Der Schock kam für die Pensionskassen gleich beim Ausbruch der Corona-Pandemie: Sinkende Börsenkurse sorgten für drastisch verminderte Altersguthaben. Doch nur für kurze Zeit. Boomende Aktienmärkte haben das Vermögen in der beruflichen Vorsorge mittlerweile wieder angehoben. Der Deckungsgrad ist mit rund 115 Prozent derzeit so hoch wie seit zwanzig Jahren nicht mehr. Auch die durchschnittliche Verzinsung des Vorsorgekapitals der Arbeitnehmenden lag zuletzt mit 1,8 Prozent deutlich über dem Mindestzinssatz von 1 Prozent. Die guten Zahlen sind aber nur eine Momentaufnahme und können das strukturelle Problem in der zweiten Säule nicht beheben. Oder wie es Finanzprofessor Heinz Zimmermann von der Universität Basel mit einem Krankheitsbild vergleicht: «Bei diesem Patienten müsste man einige Organe entfernen oder transplantieren.» Für ihn ist das gesamte System der beruflichen Vorsorge einfacher zu gestalten. «Es gibt zu viele regulatorische Vorgaben und kapitalmarktfremde Auflagen.»
Hausaufgaben gemacht
Die Stiftungsräte versuchen das finanzielle Konstrukt ihrer Pensionskasse trotz Reformstau möglichst stabil zu halten. Das ist angesichts einer steigenden Lebenserwartung und der Minuszinsen an den Kapitalmärkten nicht einfach. Immerhin attestiert ihnen Willi Thurnherr, CEO Retirement beim Beratungsunternehmen Aon, aktives Handeln: «Mit der Absenkung von Umwandlungssatz und technischem Zinssatz haben die meisten Verantwortlichen ihre Hausaufgaben gemacht.» Als Problem jedoch bleiben die gesetzlichen Rahmenbedingungen mit dem politisch verankerten Umwandlungssatz von 6,8 Prozent im BVG-Obligatorium. Die umhüllenden Pensionskassen umgehen diese Hürde, in dem sie auf den Geldern im überobligatorischen Bereich einen tieferen Umwandlungssatz anwenden. Gemäss dem jüngsten Complementa Risiko Check-up liegt der durchschnittliche Umwandlungssatz derzeit bei 5,49 Prozent. In den nächsten fünf Jahren ist eine weitere Senkung um 0,3 Prozent geplant. Der aktuarisch korrekte Umwandlungssatz müsste jedoch bei lediglich 4,8 Prozent liegen. Mit anderen Worten: Statt einer Rente von 6800 Franken auf 100’000 Franken Vorsorgekapital würden nur noch 4800 Franken ausbezahlt.
Umverteilung schwer durchschaubar
Das anhaltende Tiefzinsumfeld wurde in den letzten Jahren von günstigen Kursbewegungen an den Aktienmärkten überlagert. Nebst einer guten Verzinsung der Altersguthaben ermöglichte dies auch die Erhöhung der Wertschwankungsreserven. Die Swisscanto-Pensionskassenstudie ermittelte für das letzte Jahr einen Anstieg beim Finanzpolster von 65 auf 75 Prozent Anteil an der Zielgrösse. Das ist für Aon-Vorsorgeexperte Thurnherr auch ein Zeichen dafür, dass «das Vertrauen in die Finanzmärkte nicht mehr so gross ist wie früher». Weil die Volatilität an den Märkten gestiegen ist, passen die Vorsorgeeinrichtungen ihre Wertschwankungsreserven nach oben an. Der faktisch weiterhin zu hohe Umwandlungssatz sorgt dafür, dass eine massive Umverteilung von den Erwerbstätigen zu den Rentnern stattfindet. Die von der Oberaufsichtskommission der beruflichen Vorsorge (OAK BV) berechneten Zahlen sind zwar im ersten Corona-Jahr von 7,2 auf 4,4 Milliarden Franken zurückgegangen, aber ob dieser rückläufige Trend bei der Quersubventionierung anhält, muss sich erst noch weisen.
Dabei war diese Umverteilung in der zweiten Säule gar nie vorgesehen. Im Gegensatz zur umlagebasierten AHV sollte in der BV jeder Arbeitnehmer sein Alterskapital selbst ansparen. Professor Zimmermann bedauert, dass die Umverteilung in der Schweiz wegen der kapitalmarktfernen Vorschriften besonders ausgeprägt und vor allem auch schwer durchschaubar ist. Viele Vorsorgeeinrichtungen verwenden für die Rentner immer noch einen höheren technischen Zinssatz als für die Aktiven, dessen Obergrenze für die Erwerbstätigen aktuell bei etwa 1,7 Prozent liegt. Weil dieser Satz deutlich über dem risikolosen Zinssatz liegt, leben selbst die heutigen Aktiven bereits auf Kosten derjenigen Generation, die noch gar nicht im Arbeitsprozess ist. Für Zimmermann ist klar: «Mit der Beseitigung von kapitalmarktfremden Verzinsungsvorschriften aus dem System lassen sich die Umverteilungen am einfachsten abbauen.»
Bessere Entscheidungsfindung
Die Vorsorgeeinrichtungen sind zwar bemüht, möglichst hohe Kapitalerträge für ihre Versicherten zu erzielen. Die Ergebnisse fallen allerdings extrem unterschiedlich aus. In der Swisscanto-Studie wurde ermittelt, dass die beste Kasse eine dreimal so hohe Rendite wie der Durchschnitt erzielt. Für 2020 liegt die Performance zwischen minus 6,5 Prozent und plus 12,3 Prozent. Vor allem kleinere Pensionskassen mit wenig anlagetechnischem Know-how tun sich mit dem Kapitalmarkt als «drittem Beitragszahler» oft schwer. Trotzdem beobachtet Stephane Casagrande, Head Institutional Clients bei J.P. Morgan Asset Management Schweiz, bei den Pensionskassen über die letzten Jahre hinweg eine nachhaltigere Anlagepolitik: «Während der Corona-Pandemie haben sie nicht panisch reagiert, sondern sehr bedacht gehandelt.» Für ihn ist die Entscheidungsfindung viel strukturierter geworden.