werden von Hand geformt, Haare der Weihnachtsengel von Hand gespritzt, Flûtes von Hand gedreht. Einige Erzeugnisse wie Laugenbretzel kommen von Hiestand, weil die Anschaffung eigener Anlagen zu aufwändig wäre.
Süsseste Verführer sind die Luxemburgerli, deren Beliebtheit schon fast Züge einer Massenhysterie angenommen hat. Zwischen 300 und 500 Kilogramm dieser mit Buttercrème gefüllten Makronen verlassen täglich die Fabrik, macht pro Jahr etwa 120 Tonnen oder einen geschätzten Umsatz von neun Millionen Franken. Der Juniorchef wedelt mit der Originalrezeptur, die er selbst unterschrieben hat – wohl wissend, dass es noch niemand geschafft hat, Imitate von ebenbürtiger Raffinesse herzustellen. Das Geheimnis liegt im Backvorgang. Wer es genauer wissen will, dem sagt Prenosil mit raumgreifendem Lachen: «Eiweiss, Mandeln, Zucker – so einfach.»
Sieben Standardsorten gibt es derzeit, die in der Saison bis auf 14 erweitert wer-den. An der nächsten Kreation, Amaretto-Luxemburgerli, wird derzeit getüftelt; sie sollen im Frühling aufgetischt werden. Das Ansinnen, die Makronen ins Catering der Crossair aufzunehmen, scheiterte, weil das delikate Gebäck im Flugzeug austrocknet und obendrein zerbröselt, wenn es allzu hart in die Zange genommen wird.
Auf Druck des Marktes – der Konsument will Abwechslung, und die Konkurrenz schläft auch nicht – werden die Rezepturen in immer kürzeren Abständen modifiziert. Das Sortiment besteht aus rund 2000 Artikeln, und es wird laufend erneuert, neuestens zum Beispiel mit Bailey’s- und Bacardi-Truffes oder einem Schoggi-Champagnerkorken. Dieses Jahr wurden 76 neue Erzeugnisse aufgenommen – davon freilich die Hälfte in Gestalt modifizierter Verpackungen. Drei bis vier Monate dauert der Testlauf im Laden. Ein Produkt, das diesen nicht überstanden hat, war eine Zwiebelflûte, deren kräftiger Geschmack den Zürchern offenbar zu aufdringlich war.
Besonders wichtig ist es, den Anschluss an neueste Lebens- und Essgewohnheiten nicht zu verpassen. Wenn sich die gestressten Angestellen der umliegenden Banken zum Lunch Sandwich mit Salat und Mineralwasser kaufen und mit dem Gebotenen zufrieden sind, holen sie sich, so das Kalkül, auch mal die Geburtstagstorte für die Oma. «Sprüngli ist ein Symbol für Zürich – auch für die Jungen», ist Marketingmann Milan Prenosil überzeugt und verweist auf eine Erhebung, wonach 30 Prozent der Kundschaft zwischen 25 und 35 Jahre alt sind. Trotzdem käme es ihm nie in den Sinn, die Ladeneinrichtung aus massivem Holz mit Messingbeschlägen gegen Chrombeläge und Halogenbeleuchtung einzutauschen. Auch kein Thema ist es, männliches Verkaufspersonal einzustellen.
Der ehrwürdigen Kundschaft ist das recht. Der asketische Nationalbankchef Hans Meyer wurde schon beobachtet, wie er sich im Restaurant an einem sahnigen Sprüngli-Birchermüesli gütlich tat. Die Lenker der Credit Suisse Group, Rainer E. Gut und Lukas Mühlemann, nehmen sich schon mal Zeit für einen Kaffee im ersten Stock. Der kommt mit vier Franken pro Tasse immer noch günstiger als in der CS-eigenen Savoy-Bar, auch wenn er etwas dünner ist.
Klar: Bei den Preisen muss die Qualität stimmen. «Wir wollen nicht die Billigsten sein», sagt Milan Prenosil scharf, «Qualität hat eben ihren Preis.» Um diese Qualität sicherzustellen, herrscht ein Regime der Selbstbeschränkung. Hat eine Baumnuss eine Schramme, wird das ganze Praliné ausgemustert. Die Brüder wissen: Das Erbstück kann nur dann weiter gedeihen, wenn der Produktions- und Verkaufsprozess durchwegs kontrolliert wird, von der Auswahl der Rohstoffe bis zur Gestaltung der Schaufenster. Insofern lässt der in der übrigen Wirtschaft herrschende Spin-off-Aktivismus die Sprünglis kalt.
Produkte kommen auch grundsätzlich nicht in firmenfremden Kanälen auf den Markt und nur in Distanzen, in denen Frische und Qualität gewährleistet werden kann. Im Zuge der 1970 eingeleiteten Expansion wurden erste Verkaufsstellen errichtet, im Shop-Ville, im Glattzentrum, beim und im Bahnhof Stadelhofen und am Flughafen. Heute zählt die Firma zwölf Filialen an starken Passantenlagen, ein Kaffeerestaurant und zwei Kaffeebars. Der nächste Schritt ist in Vorbereitung: Ende 2001 wird im neuen Bahnhof Winterthur der erste Sprüngli-Laden eröffnet.
Diese wie alle anderen Investitionen werden praktisch ganz aus eigener Kraft finanziert. «Wer den Rappen nicht ehrt, ist des Frankens nicht wert», heisst der zwinglianische Glaubenssatz, wonach es in Zürich nur zu etwas bringt, wer fleissig und sparsam ist. Die Prenosils, beides Zünfter, haben das Credo verinnerlicht. Gemunkel, Richard Sprüngli wolle die Neffen adoptieren, um sie zu rechtmässigen Erben zu machen und obendrein Erbschaftssteuern zu sparen, weisen sie weit von sich: Sie wollen mit ihrer Identität die Confiserie für die siebte Generation rüsten. Die dreijährige Alexandra und der eineinhalbjährige Andreas, Sprösslinge von Milan, wissen noch nichts von ihrem Glück.