Herr Berger, wie lief die Erneuerung zum Jahreswechsel für die Swiss Re Corporate? Hat sich der von der Inflation ausgelöste Margendruck in vielen Industrieunternehmen auf die Verhandlungen ausgewirkt?
Wir haben etwas anderes beobachtet – tatsächlich verzögerten sich die Erneuerungen und die damit verbundenen Verhandlungen erheblich. Massgeblich hierfür war jedoch, dass viele Versicherte ihre Risikodaten und Versicherungswerte angesichts der Auswirkungen der Inflation überarbeiten mussten. Es ging also eher um die Schaffung von Transparenz als um Kostendruck.
Die vom Versicherungsmarkt geforderte Überarbeitung von Versicherungswerten, Risikoszenarien und damit einhergehenden Kapazitätsanforderungen ist für weltweit tätige Unternehmen ein komplexes Unterfangen, das viel Zeit in Anspruch nimmt. Wir beobachten leider bei vielen Akteuren der Industrieversicherung einen zunehmenden Personalmangel, und die Digitalisierung kommt noch nicht schnell genug voran. Es kann sich daher für Kunden lohnen, jetzt in digitale Schnittstellen mit Versicherern und Risiko-Daten-Lösungen zu investieren. Risikomanagement erfolgt am besten gemeinsam.
Mit Digitalisierung zur Risikopartnerschaft
Weg vom Versicherungseinkauf hin zum Risikomanagement, das ist der grosse Trend in der Industrieversicherung. «Früher ging es bei Risiken darum, sicherzustellen, dass jemand eine Versicherung abgeschlossen hat. Heute versuchen Boards und Management, die Gesamtheit der Risiken in einem Unternehmen zu erfassen», sagt Andreas Berger. Der frühere Allianz-Manager (London, München) leitet seit 2019 die Industrieeinheit der Swiss Re in Zürich. Zur Beherrschung von Risiken bedarf es Wissen und Daten. Unter Berger investiert die Swiss Re Corporate Solutions deshalb in ihre digitalen Fähigkeiten. Vor drei Jahren hat die Swiss Re ihre rechtliche Struktur vereinfacht und die Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft AG wurde zur zentralen Einheit. Die operative Eigenständigkeit der Swiss Re Corporate Solutions bleibt erhalten, berichtet Berger. In dem schwierigen Geschäftsjahr 2022 erwies sich die Industrieeinheit als Anker der Stabilität.
Nach Ratensteigerungen von teilweise mehr als 20 Prozent hat sich die Marktverhärtung zuletzt deutlich abgeschwächt. Sind wir am Ende des Zyklus angelangt?
Ich glaube nicht, dass dies der Fall ist. Wir gehen sogar davon aus, dass die Situation rund um Erneuerungen in Zukunft noch schwieriger werden wird. Es stimmt, dass wir in einigen Sparten so etwas wie eine leichte Entspannung in Bezug auf die Preisgestaltung oder die Bedingungen sehen, in denen wir in den letzten Jahren einen enormen Anstieg erlebt haben. In der allgemeinen Haftpflichtversicherung dominierte eindeutig die Inflation die Erneuerungsdiskussionen.
Welche Risiken bereiten Ihnen derzeit die grössten Sorgen?
Wir bewegen uns auf das Ende einer globalen Pandemie zu, die überall Folgen hinterlassen hat. Zwar wird Covid-19 in weiten Teilen der Welt endemisch. Aber die Risikolage entspannt sich nicht: Geopolitische Spannungen, Inflationsdruck und Folgewirkungen wie Energieschocks, Cyberbedrohungen und Unterbrechungen der Lieferketten stellen die Gesellschaft und letztlich auch die Rück-/Versicherungsbranche vor Herausforderungen. Darüber hinaus macht sich der Klimawandel zunehmend bemerkbar und ein Ende ist nicht in Sicht.
Im Jahr 2021 entfielen mehr als 70 Prozent der versicherten Schäden aus Naturkatastrophen auf sekundäre Gefahren, das heisst Ereignisse mit hoher Häufigkeit und geringem bis mittlerem Schweregrad. Dazu gehören Gewitter, Hagel, Waldbrände, Dürren, Sturzfluten und Erdrutsche. Die Modellierungsmöglichkeiten für Sekundärgefahren sind weniger ausgereift als für Primärgefahren. Sekundärgefahren sind schwieriger vorherzusagen, ihre Auswirkungen sind stärker lokalisiert und die Kosten hängen stark davon ab, wo sie eintreten – in städtischen Gebieten sind die Auswirkungen grösser.
Ein Grossteil dieser Wissenslücke ist auf einen Mangel an Daten und Überwachung zurückzuführen. Die Risiken sind nicht neu, aber sie nehmen zu, und das wird durch die Tatsache verstärkt, dass alles eng miteinander verbunden ist.
Und um welche Risiken sorgen sich Ihre Kunden aus der Industrie am meisten?
Wir haben mit Dutzenden von Risikomanagern, Geschäftsleitungsmitgliedern und Verwaltungsräten der weltweit führenden Unternehmen gesprochen, und wir haben einen gemeinsamen Refrain gehört: Früher ging es bei Risiken darum, sicherzustellen, dass jemand eine Versicherung abgeschlossen hat. Heute versuchen Boards und Management, die Gesamtheit der Risiken in einem Unternehmen zu erfassen.
Die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, die Komplexität des Risikos in den Griff zu bekommen, das Risiko und seine Auswirkungen zu quantifizieren und herauszufinden, was man dagegen tun kann. Und das ist eine grundlegende Frage nach der Fähigkeit, Risiken zu managen. Dazu gehört auch die Versicherung, aber es geht um viel mehr. Firmenkunden sagen uns, dass sie mehr Kontrolle über ihre Risiken haben wollen; sie wollen in der Lage sein, sie ganzheitlich und strategisch zu betrachten. Um dies zu erreichen, müssen ihre Unternehmen das Risikomanagement drastisch verbessern.
Und wie unterstützen Sie Ihre Kunden dabei?
Wir haben erheblich in unsere Dateninfrastruktur investiert, damit Underwriter, Schadenexperten und Versicherungsmathematiker in unserem gesamten Unternehmen mit der gleichen Single Source of Truth arbeiten können. Wir bieten diese Infrastruktur jedem Unternehmen an, das daran interessiert ist. Auf diese Weise können Unternehmen Daten auf eine neue Art und Weise konsolidieren, die ihnen einen vollständigen Überblick über ihre Vermögenswerte und Lieferkettennetzwerke auf allen Ebenen bietet.
In einem ersten Schritt erstellen wir einen digitalen Zwilling der Anlagen, den sie an einem Ort auf einer Weltkarte sehen können. Mit dem digitalen Zwilling können Unternehmen dann «Was wäre, wenn»-Szenarien durchspielen, um zu verstehen, wie ein Risikoereignis ihre Anlagen oder Lieferketten stören könnte.
Swiss Re Corporate Solutions hat zahlreiche IT-Initiativen lanciert, darunter das IPA-System zur Verwaltung internationaler Programme. Konnten Sie die Ziele, die Sie sich gesetzt hatten, erreichen?
Als wir 2019 unser internationales Netzwerk und unsere internationale Programmplattform PULSE einführten, verfolgten wir zwei Hauptziele: die Beseitigung von Problemen auf Kundenseite, die durch schwerfällige Prozesse verursacht wurden, und die Verbesserung der Datengenauigkeit. Wir sind diese Schmerzpunkte aus der Kundenperspektive angegangen und haben die Ineffizienz der Versicherungsbranche in Angriff genommen. Jeder hatte sein eigenes System, einschliesslich der Netzgesellschaften und der lokalen Geschäftsstellen.
Die Kundenanforderung war ein einziges System, das es allen Beteiligten – Maklern, Trägern und Kunden – ermöglicht, nahtlos zu kommunizieren. Aus diesem Grund halten wir es für die richtige Strategie, unsere PULSE-Plattform für alle Beteiligten zu öffnen. Indem wir die Zahl der Teilnehmer erhöhen, können wir dazu beitragen, einen starken Netzwerkeffekt zu erzeugen und die tiefgreifenden Probleme auf dem Markt anzugehen.
Die Swiss Re hat im Jahr 2020 die Rechtsträger der Swiss Re Corporate Solutions bereinigt. Die Legal Entity Swiss Re Corporate Solutions AG wurde aufgelöst, und die Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft ist nun die wichtigste operative Einheit der Swiss Re Gruppe, zusammen mit weiteren lokalen Rechtsträgern, vor allem in den USA und in Luxemburg. Können Sie etwas zu dem Hintergrund dieser Bereinigung berichten?
Nach den Ankündigungen zur Auflösung der Geschäftseinheit Life Capital und der Straffung der rechtlichen Organisationsstruktur hatte die Swiss Re Gruppe die Vereinfachung der rechtlichen Struktur ihrer drei Geschäftseinheiten vorbereitet. Die Schweizer Rückversicherungs-Gesellschaft AG wurde wichtigste operative Tochtergesellschaft der Swiss Re AG. Diese Einheit verfügt ihrerseits über separate Holdinggesellschaften für die Geschäftsbereiche Rückversicherung und Corporate Solutions sowie für die Division IptiQ. Trotz der Verschlankung der rechtlichen Struktur operieren diese Geschäftsbereiche weiterhin separat. Ziel war es, die Kapitaleffizienz zu optimieren. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Corporate Solutions als eigenständige Geschäftseinheit weitergeführt wird.