Schritt für Schritt tasten wir uns aus dem Lockdown in die Normalität zurück. Dazu gehört auch die Rückkehr in die ordentlichen demokratischen Prozesse. Ich habe keine Zweifel, dass uns das gut gelingen wird. Mehr Sorgen bereitet mir, dass uns der Geist des Notstands noch lange über die Krise hinaus begleitet. Die Politik hat Mühe, sich aus dem Krisenbewältigungsmodus zu lösen und sich auf die eigentliche Rolle des Staates zu besinnen. Führungsstark, zeitnah und mit Augenmass hat der Bundesrat in der Corona-Krise das Zepter in die Hand genommen. Jetzt muss er sich – und mit ihm das Parlament – wieder zurücknehmen. Die Verlängerung des Krisenmodus und die damit einhergehenden Subventionierungen und Notrechtsregulierungen sind kein Rezept für die Zukunft. Der Staat kann zwar vieles, aber er soll nicht alles. Er muss sich beschränken. Sonst überfordert er sich.
Rolf Dörig ist Präsident des Schweizerischen Versicherungsverbandes SVV und Verwaltungsratspräsident des Lebensversicherungskonzerns Swiss Life.
Erste Erhebungen zeigen, dass die Versicherungswirtschaft die Krise bisher gut gemeistert hat. Das darf uns freuen! Es geht nun darum, der Wirtschaft und damit den Unternehmen und uns allen rasch wieder die vollständige Handlungsfreiheit zurückzugeben, damit es gelingt, sich auf die künftigen Herausforderungen einstellen zu können. Die Aufgabe des Staats muss es sein, möglichst gute Rahmenbedingungen für die Wirtschaft zu schaffen. Der Schweizerische Versicherungsverband SVV setzt sich seit je für freiheitliche Rahmenbedingungen ein. Dieser Auftrag ist heute besonders aktuell.
Die Eidgenössischen Räte haben an ihrer ausserordentlichen Session vorerst darauf verzichtet, in geltende Mietverträge einzugreifen. Es geht auch anders: Viele Vermieter gehen auf ihre notleidenden Geschäftsmieter zu und suchen gemeinsam mit ihnen nach Lösungen, die für beide Seiten passen – freiwillig, solidarisch, selbstverantwortlich. Auch die Schweizer Privatversicherer nehmen ihre volkswirtschaftliche Verantwortung wahr. Sie kommen vielen ihrer Geschäfts- und Privatkunden in vielfältiger Weise entgegen. Nun ist zu hoffen, dass das Parlament in der Junisession auf einen verfehlten Eingriff ins Privatrecht verzichtet.
Schon weit gediehen war auch ein Dividendenverbot für Unternehmen mit Kurzarbeit. Es ist zum Glück vom Tisch. Der rückwirkende Eingriff des Parlaments in die Unternehmensfreiheit wäre für die Rechtssicherheit und die Reputation unseres Wirtschaftsstandorts schädlich gewesen. Auch viele Pensionskassen halten Aktien – auch oder gerade von kotierten Schweizer Privatversicherungsgesellschaften. Sie sind auf planbare Einkünfte aus Dividenden angewiesen. Damit kommen die Pensionskassen ihren Rentenverpflichtungen gegenüber den Versicherten nach. Die Dividendenpolitik der Unternehmen bildet den Geschäftsgang im zurückliegenden, nicht im kommenden Jahr ab. Die Spuren der Krise werden sich in der Dividendenpolitik 2021 zeigen.
Zu reden gibt auch die Unterscheidung zwischen Epidemie und Pandemie. Das Versicherungsprinzip, wonach aus den Prämien der vielen die Schäden der wenigen gedeckt werden, ist bei einem globalen Ereignis mit vielen gleichzeitig Geschädigten ausgehebelt. Grossrisiken lassen sich darum mit herkömmlichen Mitteln nicht versichern. Schäden, die nicht versichert sind, dürfen und können die Versicherungsunternehmen nicht übernehmen. Es würde auf Kosten aller anderen Versicherten gehen. Was in dieser Krise nicht versicherbar war, muss nicht zwingend auch in Zukunft so bleiben. Zurzeit ist ein Projektteam aus Vertretern des Bundes und der Versicherungswirtschaft daran, Optionen für eine Versicherungslösung für künftige Ereignisse zu erarbeiten. Denkbar ist der Aufbau eines Pandemie-Pools und die Verteilung des Risikos auf Versicherer, Versicherte und Staat.
Die Bewältigung der Corona-Krise führt zu einem hohen Schuldenberg. Auch bei der Vorsorge für Jung und Alt leben wir auf Kosten der kommenden Generationen. Das ist nicht nachhaltig. Die AHV und die berufliche Vorsorge (BVG) sind so umzugestalten, dass sie unsere Nachkommen entlasten und ihre Renten sichern. Die Senkung des Umwandlungssatzes, die Erhöhung des Referenzalters für Frauen wie auch die Enttabuisierung der Erhöhung des Rentenalters sind zwingende Voraussetzungen dafür. Ich wünsche mir, dass wir vom Tempo in der Krise etwas in die Zeit danach mitnehmen. So könnten wir die dringende Reform der Vorsorge rasch ins Ziel bringen. Es wäre ein starkes Lebenszeichen der Politik nach der Krise – und der längst fällige erste Schritt zur Entlastung derer, die nach uns kommen.