Das Schweizer Dreisäulensystem der Altersvorsorge geriet mit den Negativzinsen unter einen starken Ertragsdruck. Brechen nun mit der Zinswende bessere Zeiten an?

Ja, das sehe ich mittelfristig durchaus. Mit dem Anstieg der Zinsen gibt es auch einen höheren risikolosen Zinssatz. Kurzfristig bringt die Zinswende aber zunächst einmal Einbussen, weil die Obligationenbestände in den Bilanzen der Pensionskassen an Wert verlieren.

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Die demografische Entwicklung, mit einer laufend höheren Lebenserwartung bringt einzelne Pfeiler der Altersvorsorge aber aus dem Gleichgewicht. Wie stabil ist das Dreisäulensystem?

Insgesamt würde ich den Zustand des Dreisäulensystems als gut einstufen. Auf die demografische Entwicklung reagiert einzig die nach dem Umlageverfahren konzipierte AHV sehr sensibel. Deshalb ist bei dieser staatlichen Altersvorsorge auch nach der Reform noch immer vor der Reform. Aufgrund der stetig steigenden Lebenserwartung ist bei diesem Vorsorgewerk das letzte Wort noch nicht gesprochen. Bei der beruflichen Vorsorge nach dem Kapitaldeckungsverfahren spart jeder Versicherte für sich selbst. Wenn die Umwandlungssätze bei der Verrentung versicherungsmathematisch so gestaltet sind, dass keine Umverteilung stattfindet, ist die Demografie bei den Pensionskassen kein Thema.

«Die AHV müsste abgebaut und die zweite Säule gestärkt werden.»

Kerstin Windhövel

Müsste man die AHV stärker ausbauen, weil bei der beruflichen Vorsorge der «dritte Beitragszahler» wegen des unsicheren Kapitalmarkts schwächelt?

Dieser «dritte Beitragszahler» fällt nicht unbedingt schwächer aus, er schwankt einfach mehr. Aber Pensionskassen können bei ihren Investments äusserst langfristig disponieren. Aus dieser Sicht ist für mich die zweite Säule mit einem Kapitalmix aus Aktien, Obligationen, Immobilien und alternativen Anlagen die bessere Lösung. Für mich müsste man eher die AHV tendenziell abbauen und die berufliche Vorsorge stärken.

Bei internationalen Vergleichen rutscht die Schweiz wegen des Reformstaus in der Altersvorsorge nach unten. Wo braucht es Korrekturen, um sich im Ranking zu verbessern?

Bei solchen Ranglisten sind natürlich die verwendeten Kriterien wichtig. Beim Mercer-Index lag die Schweiz 2022 im obersten Drittel. Beurteilt wird nach dem gewichteten Durchschnitt von Angemessenheit, Nachhaltigkeit und Integrität. Um sich in diesem Ranking nach oben zu bewegen, müssten wir die Investitionsprozesse straffen. Zudem wäre die Investment-Governance zu verbessern, also etwa die Auswahl der Assetmanager professioneller zu gestalten.

Im kommenden Frühling stimmt das Schweizer Volk über ein Reformpaket zur zweiten Säule ab. Darin enthalten ist eine Absenkung des Umwandlungssatzes im Obligatorium verbunden mit Rentenzuschlägen für die Übergangsgeneration sowie eine niedrigere Eintrittsschwelle und abgeflachte Beitragsquoten im höheren Erwerbsalter. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Mit einer Ausnahme sind diese Massnahmen alle sehr zu begrüssen, auch wenn ein Umwandlungssatz von 6 Prozent noch immer vergleichsweise hoch ist. Ein absolutes No-Go ist für mich die Übergangslösung mit den Rentenzuschlägen. Hier erfolgt in der zweiten Säule ein Systembruch, indem man eine Umlagekomponente in ein kapitalgedecktes Modell hineinquetscht.

In der beruflichen Vorsorge öffnet sich die Schere zwischen Erwerbs-tätigen und Rentnern immer mehr.  Es gibt jährliche Umverteilungen zulasten der aktiv Versicherten von mehreren Milliarden Franken. Wie lässt sich das stoppen?

Die Zinswende hilft in diesem Fall. Die starke Umverteilung war auch eine Folge der lang anhaltenden Tiefzinsphase. Die Rentenzusage ist auch in schlechten Zeiten bindend. Die Pensionskassen mussten deshalb diese Quersubventionierung betreiben, um das ganze System im Gleichgewicht zu halten. Immerhin, die Vorsorgeeinrichtungen haben in dieser schwierigen Phase ihre Hausaufgaben gemacht: Der technische Zinssatz und der Umwandlungssatz wurden gesenkt. Wichtig ist nun, dass die Pensionskassen nach der Zinswende nicht gleich den technischen Zinssatz wieder anheben und stattdessen die risikolos erarbeiteten Zinsen den aktiv Versicherten zugutekommen lassen.

Vorsorge-Expertin

Name: Kerstin Windhövel
Funktion: Professorin Kalaidos Fachhochschule Schweiz, Leiterin Kompetenzzentrum Vorsorge
Alter: 51
Wohnort: Bern
Ausbildung: Doktorat in Volkswirtschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg

Das Unternehmen Die Kalaidos Fachhochschule bietet schweizweit Studiengänge in verschiedenen Themengebieten an. Im Bereich Vorsorge gibt es einen Master-Abschluss und daneben Zertifikatslehrgänge und Weiterbildungskurse.

Braucht es eine automatische Anpassung des Pensionsalters an die steigende Lebenserwartung, wie das zwei Drittel der OECD-Länder bereits kennen?

Bei der AHV kann man sich über einen solchen Mechanismus durchaus Gedanken machen. Bei den Pensionskassen ist das nicht notwendig. Schon heute hat man die Möglichkeit, im Alter zwischen 58 und 70 Jahren in Pension zu gehen. Je nach Zeitpunkt der Ruhestandsregelung erfolgen bei der Rente versicherungstechnische Zu- und Abschläge.

Gibt es bei den Pensionskassen nicht auch noch Verbesserungspotenzial, wenn es um die Effizienz und Qualität geht?

Ja, das gibt es bei den Vorsorgeeinrichtungen ebenso wie in jedem Unternehmen. Die Pensionskassen haben während der Corona-Pandemie stark auf Digitalisierung gesetzt. Es sind professionell betriebene Arbeitgeber- und Arbeitnehmerportale entstanden. Die Kundenberatung wurde ausgebaut. Der Versicherte kann im Sinne der Individualisierung selbst aktiv werden. Eine frühere Kalaidos-Studie zeigt jedoch, dass die Economies of scale nur bei jenen Pensionskassen auch bei den Versicherten ankommen, die ihre Versichertenverwaltung selbst durchführen. Wenn die Administration ausgelagert ist, fallen diese Effizienzgewinne beim Outsourcing-Unternehmen an und kommen im Normalfall nicht den Versicherten der Vorsorgeeinrichtung zugute.

In den Niederlanden erzielen knapp 250 Pensionskassen deutlich höhere Renditen als die rund 1400 Vorsorgeeinrichtungen in der Schweiz. Würden bei uns deutlich weniger Kassen nicht markante Skaleneffekte und damit auch tiefere Kosten bringen?

Um das schlüssig zu beurteilen, müsste man die genauen Voraussetzungen für die niederländischen Pensionskassen kennen. Möglicherweise gibt es dort auch offenere Anlagerichtlinien mit einem höheren Risikopfad. Grundsätzlich gilt aber natürlich, dass wir in der Schweiz unter den rund 1400 Kassen sehr viele kleine Vorsorgeeinrichtungen haben. Die Konsolidierung kommt jedoch rasant voran. Vielleicht geschieht das nicht immer im gleichen Tempo, aber ich schätze, dass sich die Zahl der Vorsorgeeinrichtungen innerhalb der nächsten zehn Jahre halbieren wird, dies allein schon wegen der wachsenden Regulierung.

Schon heute sind die Sammel- und Gemeinschaftsstiftungen mit einem Anteil von rund drei Vierteln dominant. Werden sich die Altersguthaben noch weiter in diese Richtung verschieben?

Ja, wobei sehr grosse Unternehmen weiterhin ihre eigene Pensionskasse betreiben werden. Die mittleren und kleinen Firmen dürften sich früher oder später einer Sammelstiftung anschliessen.

«Die dritte Säule ist kein Ersatz für die zweite Säule.»

Kerstin Windhövel

Sind in der beruflichen Vorsorge auch mehr individuelle Lösungen nötig, wie etwa die 1e-Pläne für Führungskräfte und Spezialisten?

Grundsätzlich treffen die 1e-Pläne auf ein Bedürfnis bei den höheren Einkommen. Nebst diesen spezifischen Vorsorgeplänen sollte es aber generell für alle mehr Wahlmöglichkeiten beim Rentenzugang geben. Beispielsweise könnte ein Single einen höheren Umwandlungssatz wählen, wobei die Leistungen für die Hinterbliebenen beim Ableben des Versicherten auf dem niedrigen BVG-Niveau wären. Denkbar wäre auch ein Modell, bei dem zwischen 65 und 75 Jahren ein höherer Umwandlungssatz zur Anwendung käme und danach ein niedrigerer.

Sind auch neue Anreize in der dritten Säule notwendig, um das individuelle Sparen zu fördern?

Ja, das scheint mir wichtig. Dazu gehören, ähnlich wie in der zweiten Säule, nachträgliche Einkäufe in die steuerbegünstigte Säule 3a. Interessant wäre auch die Möglichkeit, dass die Eltern bereits für ihre Kinder in diese Säule 3a einzahlen können.

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Das würde den Anlagehorizont für die nächste Generation entsprechend verlängern und schon früh an das Vorsorgesparen heranführen. Klar ist für mich aber: Die dritte Säule ist eine Ergänzung, aber kein Ersatz für die zweite Säule.

Dieses Interview erschien erstmals am 13. September 2023 im Spezial Altersvorsorge 2023 der Handelszeitung.