Bei Todesfällen sind Männer den Frauen in der AHV nicht gleichgestellt. Witwer erhalten nur so lange eine Rente, wie sie minderjährige Kinder haben, Frauen hingegen lebenslang. Selbst Frauen ohne Kinder profitieren von einer Witwenrente, sofern sie das 45. Altersjahr vollendet haben und mindestens fünf Jahre verheiratet waren. Kinderlose Witwer gehen hingegen leer aus. Diese Definitionsunterschiede wiegen schwer und spiegeln sich in den Zahlen: Im Dezember 2021 erhielten rund 176’000 Personen Witwen- oder Witwerleistungen, darunter weniger als ein Prozent Männer.
Der Gastautor Jérôme Cosandey ist seit dem 1. September 2018 Directeur romand von Avenir Suisse. Er setzt sich zudem als Forschungsleiter Tragbare Sozialpolitik vorwiegend mit der Altersvorsorge, Gesundheitspolitik sowie mit dem Generationenvertrag auseinander.
Politisch umstrittene Ungleichbehandlung
Diese Ungleichbehandlung ist seit langem politisch umstritten. Doch im Oktober 2022 nahm die Thematik eine neue Wende: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bezeichnete die Ungleichbehandlung als Verstoss gegen das Diskriminierungsverbot. Der EGMR-Entscheid bezieht sich allerdings nur auf den konkreten Fall eines Familienvaters im Erwerbsalter, der sich nach dem Tod der Ehefrau ganz der Erziehung der minderjährigen Kinder widmete. Die AHV-Leistungen wurden sistiert, als seine Kinder volljährig wurden. Der EGMR äusserte sich nicht über andere Diskriminierungen der Schweizer AHV, beispielsweise bei Witwern ohne Kinder.
Gesetzliche Grundlage muss angepasst werden
Aufgrund des EGMR-Entscheids hat das Bundesamt für Sozialversicherungen eine Übergangsregelung geschaffen und die Ausgleichskassen angewiesen, Witwer mit Kindern gleich zu behandeln wie Witwen mit Kindern, so dass die Witwerrente nicht mehr mit dem 18. Geburtstag des jüngsten Kindes erlischt. Damit soll einer erneuten Verletzung der Menschenrechte vorgebeugt werden.
Mittelfristig braucht es aber eine neue gesetzliche Grundlage. Ob der Bundesrat dafür eine Vorlage erarbeitet, ist noch offen. Bereits im April 2022, noch vor dem EGMR-Entscheid, hatte die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates beschlossen, eine Kommissionsinitiative zu ergreifen, um die Leistungen im Todesfall anzugleichen. Falls die Kommission des Ständerats dieser Initiative Folge leistet, wird die Kommission des Nationalrats einen Gesetzesentwurf ausarbeiten. Möglich ist es aber auch, dass das Parlament den Auftrag der Verwaltung übergibt.
Aus sozialpolitischer Sicht kann Gleichbehandlung für Witwer- und Witwenleistungen in der AHV auf drei Arten erreicht werden: Indem
- die Leistungen für Männer auf diejenigen für Frauen angehoben werden;
- die Leistungen für Frauen auf diejenigen für Männer reduziert werden;
- ein Mittelweg bestimmt wird, der für beide Geschlechter gleiche Leistungen sichert, der aber vom geltenden Recht abweicht.
Teurer Ausbau nach oben
Die Anhebung der Leistungen für Männer entspräche einem deutlichen Ausbau der Leistungen. Bereits heute betragen die Witwen- und Witwerleistungen ca. 1,8 Milliarden Schweizer Franken pro Jahr. Zum Vergleich: 2019 betrugen die Gesamtausgaben der Sozialhilfe 3,4 Milliarden. Eine gesetzliche Anpassung, die nur den vom EGMR gerügten Fall formalisiert, würde vorerst wenige Zusatzausgaben verursachen, sofern sie keine rückwirkende Wirkung entfaltet. Leistungen würden nur Witwer erhalten, deren Kinder nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes volljährig werden. Die Kosten würden aber stetig wachsen, weil jährlich Leistungsbezüger dazu kämen.
«Die Witwenrente zu senken, wäre die naheliegendste Variante.»
Deutlich teurer wäre eine Anpassung der Witwerleistungen an diejenigen der Witwen, unabhängig von der Kindersituation. Allerdings sterben Männer heutzutage oft früher als Frauen, da sie eine tiefere Lebenserwartung haben. Zudem ist der Ehemann in der Regel älter als seine Ehefrau. Aus beiden Gründen gibt es deutlich weniger Witwer als Witwen, die zudem weniger lang Leistungen beziehen. Eine Anpassung würde deshalb nicht zur Verdoppelung der Leistungen führen, jedoch immer noch Hunderte Millionen Schweizer Franken kosten.
Radikale Kürzungen politisch kaum möglich
Die Witwenrenten zu senken, wäre die naheliegendste Variante. Selbstverständlich braucht es Unterstützung, solange Waisen im Schulalter sind: Wo früher vier Schultern die zeitliche und finanzielle Belastung trugen, sind es nach einem Todesfall nur noch zwei. Spätestens jedoch, wenn die Kinder ihre Grundausbildung abgeschlossen haben, kann sich der verbliebene Elternteil wieder voll einer Erwerbsarbeit widmen. Eine Rente nach Ende der Ausbildung des jüngsten Kindes lässt sich daher kaum begründen. Allerdings würden die geltenden Witwerleistungen nur bis Volljährigkeit des jüngsten Kindes und nicht bis zum Ende der Ausbildung ausgerichtet. Politisch könnte es eine solch radikale Kürzung schwer haben.
Witwer- und Witwenrente der Zukunft
Der Mittelweg böte Gelegenheit, die Leistungen für Hinterbliebene an die Realität der Familienorganisation und der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts anzupassen und auf die Witwenrenten für kinderlose Frauen zu verzichten. Es gibt keinen Grund, warum eine Ehefrau ohne familiäre Verpflichtung von der Allgemeinheit im Todesfall des Ehemanns unterstützt werden sollte. Diese Vorstellung der Ehe als Vorsorge für kinderlose Frauen stammt aus der Einführung der AHV und entspricht einer überholten patriarchalen Weltanschauung.
Mit einem Teil des eingesparten Geldes bei kinderlosen Paaren könnte eine Flexibilisierung der Witwer- und Witwenleistungen bis zum Ende des Studiums – zum Beispiel bis zum 25. Lebensjahr statt bis zur Volljährigkeit der Kinder – finanziert werden, unabhängig vom Geschlecht des hinterbliebenen Elternteils. Die Leistungen könnten bei Haushalten mit jungen Kindern höher ausfallen, weil ihre aufwendigere Betreuung die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erschwert. Mit steigendem Alter der Kinder wäre eine stufenweise Reduktion denkbar, weil der Witwer oder die Witwe vermehrt einer beruflichen Tätigkeit nachgehen könnte. Eine solche Staffelung wird zum Beispiel bei der Zusprache von Alimenten nach einer Scheidung angewandt. Gemäss einem Entscheid des Bundesgerichts 2018 muss der hauptbetreuende Elternteil ab der obligatorischen Einschulung des jüngsten Kindes grundsätzlich zu 50 Prozent eine Erwerbsarbeit ausüben, ab dessen Eintritt in die Sekundarstufe zu 80 Prozent und ab dem vollendeten 16. Lebensjahr zu 100 Prozent. Massgebend ist der Lebensabschnitt, nicht das Alter der Kinder. Eine Witwer- und Witwenlösung, die sich an die Praxis bei geschiedenen Ehepaaren anlehnt, wäre folgerichtig.
«Die Witwenleistungen wurden bei der Einführung der AHV 1947 definiert, als nur Männer das Stimmrecht hatten, und das Rollenbild des Mannes als Ernährer und der Frau am Herd vorherrschte.»
Emotionale Debatte vorprogrammiert
Das Abwägen der neuen Witwerregelung wird eine öffentliche und wohl sehr emotionale Debatte auslösen. Nicht nur aus finanziellen Gründen ist es wichtig, die alten Regelungen für die Witwenrente als Benchmark für die Witwer zu hinterfragen. Die Witwenleistungen wurden bei der Einführung der AHV 1947 definiert, als nur Männer das Stimmrecht hatten, und das Rollenbild des Mannes als Ernährer und der Frau am Herd vorherrschte. Selbst die jüngsten unter den damaligen männlichen Abstimmenden sind unterdessen 95 Jahre alt. Von dieser Weltanschauung gilt es Abschied zu nehmen. Vielmehr ist es wichtig, die heutigen Realitäten in der Familienorganisation und im Arbeitsmarkt besser abzubilden und eine vom Geschlecht unabhängige Witwer- und Witwenrente zu definieren, die auch den gesellschaftlichen Entwicklungen der nächsten 50 Jahre gerecht bleiben wird.
Dieser Beitrag ist in der Ausgabe 2/23 der Zeitschrift «Die Volkswirtschaft» erschienen.