Markus Reding, wie stark engagieren sich Schweizer Versicherungsgesellschaften bei technologischer Innovation?
Überraschend stark – allerdings häufig unter dem Radar: Auch wenn Versicherer nicht als Erste mit bunten Prototypen um die Ecke kommen, ist die technologische Expertise beachtlich.
«Den Pioniergeist sehe ich eher weniger auf dem Versicherungsmarkt.»
Viele Unternehmen investieren gezielt in Digitalisierung – oft dort, wo es messbar wird: in der Dunkelverarbeitung, Cloud-Infrastrukturen oder KI-gestützten Schadensprozessen. Wir sehen jedoch auch gute Beispiele an Kundenschnittstellen wie Helvetias «Clara», Swisscoms «Sure» oder den Baloise-FX-Investment-Assistenten.
Was treibt die Versicherungen an?
Viele Innovationen entstehen aus dem Bedürfnis nach Effizienz – nicht aus Pioniergeist. Aber auch das ist legitim. Manchmal ist ein stabil laufender Server eben attraktiver als der nächste KI-Hype.
Gleichzeitig fehlt in vielen Fällen ein übergreifender Ansatz: Es wird oft in Silos optimiert – was die Wirkung auf das Gesamtgeschäft einschränkt. Innovation ist also durchaus präsent, aber selten ganzheitlich orchestriert.
Packt man die Chance, die neue Technologie bietet?
Den Pioniergeist sehe ich eher weniger auf dem Versicherungsmarkt. Die Digitalisierung wird von Versicherungen primär als Mittel zur Effizienzsteigerung betrachtet.
«Das Risiko war in der Vergangenheit für viele Verantwortliche zu hoch, es lief ja.»
Im Bereich der Prävention lassen sich durch die intelligente Verknüpfung interner und externer Daten zudem Risiken präziser vorhersagen – und frühzeitig Massnahmen einleiten.
Doch der eigentliche Hebel von KI liegt in der Wirkung nach aussen: KI ermöglicht es, näher an Kundinnen und Kunden heranzurücken und Interaktionen gezielter, persönlicher und nutzstiftender zu gestalten.
Was bedeutet das für die Versicherer und deren Kundschaft?
Durch die Digitalisierungsmöglichkeiten kann man die Touchpoints erhöhen. Bessere Services steigern den Mehrwert zum Beispiel in der Beratung oder bei einem Schadenfall.
So kann bereits im ersten Kontakt ein spürbarer Mehrwert entstehen – sei es durch einfache Prozesse, individualisierte Angebote oder relevanten Content. Genau hier entsteht Differenzierung zwischen den Versicherungsgesellschaften.
Welche Bereiche sind bei Versicherern besonders stark digitalisiert?
Besonders weit fortgeschritten ist die Digitalisierung in der Policen-Verwaltung und Schadenbearbeitung – vor allem bei Kranken- und Sachversicherern, wo hohe Fallzahlen eine starke Automatisierung ermöglichen.
In der Krankenversicherung läuft die Dunkelverarbeitung inzwischen auf Hochtouren, mit Automatisierungsquoten von teils über 80 Prozent. Auch digitale Abschlussstrecken und Chatbots im Kundenservice gehören mittlerweile zum Standard.
Wo liegt die Digitalisierung noch im Argen?
Was häufig zu kurz kommt, ist die konsequente End-to-end-Digitalisierung: Allzu oft endet der digitale Prozess an Abteilungsgrenzen oder Systembrüchen. Gleichzeitig schlummert in anderen Bereichen wie der Risikoprüfung oder der Kundenberatung noch grosses Potenzial.
«Der eigentliche Hebel von KI liegt in der Wirkung nach aussen: KI ermöglicht es, näher an Kundinnen und Kunden heranzurücken.»
Spannend wird es dort, wo Mensch und Technologie sinnvoll zusammenspielen: Künstliche Intelligenz kann Entscheidungen vorbereiten, Daten analysieren und Prozesse beschleunigen – da gerade bei sensiblen Themen der persönliche Kontakt durch den Menschen unverzichtbar bleibt, etwa bei Lebensversicherungen.
Zeichnen sich einzelne Gesellschaften als besonders innovativ aus?
Ja, allerdings auf ganz unterschiedliche Weise. Helvetia etwa hat mit ihrer KI-basierten Kundenschnittstelle «Clara» neue Massstäbe gesetzt. Die Baloise steht kurz vor der Lancierung eines KI-gestützten Investment-Assistenten. Und Swiss Re investiert weltweit in Innovations-Hubs. Auch Sanitas, Smile oder Yarowa punkten mit konkreten Lösungen im Kundenservice und der Schadenbearbeitung.
Markus Reding ist Managing Director Insurance Switzerland und Partner bei Zühlke.
Zühlke wurde 1968 in der Schweiz gegründet. Das Unternehmen ist im Besitz von Partnern und hat mehrere Standorte in Europa und Asien. Die multidisziplinären Teams von Zühlke sind spezialisiert auf Strategien rund um Technologie, Business-Innovation, Digital Solutions und Application Services sowie Device und System Engineering. Zühlke ist nach eigenen Angaben «besonders stark in hochkomplexen, regulierten Branchen wie dem Finanz- oder Gesundheitssektor». (pd/ajm)
Ein besonders grosser Hebel entsteht dort, wo durch Digitalisierung ganz neue Geschäftsmodelle möglich werden. Oder wo Versicherer beginnen, sich mit erweiterten Services und Leistungen neu zu positionieren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Helsana zum Beispiel verfolgt strategisch das Leitmotiv «Gesundheit lebenslang absichern» – und entwickelt in diesem Rahmen Angebote rund um mentale Gesundheit, Langlebigkeit, Kinderwunsch und Schwangerschaft, selbstbestimmtes Leben im Alter oder auch Gesundheitssparen. Das geht weit über klassische Versicherung hinaus.
«Kernsystem-Migrationen sind höchst risikante Vorhaben.»
Ein weiteres Beispiel ist die Gebäudeversicherung Bern (GVB), die den gesamten Schadenprozess neu denkt. Die Smart-Claims-Plattform automatisiert grosse Teile der Abwicklung, schafft Transparenz und erhöht den Komfort für Kundinnen und Kunden deutlich – ausgezeichnet mit dem Swiss Insurance Innovation Award 2022.
Wichtig bleibt: Innovation entsteht nicht nur durch Technologie, sondern durch Haltung. Wer bereit ist, Neues auszuprobieren, Partnerschaften eingeht, schafft langfristig Substanz.
Hat der Grad der Digitalisierung auch mit dem Geschäftsmodell zu tun?
Absolut. Die Unterschiede zwischen den Sparten sind teilweise frappant. Krankenversicherer sind stark automatisiert, weil sie mit riesigen Datenmengen operieren. Lebensversicherer setzen noch oft auf persönliche Beratung – da braucht die Digitalisierung mehr Feingefühl.
«Die Kernsysteme von Versicherern sind auf eine neue Basis zu legen, damit man Innovationen einbauen kann.»
Rückversicherer hingegen glänzen mit datenbasierten Expertensystemen und simulationsgetriebener Modellierung.
Der Trend zur Allfinanz bringt wiederum neue Anforderungen an Integration, Plattformdenken und Cross-Selling. Kurzum: Es ist weniger eine Frage des Wollens als eine des Könnens.
Wo kommen Sie als Zühlke ins Spiel?
Zühlke kommt vor allem dort ins Spiel, wo sich eine Versicherung differenzieren kann und wo es sich lohnt, in eine eigene Lösung zu investieren. So kann sich eine Versicherung sehr stark an der Kundenschnittstelle differenzieren. Und dort dürfen wir sehr viele Kundinnen und Kunden unterstützen.
Konkret heisst das?
Es geht darum, wie Kundinnen und Kunden ongeboardet werden, welche Services und Plattform-, Portal- und auch Mobile-Lösungen eine Versicherung anbieten kann. Und natürlich geht es in den Prozessen darum, neue intelligente Produkte zu integrieren.
Ein grosser Hebel sind «Legacy-Applikationen». Diese Kernsysteme, die ganz viele Prozesse abdecken, sind uralt. Sie sind schlecht wartbar. Vieles ist nicht mehr dokumentiert. Und die Leute, die es noch wissen, sind pensioniert und gar nicht mehr im Unternehmen.
Das führt zu zusätzlichen Herausforderungen, oder?
Ja, man versucht, Leute, die vielleicht pensioniert sind, genau aus diesem Grund zurückzuholen.
Ein Innovationstreiber ist darum aus meiner Sicht – und das ist eigentlich paradox –, die Basis aufzuräumen. Die Kernsysteme von Versicherern sind auf eine neue Basis zu legen, damit man Innovationen einbauen kann.
Klingt kompliziert. Wie schafft man das? Wie gehen sie vor?
Das ist eine sehr gute Frage. Da hilft uns inzwischen auch Technologie, um diese Migrationen sicherer und schneller zu vollziehen. Kernsystem-Migrationen sind höchst riskante Vorhaben. Meistens müssen die Systeme auch während der Migration lauffähig bleiben. Man kann sie nicht einfach abstellen. Das ist das Herz eines Unternehmens. Es hat laufende Kunden und Verträge. Der Vertrieb arbeitet damit.
Ist die Bereitschaft zur Transformation denn da?
Das Know-how ist nicht da. Was ist der Preis, wenn ich als CIO ein solches Projekt starte? Was gewinne ich damit in meiner vielleicht vierjährigen Zeit im Unternehmen? Darum war der Appetit lange zu klein. Das Risiko war in der Vergangenheit für viele Verantwortliche zu hoch, es lief ja.
«Kundinnen und Kunden werden deutliche Veränderungen spüren. Es entstehen neue und andere Dienste – zum Beispiel eingebettete Versicherungslösungen.»
Das hat sich verändert?
Jetzt kommt der Druck durch die Innovationsfähigkeit. Man muss nahe am Markt sein. Start-ups kommen mit neuen Lösungen. Die Kundenerwartungen steigen und der Differenzierungsdruck steigt. Das bedeutet, man muss das Thema angehen. Und KI hilft hier.
Aber es ist eine Operation am offenen Herzen?
Ja, das ist es.
Hat der Grad der Digitalisierung auch mit dem grundsätzlichen Geschäftsmodell einer Versicherung zu tun?
Absolut. Durch Digitalisierung sind andere Geschäftsmodelle möglich. Für mich ist richtige, wirkliche Innovation, wenn sich auch das Geschäftsmodell verändert. Wenn plötzlich ein neuer Player auf dem Markt andere Dienstleistungen anbietet.
Ich glaube, Kundinnen und Kunden werden hier deutliche Veränderungen spüren. Es entstehen neue und andere Dienste – zum Beispiel eingebettete Versicherungslösungen. Gerade im Commodity-Bereich sehen wir Versicherer, die neue Geschäftsmodelle erproben. Etwa Axa mit der Autolangzeitvermietung Upto.
Welche Innovationen – etwa im KI-Bereich – erwarten Sie in den nächsten Jahren?
Wir stehen an einem Wendepunkt: Künstliche Intelligenz wird nicht länger als Experimentierfeld betrachtet, sondern entwickelt sich zur Standardtechnologie – mit greifbarem Mehrwert in Kundenservice, Schadenmanagement und internem Wissensmanagement.
Der Fokus verschiebt sich zunehmend von reiner Effizienz hin zu echter Prozessintelligenz.
KI-Tools werden zu Akteuren …
Exakt. Besonders vielversprechend ist der Einsatz von Agentic AI. KI-Agenten stossen ganze Prozesse an.
Wie muss man sich das vorstellen?
Diese KI-Systeme werden künftig beispielsweise in der Schadenbearbeitung eigenständig Unterlagen prüfen, fehlende Informationen beim Kunden nachfordern und sogar Entscheidungen vorbereiten.
In der Kundenberatung könnten KI-Agenten helfen, individuelle Bedürfnisse zu erkennen, passende Deckungsvorschläge zu erstellen und diese automatisch zu kommunizieren – stets abgestimmt auf die Kundensituation.
Doch nicht nur bei den Kundenschnittstellen wird KI einiges ändern …
(Nickt) Bei der Ablösung von Altsystemen kann KI zum Gamechanger werden: Durch automatische Code-Migration, generierte Tests und den Aufbau von Sicherheitsnetzen für eine sichere Modernisierung.
Dazu muss man wissen: Altsysteme sind heute eine der grössten Innovationsbremsen, weil jede Prozessanpassung mit hohen Kosten, Unsicherheit und langen Laufzeiten verbunden ist. KI kann die Komplexität deutlich reduzieren die Migrationen beschleunigen und sicherer machen.
Wie entwickelt sich das weiter?
Gerade im Versicherungsmarkt sehen wir eine spannende Entwicklung: die zunehmende Verschmelzung von digitalen Services und physischen Geräten – sei es im Bereich Gesundheit, Mobilität oder auch bei Gebäuden.
Sensorik, vernetzte Devices und smarte Interfaces eröffnen völlig neue Möglichkeiten für Prävention, Risikobewertung und Kundenerlebnis. Zühlke bringt das technologische Know-how mit, um genau solche Lösungen Realität werden zu lassen.
Welche Ziele haben Sie bei Zühlke?
Wir begleiten unsere Kunden auf dem spannenden Weg der Transformation – und das weit über die Technologie hinaus. Denn wenn man über Innovation spricht, geht es nicht nur um Effizienz, sondern oft um neue Geschäftsmodelle, neue Plattformen und neue Denkweisen. Genau hier setzen wir an: Wir verbinden technische Fortschritte mit dem operativen Geschäft, machen Ideen umsetzbar und schaffen Lösungen, die wirken. Das ist mein Ziel – und das ist unser Ziel bei Zühlke.